Das Richterspiel
Die deutsche Krimiautorin Sabine Kornbichler mit einem psychologisch dichten Berlin-Krimi.
Marlene bietet seit kurzem einen Seniorenservice an. Am Silvesterabend macht sie in der Wohnung ihrer Lieblingskundin Heidrun Momberg, die...
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Produktinformationen zu „Das Richterspiel “
Die deutsche Krimiautorin Sabine Kornbichler mit einem psychologisch dichten Berlin-Krimi.
Marlene bietet seit kurzem einen Seniorenservice an. Am Silvesterabend macht sie in der Wohnung ihrer Lieblingskundin Heidrun Momberg, die gerade im Krankenhaus ist, eine grausige Entdeckung. Eine Tote liegt mitten im Wohnzimmer. Schnell stellt sich heraus, dass es sich dabei um die älteste Pflegetochter Heidruns handelt. Marlene geht sofort zur Polizei. Dort bekommt sie von dem ehemaligen Kriminalkommissar Arnold Claasen das Angebot, ihm bei den Ermittlungen zu helfen. Das neue Gespann tappt in dem Fall lange im Dunkeln. Bis sie auf eine Spur stoßen, die Marlene höchst schockiert.
"Ein ausgeklügelter, spannungsgeladener Psychothriller."
Das neue Blatt
Lese-Probe zu „Das Richterspiel “
Das Richterspiel von Sabine Kornbichler Der Geruch des Raumes war Ausdruck immerwährender Kälte. Mit jedem Atemzug drang diese Kälte in ihre Lunge. Sie spürte sie nicht. Konzentriert lenkte sie ihren Blick von Gegenstand zu Gegenstand. Alles musste seine Ordnung haben, musste sich ihrer Dramaturgie fügen. Der Zufall war ein unberechenbarer Feind.
Sie öffnete die Holzkiste. Unerträglicher Gestank schlug ihr entgegen. Ranziges Fett gemischt mit billigem Fusel und Schweiß. Ihr Magen rebellierte. Sie hatte sich nicht schnell genug abgewandt. Überzeugt von ihrer Mission schluckte sie gegen den Ekel an. Sie hatte lange darüber nachgedacht und sich schließlich für diesen Weg entschieden. Er war der richtige, der Königsweg.
Dennoch hatte sie ihn verteidigen müssen. Aber hatten nicht alle guten Wege, alle brillanten Visionen verteidigt werden müssen? Von den Mutigen, den Beherzten?
Die Zeit arbeitete für sie. Der Erfolg würde nicht lange auf sich warten lassen. Die Aussicht half, den Gestank zu ertragen, diesen Gestank, der hinter dem Nebel lauerte, selbst wenn die Kiste verschlossen war. Voller Verachtung betrachtete sie die wirren Haare, die blutunterlaufenen Augen und die verwischte Schminke; die falsch geknöpfte Bluse über der löchrigen Hose.
... mehr
Das Wissen um die Genugtuung, die gewiss folgen würde, lieferte ihr einen Vorgeschmack. Sie gab sich ihm hin, kostete ihn aus. Es war der richtige Weg! Die Vorbereitungen hatten sich gelohnt. Mit einem Knall ließ sie den Deckel der Holzkiste zufallen. 1
Kalte Dezemberluft strömte durch das geöffnete Fenster herein und wirbelte den Staub der vergangenen Monate auf. Fast ein Jahr lang hatte ich das Zimmer meines Vaters gemieden. Nicht wegen der Erinnerungen an Krankheit und Tod, sondern wegen des Parts, den ich so lange Zeit übernommen hatte freiwillig, und doch verkehrt. In dem Versuch, etwas wiedergutzumachen, das nicht wiedergutzumachen war, weder von mir noch von einem anderen.
In dem Maße, in dem sich der Staub in dem Zimmer niederließ, war es mir gelungen, Abstand zu gewinnen und aus einem anderen Blickwinkel zurückzuschauen. Wut und Groll hatten einem versöhnlicheren Gefühl Platz gemacht versöhnlich meinem Vater, aber auch mir selbst gegenüber. Ein Anfang. Immerhin.
Es war der letzte Tag des Jahres. Ich trat ans Fenster, atmete tief ein und sah dabei zu, wie sich die neblige Luft aus meinen Lungen mit der Dunkelheit vermischte. Seit Tagen schon wachte ich viel zu früh auf, ohne noch einmal einschlafen zu können. Etwas fehlte. Es war das vertraute Geräusch der Katzenklappe, das ich unterbewusst wahrnahm und das mir sagte, dass Twiggy von einem ihrer nächtlichen Streifzüge heimgekehrt war. Bilder von überfahrenen Katzen drängten sich vor mein geistiges Auge. Mit einem Kopfschütteln wehrte ich sie ab.
Im Regal neben dem Fenster schob ich einige Bücher beiseite, um Platz für eine Aromalampe zu schaffen. Nachdem ich die Kerze unter der Wasserschale angezündet hatte, tröpfelte ich ätherisches Weihrauchöl hinein. »Reinigend« stand auf dem Fläschchen. Es würde einige Zeit dauern, bis der Duft in jede Ecke des Zimmers gelangt war.
Leise, als könne ich jemanden stören, schloss ich das Fenster, atmete die von Weihrauch durchzogene Luft ein und lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss meines Elternhauses. Wann immer ich diesen Begriff benutzte, hörte er sich falsch an. Für mich war es immer eher ein Vaterhaus gewesen, im Gegensatz zu meinem Bruder Fabian, der unsere Mutter noch kennengelernt hatte, bevor sie vor fünfunddreißig Jahren bei meiner Geburt gestorben war. Vier wertvolle Jahre lang hatte er sie erlebt. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, ihn nicht darum zu beneiden. Um diese Jahre, um einen Geburtstag, der nicht gleichsam auch ein Todestag war, und um das Freisein von Schuldgefühlen.
Ich drehte die Heizung in meiner Wohnküche hoch und setzte Wasser auf. Anstatt das Radio einzuschalten, lauschte ich, ob die Katzenklappe nicht vielleicht doch Entwarnung gab und Twiggy auftauchte. Vor acht Jahren war sie mir zugelaufen, unterernährt und dem Tod näher als dem Leben. Ihren Namen hatte sie behalten, obwohl schon bald nichts mehr an seinen Ursprung erinnert hatte.
