Das Schwert des Sehers
Roman
Der blinde Dauras ist eine Legende unter den Schwertkämpfern: Er kämpft nur mit der magischen Gabe des "Sehens". Nun soll er die neue Thronerbin zu ihrem Thron bringen quer durch ein Land, das von Todfeinden der Prinzessin nur so wimmelt.
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Produktinformationen zu „Das Schwert des Sehers “
Der blinde Dauras ist eine Legende unter den Schwertkämpfern: Er kämpft nur mit der magischen Gabe des "Sehens". Nun soll er die neue Thronerbin zu ihrem Thron bringen quer durch ein Land, das von Todfeinden der Prinzessin nur so wimmelt.
Klappentext zu „Das Schwert des Sehers “
Dauras ist eine Legende unter den Schwertkämpfern. Er führt die Klinge mit übermenschlicher Schnelligkeit. Aber Dauras ist auch von Geburt an blind. Allein die magische Gabe des "Sehens" ermöglicht ihm, ohne Nachteile zu kämpfen. Jahrelang lebte er von illegalen Beutezügen, doch nun hat das Schicksal ihn für eine höchst ehrenvolle Aufgabe ausersehen: Er soll die neue Thronerbin wohlbehalten zu ihrem Thron bringen. Quer durch ein Land, das von Todfeinden der Prinzessin nur so wimmelt.
Lese-Probe zu „Das Schwert des Sehers “
Das Schwert des Sehers von Daniel LoyErstes Buch
Ein Gott unter den Menschen
Vor tausend Jahren war das Reich zwischen den Flüssen vereint unter einem Gott. Doch die Ronurer kamen und unterwarfen es, bis die Menschen sich erhoben und die Eroberer vertrieben. Das ist es, was man uns erzählt. Doch ist es auch die Wahrheit? Ich kenne viele alte Schriften, und ich weiß nun: Die meisten meiner Mitbürger tragen Namen, die einst ronurisch waren. Und wenn die Ronurer alle vertrieben wurden, warum habe ich den Namen Callindrin, den Namen unserer kaiserlichen Familie, auf einer ronurischen Karte gefunden? Ich glaube also, die Ronurer, das sind in Wahrheit wir, all die Menschen, die am westlichen Strom siedeln. Es gab niemals dieses große, einheitliche Reich in ferner Vergangenheit - bis die Eroberer aus Barrat kamen und uns ihre Geschichte und ihren Gott aufzwangen.
Aus der »Neuen Geschichte des Omukchar«, von Japur an Lasken, Priester des Gotor in Horome
Prolog
... mehr
Aredrel Callindrin, Kaiser des Omukchar, Graf von Horome und weltlicher Gebieter über alle Lande der Menschen, erwachte wie aus einem Albtraum - und tauchte in einen Albtraum ein!
Als Erstes stieg ihm dieser Geruch in die Nase, ein Gestank nach Erbrochenem, nach Schweiß, nach verschüttetem Wein. Die Luft war zum Schneiden schwer. Aredrel hörte keuchende Atemzüge und das Schnarchen von Betrunkenen. Er schlug die Augen auf.
Eine Handvoll Kerzen brannten in der Dunkelheit. Ihr Leuchten drang schwach aus roten Glaszylindern. Von irgendwoher sickerte ein schmaler Streifen Tageslicht in den Raum. Das Licht reichte aus, sodass Aredrel seinen privaten Bankettsaal erkannte und die Umrisse der Zecher, die über der niedrigen Tafel zusammengesackt waren.
Übelkeit stieg in ihm auf, Übelkeit und Scham. Eine brennende, eine würgende Scham! In diesem Augenblick war der Kaiser froh, dass die Dunkelheit das Schlimmste verhüllte. Er war froh, dass er seine Gefährten nicht sehen musste, seine Getreuesten.
Er schob die nackte Magd zur Seite, die über seinen Schenkeln lag. Sie regte sich müde und schlief dann weiter. Aredrel erhob sich von dem gepolsterten Nest, das er sich aus großen Kissen vor dem kurzbeinigen Tisch bereitet hatte. Auf schwankenden Beinen stakste er zu einer Seitentür.
Diener huschten herbei. Sie hatten im Schatten der Hallenwand auf ihn gewartet. Aredrel wehrte ihre Hilfe ab. Eigenhändig zog er den Umhang aus schwerem Goldbrokat fester um sich. Es war das einzige Kleidungsstück, das er am Leibe trug. Er war sich nur allzu bewusst, was für ein Bild er abgab: ein dicker, kleiner, krummbeiniger Mann mit dünnen Haaren, die ihm fettig in der Stirn klebten, dazu die würdelose Nacktheit unter einem losen Mantel, der zweifelsohne befleckt war von den Ausschweifungen der vergangenen Nacht.