Mit einem Becher Kaffee setzte ich mich in die Sofaecke und ließ meinen Blick durch diesen Raum wandern, der den Großteil meines Hausstandes barg. Nebenan bewohnte ich noch ein kleines Schlafzimmer mit angrenzendem Bad. Die Möbel meines Vaters, die meinen hatten weichen müssen, lagerten in Fabians ehemaligem Zimmer im ersten Stock. Mein Bruder drängte mich seit Monaten, mir eine günstige Wohnung zu suchen, damit wir das Haus verkaufen konnten. Jedes Mal, wenn die Sprache darauf kam, rechnete er mir vor, wie viel Geld das Grundstück uns beiden einbringen würde. Aber ich war noch nicht so weit, obwohl das Geld einige meiner Probleme lösen würde. Vor allem anderen würde ich meine Unabhängigkeit zurückgewinnen, die ich vor drei Jahren mit meiner Arbeit als Biologin in einem Forschungslabor aufgegeben hatte. Zwar war ich seit einem Jahr selbständig, aber wegen meines immer noch mageren Verdienstes auf die Unterstützung meines Bruders angewiesen.
Vor ein paar Tagen hatte meine Freundin Anna mich gefragt, warum ich mich nach dem Tod meines Vaters eigentlich wirklich dafür entschieden hatte, einen Seniorenservice zu betreiben, anstatt in meinen alten Beruf zurückzukehren. Die Sorge, irgendwann doch mit Tierversuchen konfrontiert zu werden, hatte ich meine Aufzählung begonnen. Die Erfahrung, die ich während der zweijährigen Pflege meines Vaters hatte sammeln können. Das Wissen um die Bedürfnisse alter und auch kranker Menschen. »Und?«, hatte sie gefragt und mich dabei angesehen, als habe ich etwas Entscheidendes vergessen. »Kein Und«, hatte ich geantwortet.
Während ich einen großen Schluck Kaffee trank und spürte, wie er mich wärmte, wurde mir bewusst, was in meiner Aufzählung noch fehlte: Mein Seniorenservice brachte mich vornehmlich mit Frauen zusammen, die so alt waren wie meine Mutter, hätte sie meine Geburt überlebt.
Der Silvestertag versprach ruhig zu verlaufen. Nur einige wenige meiner Schützlinge hatten mich noch mit letzten Besorgungen beauftragt. Bis zum Mittag würde ich alles erledigt und ausgeliefert haben. Anschließend wollte ich mir ausgiebig Zeit in der Badewanne gönnen, um entspannt in den Abend zu starten. Fabian war zu einer Silvesterparty in Wilmersdorf eingeladen und hatte mich zu seiner Begleitung auserkoren. Es gab Alternativen, die ich bei weitem vorgezogen hätte, aber mein Bruder hatte unmissverständlich klargemacht, was er von mir erwartete: unauffällige Akquisition. Auf der Party bewegte sich angeblich die Klientel, die sich einen Seniorenservice für die betagten Eltern leisten konnte. Davon, dass sie sich vielleicht nicht unbedingt an Silvester mit diesem Thema beschäftigen wollten, war Fabian nicht zu überzeugen. Seit einem Jahr bestritt er einen Teil meines Unterhalts, also hatte ich mitzukommen und damit basta! Ich würde das Beste daraus machen, nahm ich mir vor. Wie nicht anders zu erwarten, war ich an diesem Tag nicht die Einzige, die noch schnell ein paar Einkäufe zu erledigen hatte. In Zehlendorf einen Parkplatz zu finden, war fast unmöglich. Als ich endlich einen ergattert hatte, versuchte ich, im Gedränge so schnell wie möglich voranzukommen. Irgendwann gab ich es jedoch auf und löste mich von meinem Zeitplan. Nachdem ich ewig lange an mehreren Kassen angestanden hatte, begann ich mit der Auslieferung der Einkäufe.
Den Besuch bei Heidrun Momberg hob ich mir bis zum Schluss auf. Vor einem Jahr war sie eine meiner ersten Kundinnen gewesen und hatte innerhalb kurzer Zeit mein Herz erobert. Seitdem machte ich regelmäßig Besorgungen für sie, kümmerte mich um ihren Garten und las ihr hin und wieder vor. Es gab Tage, da empfand sie ihren vierundsiebzig Jahre alten Körper nur noch als Last und beneidete all jene Altersgenossinnen, die beschwerdefreier waren als sie. Die Illusion, es könne noch einmal besser werden, hatte sie längst aufgegeben. Ohne Bitterkeit, was sie mir nur noch sympathischer machte.
Ich parkte vor ihrem Haus in der Musäusstraße in Dahlem und klingelte kurz darauf an ihrer Tür. Da es stets eine gewisse Zeit dauerte, bis sie öffnete, war ich überrascht, als sich die Tür so schnell auftat. Ein untersetzter Mann mit schütterem Haar und Blaumann öffnete mir. Wie sich schnell herausstellte, hatte er nicht mich, sondern den Notarzt erwartet. Heidrun Momberg liege in der Küche, berichtete er aufgeregt, sie sei von der Leiter gestürzt.
Mit den Tüten in der Hand drängte ich mich an dem Mann vorbei, eilte durch den Flur und wäre fast über Kater Schulze gestolpert, der angelaufen kam, um mich zu begrüßen. Mit drei großen Schritten stand ich in der Küche. Wie ein Häufchen Elend lag die alte Frau neben der umgekippten Leiter und versuchte, sich aufzurichten. »Nein, bleiben Sie liegen, Frau Momberg. Der Arzt muss jeden Augenblick hier sein. Ich hole Ihnen schnell eine Decke.« Nachdem ich aus dem Wohnzimmer Kissen und Plaid geholt hatte, versuchte ich, sie auf dem kalten Steinfußboden bequemer und wärmer zu lagern, ohne ihr zusätzliche Schmerzen zu bereiten. Dann setzte ich mich neben sie auf den Boden und nahm ihre linke Hand vorsichtig in meine.
Mit der rechten hielt sie das Telefon umklammert, während sie unablässig den Kopf schüttelte. »So etwas Dummes. Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte, ich steige doch seit Jahren auf diese Leiter.« Unter Schmerzen verzog sie das Gesicht. Von ihrer sonst so gesunden Gesichtsfarbe war an diesem Tag nicht ein Hauch geblieben. Dafür schienen sich ihre Falten tiefer eingegraben zu haben. Der Haarreifen, der ihr die grauen Haare aus der Stirn halten sollte, war verrutscht.
Während ich ihn behutsam zurechtrückte, wurde mir einmal mehr bewusst, wie penibel sie stets auf ihre Erscheinung achtete. Mancher alte Mensch schraubte im Alter seine Ansprüche herunter der eine gezwungenermaßen, der andere freiwillig. Für Heidrun Momberg wäre Letzteres nie in Frage gekommen.
»Marlene, könnten Sie, falls ich ins Krankenhaus muss, hier warten, bis der Handwerker fertig ist? Er repariert den Rollladen im Wohnzimmer.« Sie schluckte und schloss sekundenlang die Augen, bevor sie erneut ansetzte zu sprechen, langsamer dieses Mal. »Ich habe versucht, Dorothee zu erreichen, aber anscheinend ist sie unterwegs. Und ihr Handy ist ausgeschaltet. Sie müsste Schulze füttern. Am liebsten wäre mir, Dagmar würde sich um den Kater kümmern, sie liebt ihn. Aber ...«
»Scht, Frau Momberg«, versuchte ich sie zu beruhigen, »für all das wird später noch Zeit sein, jetzt ...«
»Nein«, unterbrach sie mich, »wir müssen jetzt darüber sprechen, wer weiß, was später ist. Also: Dagmar ist über Silvester nach Bayern gefahren. Und Simone und Karo kann ich den Kater nicht überlassen, sie tun sich schwer mit ihm. Sollte ich tatsächlich fortmüssen, rufen Sie dann Dorothee an, ja? Sie müssen nur die Wahlwiederholung drücken.« Das Sprechen hatte sie angestrengt. Sie holte tief Luft und ließ sie mit einem Stöhnen entweichen.
Behutsam strich ich über ihre Hand. »Ich werde alles so machen, wie Sie es mir aufgetragen haben, Frau Momberg, Sie können sich darauf verlassen.«
»Das weiß ich, Marlene, danke.« Sie legte das Telefon neben sich und zeigte auf ein Schlüsselbrett. »Dort hängt ein Hausschlüssel. Schließen Sie gut ab, wenn Sie gehen, und vergessen Sie nicht, alle Läden herunterzulassen. Es wird so viel eingebrochen. Den Schlüssel bringen Sie mir dann später ins Krankenhaus, ja?«
»Soll ich Ihnen eine Tasche mit dem Nötigsten packen?« Sie schüttelte den Kopf und legte die Hand flach auf die Brust, als könne sie dadurch ihr Herz beruhigen. »Das kann später eine meiner Töchter tun.« Den Blick zu Schulze gewandt, der sich zwischen uns auf dem Boden räkelte, meinte sie: »Es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass er heute Abend hier alleine ist. Er zittert sich doch jedes Jahr an Silvester halb zu Tode. Ausgerechnet an so einem Tag muss ich von der Leiter fallen.« Als es in diesem Moment an der Tür klingelte, sprang ich auf, sperrte Schulze vorübergehend ins Wohnzimmer und öffnete dem Notarzt.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis feststand, dass Heidrun Momberg die Klinik nicht erspart bleiben würde. Der Arzt vermutete einen Oberschenkelhalsbruch. Die Sorge, was nun mit ihr geschehen würde, stand meiner Kundin ins Gesicht geschrieben. Ich bot ihr an, sie ins Krankenhaus zu begleiten, aber sie winkte ab. Einer müsse schließlich bei dem Handwerker bleiben. Den Schlüssel könne ich ihr am Nachmittag vorbeibringen. Kurz bevor sie in den Wagen geschoben wurde und die Tür sich hinter ihr schloss, drückte ich noch einmal ihre Hand.
Nachdem die Ambulanz um die Ecke gebogen war, ging ich zurück ins Haus und rief Dorothee Momberg an. Nach mehrmaligem Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Ich hinterließ der Tochter eine ausführliche Nachricht. Dann machte ich mich daran, Heidrun Mombergs Küche aufzuräumen, um schließlich in den ersten Stock zu laufen und dort alle Rollläden herunterzulassen. Im Vorbeigehen machte ich ihr zum Lüften aufgeschlagenes Bett.
Gerade wollte ich mir die Fotos auf dem Nachttisch ansehen, als der Handwerker mir von unten zurief, dass er fertig sei. Am Fuß der Treppe stehend, hielt er mir seinen Auftragsbogen zur Unterschrift entgegen. Normalerweise hätte er an diesem Tag gar keinen Auftrag angenommen, erzählte er mir, aber Heidrun Momberg sei Stammkundin, da hätte er nicht nein sagen können. Im Nachhinein sei er doppelt froh, dass er gekommen sei, sonst wäre sie nach ihrem Sturz mutterseelenallein gewesen.
Als er gegangen war, schmuste ich noch ein paar Minuten mit Schulze, füllte Wasser- und Futternapf und ließ die Rollläden herunter. Zum Glück war das Fenster in der Küche vergittert, so dass der Kater zumindest hier Tageslicht zu sehen bekam. Sollte sich keine der Töchter um das Tier kümmern können, bestand immer noch die Möglichkeit, dass ich es zu mir nahm. Was für Twiggy, sollte sie endlich nach Hause zurückkehren, kein Problem sein würde, da sie Gesellschaft liebte. Noch kein einziges Mal hatte sie eine der Nachbarskatzen, die hin und wieder durch die Katzenklappe zu Besuch kamen, vertrieben.
Nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte, machte ich mich auf den Heimweg in die Ihnestraße. Ich hatte noch nicht ganz den Motor abgestellt, als mein Handy klingelte. Es gab einen weiteren Notfall. Ich stellte meinen Wagen auf dem Parkplatz des Forsthauses Paulsborn ab und joggte von dort aus die paar hundert Meter bis zum Jagdschloss Grunewald. Gegenüber der Toreinfahrt zum Schlosshof sah ich Luise Ahlert sitzen. Klein und dünn, in einem viel zu großen Mantel saß sie auf einer Holzbank und hielt einer jungen Mutter, die ein paar Meter weiter stand, mit erhobenem Zeigefinger einen Vortrag. Worüber sie sich so ereiferte, konnte ich aus der Entfernung nicht verstehen. Erst als ich näher kam, schnappte ich ein paar Worte auf. Allem Anschein nach hatte das Kind der Frau ein Bonbonpapier auf den Boden fallen lassen.
»Hallo, Frau Ahlert«, begrüßte ich die Neunundsiebzigjährige mit dem schlohweißen Haar, dem sie in unregelmäßigen Abständen immer noch selbst mit einer Schere zu Leibe rückte, was an manchen Stellen nicht zu übersehen war.
»Marlene!« Ihr Lächeln drückte Erleichterung aus. »Wie gut, dass du da bist.«
Die junge Mutter nutzte die Gelegenheit, um Luise Ahlert zu entkommen. Einen Augenblick lang sah ich ihr hinterher, um dann die alte Frau auf der Bank gründlicher in Augenschein zu nehmen. Trotz der Minustemperaturen trug sie weder Mütze, Schal noch Handschuhe.