Aredrel, der Kaiser des Omukchar, fühlte sich gedemütigt vor seinen Dienern. Gestern hätte er über diese Vorstellung nur gelacht. An die Lakaien und Wachen in seinem Palasthatte er nie einen Gedanken verschwendet. Heute spürte er, dass er seine Person, sein Amt und seinen Titel und das Reich selbst entweiht hatte.
»Bponur, hilf ...«
Er taumelte durch den Raum und murmelte vor sich hin.
Zu gern wollte er glauben, dass dieser Augenblick ein einmaliger Ausrutscher war, eine durchzechte Nacht am Tag des Lebens vielleicht, wo man derlei Ausschweifungen vergeben konnte.
Er hätte sich gern eingeredet, dass er in ein neues Leben erwacht war und vergessen hatte, was vorher gewesen war. Doch leider erinnerte er sich an alles, an jeden einzelnen Tag in diesen letzten zwanzig Jahren, in denen er sich selbst Schande gemacht hatte. An jedes Gelage, an jeden ... Wahnsinn.
Wie konnte es sein, dass er gestern nichts von alle dem empfunden hatte und dass er es mit einem Mal so schmerzhaft spürte? Lauerte der Wahnsinn tatsächlich in jenen Erinnerungen, die ihn quälten? Oder war das jetzt der Wahnsinn, dieser Augenblick, der sich anfühlte wie eine Erkenntnis?
Bponur, mach, dass es vorbei ist, dachte er nur.
Aredrel erreichte die Tür. Er sah den grellen Streifen, der darunter hindurch ins Zimmer fiel. »Bleibt zurück«, befahl er den Dienern. Er wollte nicht, dass sie ihn im gnadenlosen Licht des Tages erblickten.
Er schlurfte auf den Flur, der von einer Reihe hoher Fenster gesäumt war. Mit den Händen beschirmte er die Augen und huschte weiter, so schnell seine zitternden Beine ihn trugen.
Er wollte sich waschen. Sich ankleiden. Da tauchte neben ihm ein Schatten auf, wie aus der Wand gewachsen. Aredrel zuckte zurück. Fast hätte er seinen Umhang verloren. Dann erkannte er die schwarze, hagere Gestalt seines Hofmagiers.
Runnik.
Aredrel dachte an ihre gemeinsamen Ausflüge in die Gewölbe unter dem Palast, an die Magie, die Runnik ihm dort zu ihrer beider Vergnügen vorgeführt hatte. An die blutigen Opfer. An grotesk verzerrte Körper, deren Fleisch sich formen ließ wie Lehm. An Tote, die an kupfernen Fäden hingen und zuckend tanzten zur Kurzweil des Kaisers.
Runnik war ihm wie ein Bruder gewesen, ein Bruder im Geiste. Und jetzt, bei Gott, jetzt fürchtete er diesen Mann!
»Eure Majestät sind wach.« Eine leichte Falte zeigte sich auf Runniks Stirn.
Aredrel bot seine ganze Entschlossenheit auf und ließ sich nichts anmerken. »Runnik. Du hast mich erschreckt. Du solltest nicht aus finsteren Winkeln herabschweben wie eine Fledermaus. «
»Es tut mir leid, Majestät.« Der Hofmagier neigte den Kopf. »Ich habe unten in meinen Labors ein kleines Schauspiel für Euch vorbereitet. Wenn ich Euch einladen darf ...?«
»Nein ... Nein«, stammelte Aredrel. »Nicht jetzt.«
Er floh den Flur hinunter und in sein Schlafgemach. Erschlug die Tür zu und blieb dahinter stehen. Endlich allein. Durch die Glasfenster und die Vorhänge aus ockergelber Seide sickerte das Licht eines klaren Morgens in den Raum. Es wirkte so freundlich. Runnik folgte ihm nicht, und Aredrel atmete auf.
Ich muss diesen Hofmagier loswerden, dachte er.
Ihm wurde bewusst, dass er über jeden seiner Gefolgsleute dasselbe sagen könnte. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte.
Aredrel wischte sich die Stirn und stöhnte.