»Wo ist denn Ihre Winterausrüstung?«, fragte ich. »Als ich losgelaufen bin, war mir noch warm.«
Ich hielt ihr beide Hände entgegen und zog sie hoch. Dann nahm ich meinen Schal ab und schlang ihn ihr um Kopf und Hals. »Mein Auto steht am Forsthaus Paulsborn, bis dahin werden Sie laufen müssen. Wird das gehen?«
Sie nickte und hakte sich bei mir ein.
Für ihr Alter war Luise Ahlert noch relativ gut zu Fuß. Nur dachte sie selten an den Rückweg, wenn sie loslief. Waren ihre Kräfte dann irgendwann erschöpft, hielt sie kurzerhand ein Auto an und überredete den Fahrer, sie vor ihrer Wohnung abzusetzen. Führte sie ihr Spaziergang durch den Grunewald, rief sie mich an, damit ich sie abholte.
Während wir eingehakt den Weg zum Parkplatz zurücklegten, fragte sie mich, ob Twiggy inzwischen wieder aufgetaucht sei. Ich rechnete ihr diese Frage hoch an, da sie eine jener Vogelliebhaberinnen war, die Katzen verabscheute.
»Vielleicht vergnügt sie sich«, meinte sie, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte. »Ich meine, mit einem Kater.«
»Das könnte sie auch bei mir zu Hause. Die Katzenklappe steht jedem offen.«
Sie blieb stehen und sah mich an. »Ich weiß, wie sehr du Käfige verabscheust, Marlene. Ich sehe es jedes Mal an deinem Blick. Aber für meine Piepmätze ist ihr Käfig ein Schutz. Verstehst du?«
»Der Käfig kommt mir nur ein wenig klein und beengt vor«, wiederholte ich, was ich ihr bereits mehrmals zu bedenken gegeben hatte, wenn es um die Unterbringung ihrer beiden Kanarienvögel gegangen war.
»Klein und beengt ist meine Wohnung auch. Aber beklage ich mich etwa?« Sie schien sich unter dem weiten Mantel aufzuplustern. »Die Werner aus dem Dritten, die beklagt sich ständig. Nichts ist gut genug für die. Dabei hat die auch schon ganz andere Zeiten erlebt. Aber ...«
Vorübergehend schaltete ich meine Ohren auf Durchzug. Die Werner aus dem Dritten war Luise Ahlerts Nachbarin und Erzfeindin in Personalunion. Wenn man es pragmatisch sah, hielten die beiden sich mit all der Energie, die zwischen ihnen hin- und herschoss, gegenseitig am Leben. Nur für Außenstehende waren die Tiraden manchmal schwer zu ertragen.
»Marlene?«, übertönte ihre fordernde Stimme meine Gedanken.
»Da vorne steht mein Auto«, sagte ich. »Schaffen Sie es bis dahin noch?«
»Selbstverständlich. Schließlich habe ich es auch bis hierher geschafft.«
Irgendwie schon, gab ich ihr im Stillen recht und musste schmunzeln.
»Es ist doch sicher kein Problem, noch beim Supermarkt vorbeizufahren, oder? Mir fehlt noch das eine oder andere.«
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass meine ersehnte Zeit in der Badewanne mehr und mehr zusammenschrumpfte. Wenn ich noch bei Heidrun Momberg im Krankenhaus vorbeifahren wollte, würde es eng werden mit einer Verschnaufpause im Schaumbad.
»In Ordnung«, sagte ich und bog in den Hüttenweg, wo ich wenig später vor dem Discounter parkte. »Soll ich mit reinkommen?«, rief ich noch hinter Luise Ahlert her, während sie bereits mit einem Einkaufswagen im Laden verschwand. Ich erkundigte mich in der Klinik nach Heidrun Momberg.
Wie ich erfuhr, wurde sie bereits operiert. Also konnte ich sie genauso gut am nächsten Tag besuchen, um ihr den Schlüssel vorbeizubringen. Ich schaltete das Radio ein, lehnte den Kopf gegen den Sitz und behielt die automatischen Türen im Auge. Als mein Schützling wenige Minuten später den Wagen hindurchschob, stieg ich aus, um ihr die beiden Tüten zu tragen.
»Diejenigen, die behaupten, man könne sich für vier Euro am Tag gesund ernähren, würde ich gerne mal zum Einkaufen mitnehmen«, wetterte sie und ließ sich mit einem Stöhnen in den Autositz fallen. »Mich müsste es ja nicht scheren, ich brauche nicht viel, aber vor mir an der Kasse stand eine Mutter mit zwei halbwüchsigen Jungs. Wie soll die denn das machen, frage ich dich? Die futtern doch in dem Alter für drei.« Sie sprach laut, um die Nachrichtensprecherin im Radio zu übertönen. »Ich weiß schon, warum ich keine Kinder habe. Überleg es dir gut, Marlene. Du ersparst dir jede Menge Ärger.« »... gibt es von dem fünfjährigen Leon immer noch keine Spur«, war in diesem Moment aus dem Radio zu erfahren.
»Meint die den Jungen, der im Wald verschwunden ist?«, fragte Luise Ahlert. Ich nickte.
»Hübsches Kind«, meinte sie.
»Woher kennen Sie ihn?«
»Ich hab mir sein Foto vorhin auf so einem Suchplakat im Wald angesehen. Es ist dasselbe wie in der Zeitung. Die Eltern tun mir leid. Ich kann ja verstehen, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben und alles versuchen, um ihr Kind lebend wiederzubekommen. Aber am Ende werden die armen Dinger ja doch nur tot aus einem See geborgen. Und das nur, weil irgend so einem Verrückten in seiner Kindheit mal eine Ohrfeige verpasst wurde. Sind doch alles nur Ausreden. Wenn du mich fragst, hat so eine Ohrfeige noch keinem geschadet.«
»Das sehe ich anders, Frau Ahlert.«
»Hat es dir etwa geschadet?« Ihr Ton war herausfordernd. Sie sah mich von der Seite an.
»Ich habe nie eine bekommen. Und Sie?«
»Wenn ich mir eine eingefangen habe, dann habe ich es auch verdient.«
»Niemand verdient es, geschlagen zu werden.«
»Manche schon. Nimm nur diese gewalttätigen Jugendlichen. Hätte man denen beizeiten gehörig eins hinter die Löffel gegeben, wären die auch besser geraten, das kannst du mir ruhig glauben.«
»Die meisten von ihnen haben gehörig eins hinter die Löffel bekommen, genau das ist das Problem.« Unzufrieden schnalzte sie mit der Zunge. »Mit dir ist nicht zu reden, Marlene. Du stellst alles auf den Kopf. Denk doch nur mal an die Eltern von dem kleinen Jungen. Wie sollen denn die jemals wieder froh werden?« Ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, saß sie da, starrte vor sich hin und stupste mit dem Schuh gegen zwei leere Wasserflaschen, die im Fußraum lagen. »Willst du hier drin nicht mal aufräumen?«, fragte sie.
»Nächstes Jahr.«
»Das macht aber keinen guten Eindruck auf deine Kunden. Lass dir von mir gesagt sein, dass alte Menschen ...«
»Wir sind da, Frau Ahlert. Ich bringe Ihnen noch schnell die Tüten hoch, und dann muss ich weiter.«
»Für einen Kaffee wirst du ja wohl noch Zeit haben. Heute ist schließlich Silvester!« Ja, genau, heute war Silvester, und ich sehnte mich nach einem heißen Bad und lauter Musik. Um den Kaffee kam ich trotzdem nicht herum.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Knaur Verlag
Kalte Dezemberluft strömte durch das geöffnete Fenster herein und wirbelte den Staub der vergangenen Monate auf. Fast ein Jahr lang hatte ich das Zimmer meines Vaters gemieden. Nicht wegen der Erinnerungen an Krankheit und Tod, sondern wegen des Parts, den ich so lange Zeit übernommen hatte freiwillig, und doch verkehrt. In dem Versuch, etwas wiedergutzumachen, das nicht wiedergutzumachen war, weder von mir noch von einem anderen.
In dem Maße, in dem sich der Staub in dem Zimmer niederließ, war es mir gelungen, Abstand zu gewinnen und aus einem anderen Blickwinkel zurückzuschauen. Wut und Groll hatten einem versöhnlicheren Gefühl Platz gemacht versöhnlich meinem Vater, aber auch mir selbst gegenüber. Ein Anfang. Immerhin.
Es war der letzte Tag des Jahres. Ich trat ans Fenster, atmete tief ein und sah dabei zu, wie sich die neblige Luft aus meinen Lungen mit der Dunkelheit vermischte. Seit Tagen schon wachte ich viel zu früh auf, ohne noch einmal einschlafen zu können. Etwas fehlte. Es war das vertraute Geräusch der Katzenklappe, das ich unterbewusst wahrnahm und das mir sagte, dass Twiggy von einem ihrer nächtlichen Streifzüge heimgekehrt war. Bilder von überfahrenen Katzen drängten sich vor mein geistiges Auge. Mit einem Kopfschütteln wehrte ich sie ab.
Im Regal neben dem Fenster schob ich einige Bücher beiseite, um Platz für eine Aromalampe zu schaffen. Nachdem ich die Kerze unter der Wasserschale angezündet hatte, tröpfelte ich ätherisches Weihrauchöl hinein. »Reinigend« stand auf dem Fläschchen. Es würde einige Zeit dauern, bis der Duft in jede Ecke des Zimmers gelangt war.
Leise, als könne ich jemanden stören, schloss ich das Fenster, atmete die von Weihrauch durchzogene Luft ein und lief die Treppe hinunter ins Erdgeschoss meines Elternhauses. Wann immer ich diesen Begriff benutzte, hörte er sich falsch an. Für mich war es immer eher ein Vaterhaus gewesen, im Gegensatz zu meinem Bruder Fabian, der unsere Mutter noch kennengelernt hatte, bevor sie vor fünfunddreißig Jahren bei meiner Geburt gestorben war. Vier wertvolle Jahre lang hatte er sie erlebt. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, ihn nicht darum zu beneiden. Um diese Jahre, um einen Geburtstag, der nicht gleichsam auch ein Todestag war, und um das Freisein von Schuldgefühlen.
Ich drehte die Heizung in meiner Wohnküche hoch und setzte Wasser auf. Anstatt das Radio einzuschalten, lauschte ich, ob die Katzenklappe nicht vielleicht doch Entwarnung gab und Twiggy auftauchte. Vor acht Jahren war sie mir zugelaufen, unterernährt und dem Tod näher als dem Leben. Ihren Namen hatte sie behalten, obwohl schon bald nichts mehr an seinen Ursprung erinnert hatte.
Mit einem Becher Kaffee setzte ich mich in die Sofaecke und ließ meinen Blick durch diesen Raum wandern, der den Großteil meines Hausstandes barg. Nebenan bewohnte ich noch ein kleines Schlafzimmer mit angrenzendem Bad. Die Möbel meines Vaters, die meinen hatten weichen müssen, lagerten in Fabians ehemaligem Zimmer im ersten Stock. Mein Bruder drängte mich seit Monaten, mir eine günstige Wohnung zu suchen, damit wir das Haus verkaufen konnten. Jedes Mal, wenn die Sprache darauf kam, rechnete er mir vor, wie viel Geld das Grundstück uns beiden einbringen würde. Aber ich war noch nicht so weit, obwohl das Geld einige meiner Probleme lösen würde. Vor allem anderen würde ich meine Unabhängigkeit zurückgewinnen, die ich vor drei Jahren mit meiner Arbeit als Biologin in einem Forschungslabor aufgegeben hatte. Zwar war ich seit einem Jahr selbständig, aber wegen meines immer noch mageren Verdienstes auf die Unterstützung meines Bruders angewiesen.
Vor ein paar Tagen hatte meine Freundin Anna mich gefragt, warum ich mich nach dem Tod meines Vaters eigentlich wirklich dafür entschieden hatte, einen Seniorenservice zu betreiben, anstatt in meinen alten Beruf zurückzukehren. Die Sorge, irgendwann doch mit Tierversuchen konfrontiert zu werden, hatte ich meine Aufzählung begonnen. Die Erfahrung, die ich während der zweijährigen Pflege meines Vaters hatte sammeln können. Das Wissen um die Bedürfnisse alter und auch kranker Menschen. »Und?«, hatte sie gefragt und mich dabei angesehen, als habe ich etwas Entscheidendes vergessen. »Kein Und«, hatte ich geantwortet.
Während ich einen großen Schluck Kaffee trank und spürte, wie er mich wärmte, wurde mir bewusst, was in meiner Aufzählung noch fehlte: Mein Seniorenservice brachte mich vornehmlich mit Frauen zusammen, die so alt waren wie meine Mutter, hätte sie meine Geburt überlebt.