Der Mann, der er noch gestern gewesen war, hatte keine Angst vor Runnik gehabt. Aredrel war Herr über all die Wölfe gewesen, die er an seinem Hof versammelt hatte. Hatte er da nicht mehr von einem Kaiser an sich gehabt als jetzt?
Unruhig ging er in seinem Schlafzimmer auf und ab, zwischen den uralten Möbeln, von denen er allein das breite Bett mit dem hohen Himmel jemals benutzt hatte. Er öffnete die Schubladen seines leeren Sekretärs, als könnte er darin eine Antwort auf seine Fragen finden.
Nein, ich bin nicht schwach geworden!
Er würde sein Reich neu ordnen.
Aber wem konnte er vertrauen, an diesem Hof, den er in den letzten Jahren mit allem Gesindel besetzt hatte, das es in seinem Reich gab?
Seiner Frau?
Aredrel schnaubte verächtlich. Sie war ein Püppchen, das ihm aus gutem Grund aus dem Weg ging. Er hatte von ihr nie als der »Kaiserin« gedacht, und er tat es auch jetzt nicht, was immer sich sonst verändert haben mochte.
Bertin von Ebran, sein Erzkaplan?
Dieser Priester mochte ein Anfang sein. Aber Aredrel musste zugeben, dass er den Mann kaum kannte. Hatte er je ein Wort mit ihm gewechselt?
Bei diesem Gedanken erinnerte er sich an jenen anderen Menschen, der fast vergessen in seiner Nähe gelebt hatte. Aruda!
Aredrel stöhnte leicht. Er strich sich die schütteren braunen Haare aus der Stirn. Das war sein schlimmstes Versäumnis! Wie ein Geist war sie stets an seinem Hof gewesen, und dann hatte er sie fortgeschickt.
Er würde dem Erzkaplan einen Brief diktieren und seine Tochter zurückholen. Was auch immer er in der Vergangenheit getan hatte, was auch immer die Zukunft brachte - erwünschte sich, dass seine Tochter während der kommenden Tage an seiner Seite stand.
Und dass sie ihm verzieh.
26.9.962 - Undervilz, zwei Tagesreisen nördlich der Hauptstadt
Undervilz war so unbedeutend und provinziell, wie der Name vermuten ließ. Eine Handvoll zweistöckiger Häuser aus Fachwerk, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie ein Dorf sein wollten oder ein Städtchen. Dennoch lag Undervilz im Einzugsgebiet der großen Metropole Horomeund am Ufer des gewaltigen Stroms, den die Bewohner am Oberlauf schlicht den »Rhod« nannten.
Dauras liebte solche Orte. Es verirrten sich genug Fremde hierher, dass es für seinen Lebensunterhalt reichte, und zugleich blieb es so ruhig, dass niemand ihn mit Dingen behelligte, die unter seiner Würde waren. Das war eine ganze Weile gut gegangen - jetzt aber saß Dauras der Schwertkämpfer an einem Tisch in der »Silberforelle«, über einen Krug dünnen Biers gebeugt, und fragte sich, ob es an der Zeit war, weiterzuziehen.
Es gab einen guten Grund, warum er noch darüber nachdachte: Der Wirt der »Forelle« kannte ihn, und Dauras genoss hier uneingeschränkten Kredit. Zudem passte das Hausperfekt zu seinen Geschäften. Es war keine dieser verrauchten Kneipen, in denen man kaum aufstehen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen. Der Gastraum war groß, mit langen Tischen und Bänken und mit viel lichter Weite unter der Decke. Dauras hatte lange nach einem Ort wie diesem gesucht, und er gab ihn nur ungern wieder auf.
Doch vielleicht musste er das gar nicht.
Zwei Männer traten in die Stube, und Dauras zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Er trug ein geschlitztes Wams ausgrünem Tuch und eine leichte helle Hose, dazu Stiefel aus weichem Leder - reisefeste und zugleich bequeme Kleidung von guter Qualität. Aber der Kapuzenmantel, den er darüber anhatte, war schäbig und fleckig und verbarg alles. Es war ein Umhang, in dem er aussah wie ein Landstreicher oder wie ein bäuerlicher Tagelöhner.
Er musterte die beiden, ohne den Kopf zu heben. Der eine war ein großer ungeschlachter Typ mit viel zu schweren Muskeln, die immer zu langsam reagieren und bei jedem Kampf nur im Weg sein würden. Sein schmächtiger Begleiter hielt klugerweise bereits eine gespannte Armbrust in der Hand, weil er sonst wohl ohnehin zu nichts zu gebrauchen war.