Der Silvestertag versprach ruhig zu verlaufen. Nur einige wenige meiner Schützlinge hatten mich noch mit letzten Besorgungen beauftragt. Bis zum Mittag würde ich alles erledigt und ausgeliefert haben. Anschließend wollte ich mir ausgiebig Zeit in der Badewanne gönnen, um entspannt in den Abend zu starten. Fabian war zu einer Silvesterparty in Wilmersdorf eingeladen und hatte mich zu seiner Begleitung auserkoren. Es gab Alternativen, die ich bei weitem vorgezogen hätte, aber mein Bruder hatte unmissverständlich klargemacht, was er von mir erwartete: unauffällige Akquisition. Auf der Party bewegte sich angeblich die Klientel, die sich einen Seniorenservice für die betagten Eltern leisten konnte. Davon, dass sie sich vielleicht nicht unbedingt an Silvester mit diesem Thema beschäftigen wollten, war Fabian nicht zu überzeugen. Seit einem Jahr bestritt er einen Teil meines Unterhalts, also hatte ich mitzukommen und damit basta! Ich würde das Beste daraus machen, nahm ich mir vor. Wie nicht anders zu erwarten, war ich an diesem Tag nicht die Einzige, die noch schnell ein paar Einkäufe zu erledigen hatte. In Zehlendorf einen Parkplatz zu finden, war fast unmöglich. Als ich endlich einen ergattert hatte, versuchte ich, im Gedränge so schnell wie möglich voranzukommen. Irgendwann gab ich es jedoch auf und löste mich von meinem Zeitplan. Nachdem ich ewig lange an mehreren Kassen angestanden hatte, begann ich mit der Auslieferung der Einkäufe.
Den Besuch bei Heidrun Momberg hob ich mir bis zum Schluss auf. Vor einem Jahr war sie eine meiner ersten Kundinnen gewesen und hatte innerhalb kurzer Zeit mein Herz erobert. Seitdem machte ich regelmäßig Besorgungen für sie, kümmerte mich um ihren Garten und las ihr hin und wieder vor. Es gab Tage, da empfand sie ihren vierundsiebzig Jahre alten Körper nur noch als Last und beneidete all jene Altersgenossinnen, die beschwerdefreier waren als sie. Die Illusion, es könne noch einmal besser werden, hatte sie längst aufgegeben. Ohne Bitterkeit, was sie mir nur noch sympathischer machte.
Ich parkte vor ihrem Haus in der Musäusstraße in Dahlem und klingelte kurz darauf an ihrer Tür. Da es stets eine gewisse Zeit dauerte, bis sie öffnete, war ich überrascht, als sich die Tür so schnell auftat. Ein untersetzter Mann mit schütterem Haar und Blaumann öffnete mir. Wie sich schnell herausstellte, hatte er nicht mich, sondern den Notarzt erwartet. Heidrun Momberg liege in der Küche, berichtete er aufgeregt, sie sei von der Leiter gestürzt.
Mit den Tüten in der Hand drängte ich mich an dem Mann vorbei, eilte durch den Flur und wäre fast über Kater Schulze gestolpert, der angelaufen kam, um mich zu begrüßen. Mit drei großen Schritten stand ich in der Küche. Wie ein Häufchen Elend lag die alte Frau neben der umgekippten Leiter und versuchte, sich aufzurichten. »Nein, bleiben Sie liegen, Frau Momberg. Der Arzt muss jeden Augenblick hier sein. Ich hole Ihnen schnell eine Decke.« Nachdem ich aus dem Wohnzimmer Kissen und Plaid geholt hatte, versuchte ich, sie auf dem kalten Steinfußboden bequemer und wärmer zu lagern, ohne ihr zusätzliche Schmerzen zu bereiten. Dann setzte ich mich neben sie auf den Boden und nahm ihre linke Hand vorsichtig in meine.
Mit der rechten hielt sie das Telefon umklammert, während sie unablässig den Kopf schüttelte. »So etwas Dummes. Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte, ich steige doch seit Jahren auf diese Leiter.« Unter Schmerzen verzog sie das Gesicht. Von ihrer sonst so gesunden Gesichtsfarbe war an diesem Tag nicht ein Hauch geblieben. Dafür schienen sich ihre Falten tiefer eingegraben zu haben. Der Haarreifen, der ihr die grauen Haare aus der Stirn halten sollte, war verrutscht.
Während ich ihn behutsam zurechtrückte, wurde mir einmal mehr bewusst, wie penibel sie stets auf ihre Erscheinung achtete. Mancher alte Mensch schraubte im Alter seine Ansprüche herunter der eine gezwungenermaßen, der andere freiwillig. Für Heidrun Momberg wäre Letzteres nie in Frage gekommen.
»Marlene, könnten Sie, falls ich ins Krankenhaus muss, hier warten, bis der Handwerker fertig ist? Er repariert den Rollladen im Wohnzimmer.« Sie schluckte und schloss sekundenlang die Augen, bevor sie erneut ansetzte zu sprechen, langsamer dieses Mal. »Ich habe versucht, Dorothee zu erreichen, aber anscheinend ist sie unterwegs. Und ihr Handy ist ausgeschaltet. Sie müsste Schulze füttern. Am liebsten wäre mir, Dagmar würde sich um den Kater kümmern, sie liebt ihn. Aber ...«
»Scht, Frau Momberg«, versuchte ich sie zu beruhigen, »für all das wird später noch Zeit sein, jetzt ...«
»Nein«, unterbrach sie mich, »wir müssen jetzt darüber sprechen, wer weiß, was später ist. Also: Dagmar ist über Silvester nach Bayern gefahren. Und Simone und Karo kann ich den Kater nicht überlassen, sie tun sich schwer mit ihm. Sollte ich tatsächlich fortmüssen, rufen Sie dann Dorothee an, ja? Sie müssen nur die Wahlwiederholung drücken.« Das Sprechen hatte sie angestrengt. Sie holte tief Luft und ließ sie mit einem Stöhnen entweichen.
Behutsam strich ich über ihre Hand. »Ich werde alles so machen, wie Sie es mir aufgetragen haben, Frau Momberg, Sie können sich darauf verlassen.«
»Das weiß ich, Marlene, danke.« Sie legte das Telefon neben sich und zeigte auf ein Schlüsselbrett. »Dort hängt ein Hausschlüssel. Schließen Sie gut ab, wenn Sie gehen, und vergessen Sie nicht, alle Läden herunterzulassen. Es wird so viel eingebrochen. Den Schlüssel bringen Sie mir dann später ins Krankenhaus, ja?«
»Soll ich Ihnen eine Tasche mit dem Nötigsten packen?« Sie schüttelte den Kopf und legte die Hand flach auf die Brust, als könne sie dadurch ihr Herz beruhigen. »Das kann später eine meiner Töchter tun.« Den Blick zu Schulze gewandt, der sich zwischen uns auf dem Boden räkelte, meinte sie: »Es bricht mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass er heute Abend hier alleine ist. Er zittert sich doch jedes Jahr an Silvester halb zu Tode. Ausgerechnet an so einem Tag muss ich von der Leiter fallen.« Als es in diesem Moment an der Tür klingelte, sprang ich auf, sperrte Schulze vorübergehend ins Wohnzimmer und öffnete dem Notarzt.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis feststand, dass Heidrun Momberg die Klinik nicht erspart bleiben würde. Der Arzt vermutete einen Oberschenkelhalsbruch. Die Sorge, was nun mit ihr geschehen würde, stand meiner Kundin ins Gesicht geschrieben. Ich bot ihr an, sie ins Krankenhaus zu begleiten, aber sie winkte ab. Einer müsse schließlich bei dem Handwerker bleiben. Den Schlüssel könne ich ihr am Nachmittag vorbeibringen. Kurz bevor sie in den Wagen geschoben wurde und die Tür sich hinter ihr schloss, drückte ich noch einmal ihre Hand.
Nachdem die Ambulanz um die Ecke gebogen war, ging ich zurück ins Haus und rief Dorothee Momberg an. Nach mehrmaligem Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Ich hinterließ der Tochter eine ausführliche Nachricht. Dann machte ich mich daran, Heidrun Mombergs Küche aufzuräumen, um schließlich in den ersten Stock zu laufen und dort alle Rollläden herunterzulassen. Im Vorbeigehen machte ich ihr zum Lüften aufgeschlagenes Bett.
Gerade wollte ich mir die Fotos auf dem Nachttisch ansehen, als der Handwerker mir von unten zurief, dass er fertig sei. Am Fuß der Treppe stehend, hielt er mir seinen Auftragsbogen zur Unterschrift entgegen. Normalerweise hätte er an diesem Tag gar keinen Auftrag angenommen, erzählte er mir, aber Heidrun Momberg sei Stammkundin, da hätte er nicht nein sagen können. Im Nachhinein sei er doppelt froh, dass er gekommen sei, sonst wäre sie nach ihrem Sturz mutterseelenallein gewesen.
Als er gegangen war, schmuste ich noch ein paar Minuten mit Schulze, füllte Wasser- und Futternapf und ließ die Rollläden herunter. Zum Glück war das Fenster in der Küche vergittert, so dass der Kater zumindest hier Tageslicht zu sehen bekam. Sollte sich keine der Töchter um das Tier kümmern können, bestand immer noch die Möglichkeit, dass ich es zu mir nahm. Was für Twiggy, sollte sie endlich nach Hause zurückkehren, kein Problem sein würde, da sie Gesellschaft liebte. Noch kein einziges Mal hatte sie eine der Nachbarskatzen, die hin und wieder durch die Katzenklappe zu Besuch kamen, vertrieben.
Nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte, machte ich mich auf den Heimweg in die Ihnestraße. Ich hatte noch nicht ganz den Motor abgestellt, als mein Handy klingelte. Es gab einen weiteren Notfall. Ich stellte meinen Wagen auf dem Parkplatz des Forsthauses Paulsborn ab und joggte von dort aus die paar hundert Meter bis zum Jagdschloss Grunewald. Gegenüber der Toreinfahrt zum Schlosshof sah ich Luise Ahlert sitzen. Klein und dünn, in einem viel zu großen Mantel saß sie auf einer Holzbank und hielt einer jungen Mutter, die ein paar Meter weiter stand, mit erhobenem Zeigefinger einen Vortrag. Worüber sie sich so ereiferte, konnte ich aus der Entfernung nicht verstehen. Erst als ich näher kam, schnappte ich ein paar Worte auf. Allem Anschein nach hatte das Kind der Frau ein Bonbonpapier auf den Boden fallen lassen.
»Hallo, Frau Ahlert«, begrüßte ich die Neunundsiebzigjährige mit dem schlohweißen Haar, dem sie in unregelmäßigen Abständen immer noch selbst mit einer Schere zu Leibe rückte, was an manchen Stellen nicht zu übersehen war.
»Marlene!« Ihr Lächeln drückte Erleichterung aus. »Wie gut, dass du da bist.«
Die junge Mutter nutzte die Gelegenheit, um Luise Ahlert zu entkommen. Einen Augenblick lang sah ich ihr hinterher, um dann die alte Frau auf der Bank gründlicher in Augenschein zu nehmen. Trotz der Minustemperaturen trug sie weder Mütze, Schal noch Handschuhe.
»Wo ist denn Ihre Winterausrüstung?«, fragte ich. »Als ich losgelaufen bin, war mir noch warm.«
Ich hielt ihr beide Hände entgegen und zog sie hoch. Dann nahm ich meinen Schal ab und schlang ihn ihr um Kopf und Hals. »Mein Auto steht am Forsthaus Paulsborn, bis dahin werden Sie laufen müssen. Wird das gehen?«
Sie nickte und hakte sich bei mir ein.
Für ihr Alter war Luise Ahlert noch relativ gut zu Fuß. Nur dachte sie selten an den Rückweg, wenn sie loslief. Waren ihre Kräfte dann irgendwann erschöpft, hielt sie kurzerhand ein Auto an und überredete den Fahrer, sie vor ihrer Wohnung abzusetzen. Führte sie ihr Spaziergang durch den Grunewald, rief sie mich an, damit ich sie abholte.
Während wir eingehakt den Weg zum Parkplatz zurücklegten, fragte sie mich, ob Twiggy inzwischen wieder aufgetaucht sei. Ich rechnete ihr diese Frage hoch an, da sie eine jener Vogelliebhaberinnen war, die Katzen verabscheute.
»Vielleicht vergnügt sie sich«, meinte sie, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte. »Ich meine, mit einem Kater.«
»Das könnte sie auch bei mir zu Hause. Die Katzenklappe steht jedem offen.«
Sie blieb stehen und sah mich an. »Ich weiß, wie sehr du Käfige verabscheust, Marlene. Ich sehe es jedes Mal an deinem Blick. Aber für meine Piepmätze ist ihr Käfig ein Schutz. Verstehst du?«
»Der Käfig kommt mir nur ein wenig klein und beengt vor«, wiederholte ich, was ich ihr bereits mehrmals zu bedenken gegeben hatte, wenn es um die Unterbringung ihrer beiden Kanarienvögel gegangen war.
»Klein und beengt ist meine Wohnung auch. Aber beklage ich mich etwa?« Sie schien sich unter dem weiten Mantel aufzuplustern. »Die Werner aus dem Dritten, die beklagt sich ständig. Nichts ist gut genug für die. Dabei hat die auch schon ganz andere Zeiten erlebt. Aber ...«
Vorübergehend schaltete ich meine Ohren auf Durchzug. Die Werner aus dem Dritten war Luise Ahlerts Nachbarin und Erzfeindin in Personalunion. Wenn man es pragmatisch sah, hielten die beiden sich mit all der Energie, die zwischen ihnen hin- und herschoss, gegenseitig am Leben. Nur für Außenstehende waren die Tiraden manchmal schwer zu ertragen.
»Marlene?«, übertönte ihre fordernde Stimme meine Gedanken.
»Da vorne steht mein Auto«, sagte ich. »Schaffen Sie es bis dahin noch?«
»Selbstverständlich. Schließlich habe ich es auch bis hierher geschafft.«
Irgendwie schon, gab ich ihr im Stillen recht und musste schmunzeln.
»Es ist doch sicher kein Problem, noch beim Supermarkt vorbeizufahren, oder? Mir fehlt noch das eine oder andere.«
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass meine ersehnte Zeit in der Badewanne mehr und mehr zusammenschrumpfte. Wenn ich noch bei Heidrun Momberg im Krankenhaus vorbeifahren wollte, würde es eng werden mit einer Verschnaufpause im Schaumbad.
»In Ordnung«, sagte ich und bog in den Hüttenweg, wo ich wenig später vor dem Discounter parkte. »Soll ich mit reinkommen?«, rief ich noch hinter Luise Ahlert her, während sie bereits mit einem Einkaufswagen im Laden verschwand. Ich erkundigte mich in der Klinik nach Heidrun Momberg.
Wie ich erfuhr, wurde sie bereits operiert. Also konnte ich sie genauso gut am nächsten Tag besuchen, um ihr den Schlüssel vorbeizubringen. Ich schaltete das Radio ein, lehnte den Kopf gegen den Sitz und behielt die automatischen Türen im Auge. Als mein Schützling wenige Minuten später den Wagen hindurchschob, stieg ich aus, um ihr die beiden Tüten zu tragen.
»Diejenigen, die behaupten, man könne sich für vier Euro am Tag gesund ernähren, würde ich gerne mal zum Einkaufen mitnehmen«, wetterte sie und ließ sich mit einem Stöhnen in den Autositz fallen. »Mich müsste es ja nicht scheren, ich brauche nicht viel, aber vor mir an der Kasse stand eine Mutter mit zwei halbwüchsigen Jungs. Wie soll die denn das machen, frage ich dich? Die futtern doch in dem Alter für drei.« Sie sprach laut, um die Nachrichtensprecherin im Radio zu übertönen. »Ich weiß schon, warum ich keine Kinder habe. Überleg es dir gut, Marlene. Du ersparst dir jede Menge Ärger.« »... gibt es von dem fünfjährigen Leon immer noch keine Spur«, war in diesem Moment aus dem Radio zu erfahren.
»Meint die den Jungen, der im Wald verschwunden ist?«, fragte Luise Ahlert. Ich nickte.
»Hübsches Kind«, meinte sie.
»Woher kennen Sie ihn?«
»Ich hab mir sein Foto vorhin auf so einem Suchplakat im Wald angesehen. Es ist dasselbe wie in der Zeitung. Die Eltern tun mir leid. Ich kann ja verstehen, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben und alles versuchen, um ihr Kind lebend wiederzubekommen. Aber am Ende werden die armen Dinger ja doch nur tot aus einem See geborgen. Und das nur, weil irgend so einem Verrückten in seiner Kindheit mal eine Ohrfeige verpasst wurde. Sind doch alles nur Ausreden. Wenn du mich fragst, hat so eine Ohrfeige noch keinem geschadet.«
»Das sehe ich anders, Frau Ahlert.«
»Hat es dir etwa geschadet?« Ihr Ton war herausfordernd. Sie sah mich von der Seite an.
»Ich habe nie eine bekommen. Und Sie?«
»Wenn ich mir eine eingefangen habe, dann habe ich es auch verdient.«
»Niemand verdient es, geschlagen zu werden.«
»Manche schon. Nimm nur diese gewalttätigen Jugendlichen. Hätte man denen beizeiten gehörig eins hinter die Löffel gegeben, wären die auch besser geraten, das kannst du mir ruhig glauben.«
»Die meisten von ihnen haben gehörig eins hinter die Löffel bekommen, genau das ist das Problem.« Unzufrieden schnalzte sie mit der Zunge. »Mit dir ist nicht zu reden, Marlene. Du stellst alles auf den Kopf. Denk doch nur mal an die Eltern von dem kleinen Jungen. Wie sollen denn die jemals wieder froh werden?« Ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, saß sie da, starrte vor sich hin und stupste mit dem Schuh gegen zwei leere Wasserflaschen, die im Fußraum lagen. »Willst du hier drin nicht mal aufräumen?«, fragte sie.
»Nächstes Jahr.«
»Das macht aber keinen guten Eindruck auf deine Kunden. Lass dir von mir gesagt sein, dass alte Menschen ...«
»Wir sind da, Frau Ahlert. Ich bringe Ihnen noch schnell die Tüten hoch, und dann muss ich weiter.«
»Für einen Kaffee wirst du ja wohl noch Zeit haben. Heute ist schließlich Silvester!« Ja, genau, heute war Silvester, und ich sehnte mich nach einem heißen Bad und lauter Musik. Um den Kaffee kam ich trotzdem nicht herum.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2009 by Knaur Verlag
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Autoren-Porträt von Sabine Kornbichler
Sabine Kornbichler, 1957 in Wiesbaden geboren, wuchs an der Nordsee auf. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Hamburg arbeitete sie mehrere Jahre als Beraterin in einer Frankfurter PR-Agentur. Sie lebt und arbeitet heute als Autorin in Berlin. Gleich ihr erster Roman, "Klaras Haus", war ein großer Erfolg. Es folgten die Romane "Steine und Rosen", "Majas Buch" , "Annas Entscheidung" ,"Nur ein Gerücht" und "Im Angesicht der Schuld" sowie der Kurzgeschichtenband "Vergleichsweise wundervoll".
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Kornbichler
- 2010, 1, 426 Seiten, Maße: 13,4 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995608
- ISBN-13: 9783828995604
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