Dauras betrachtete prüfend ihre Ausrüstung: Kleidung, Waffen und ein etwas wahlloses Sammelsurium von Rüstungsteilen aus Eisen und Leder. Alles zusammen mochte etwa dreißig Goldmark einbringen. An baren Münzen im Säckeltrugen die Männer kaum mehr als ein paar Bronzemark. Armselig. Dauras nahm einen Schluck aus seinem Krug.
Zu dieser frühen Nachmittagsstunde saßen nicht viele Gäste in der »Forelle«. Die Einheimischen erhoben sich rasch, als die Fremden hereinkamen, andere Reisende waren klug genug, ihrem Beispiel zu folgen. Nur Dauras blieb sitzen und starrte in sein Bier.
Die beiden Neuankömmlinge bauten sich vor seinem Tisch auf. Der Muskelprotz stand direkt neben ihm, und Dauras roch dessen Schweiß und das fettige Leder. Der Kerl mit der Armbrust wartete zwei Schritte dahinter.
»He, du da«, hörte Dauras den Kräftigen sagen.
Er vernahm eine leichte Unsicherheit in der Stimme und grinste. Die Männer hatten sich ohne Zweifel vergewissert, dass er hier war, bevor sie die Schenke betraten. Aber die Kapuze verbarg sein Gesicht, und sie waren sich noch nichtsicher, ob er es war.
Sie wussten nichts über ihn.
»He, ich rede mit dir.« Der Große zog sein Schwert. Dauras hörte, wie der Stahl über das Leder schabte, er spürte die Bewegung vor seiner Stirn, nur durch eine Schicht dünnen fleckigen Tuchs von seiner Haut getrennt. Der Krieger schob Dauras' Kapuze mit der Schwertklinge nach hinten.
»Wohl taub, oder was?« Er legte die linke Hand unter Dauras' Kinn und zog den Kopf nach oben. »Schau mich gefälligst an, wenn ich ...«
Er erstarrte. Dauras wusste, was der Fremde in seinem Gesicht sah, obwohl er selbst es niemals so wahrnehmen würde. Doch man hatte ihm den Anblick oft genug beschrieben, seit er die Mauern des Klosters verlassen hatte: starre graue Augen, wie mit einem nebligen Schleier überzogen. »Die Augeneines Toten«, so hatte ein Söldner ihm einmal ins Gesicht gesagt.
»He, der ist blind!« Der muskelbepackte Krieger drehte sich zu seinem Gefährten um.
»Scheiße, kann nich' sein«, antwortete der Mickerling. Erhielt die kleine Armbrust mit einer Hand und nestelte mit der anderen ein Blatt Papier hervor.
Dauras atmete aus. Er packte den kräftigen Schwertkämpfer an beiden Handgelenken und riss ihn zur Seite. Mit dem Fuß sichelte er ihm die Beine weg. Der Mann taumelte nachhinten, auf seinen Begleiter zu und genau in die Schussbahn des Bolzens hinein, den der Armbrustschütze vor Schreck fliegen ließ. Das Geschoss traf den bulligen Schwertschwinger an der Schulter.
Dauras sprang auf. Er fing das Schwert, das dem Getroffenen aus der Hand fiel, setzte über den Stürzenden hinweg und stieß dem Schützen die Klinge in die Kehle, bevor der überhaupt bemerkt hatte, dass er seinen Bolzen längst verschossen hatte.
Der Mann ließ das Papier los, das er in der Linken hielt.
Er brach zusammen und wedelte dabei immer noch mit der nutzlosen Armbrust in Dauras' Richtung, die Finger um den Abzug verkrampft.
Dauras fuhr herum und hieb dem ersten Gegner die Klingein den Nacken.
Er atmete ein. Der Kampf war vorüber. Diese Männerwaren so langsam gewesen - so langsam wie alle Menschen, denen er jemals begegnet war. Verächtlich verzog Dauras das Gesicht.
Der Wirt lief herbei, ein freundlicher, schmächtiger Mannjenseits der fünfzig. Er rang die Hände. »Bitte, Herr!«, sagte er. »Nicht in meinem Gasthaus! Nicht immer in meinem Gasthaus!«
Mit geübten Bewegungen drehte Dauras die noch zuckenden Leichen auf den Rücken und pflückte alles von ihrem Körper, was einen Wert hatte.
»Was beklagst du dich bei mir, Wirt?«, knurrte er. »Sie haben mich zuerst angegriffen, oder nicht?«
»Aber nur, weil Ihr sie mit diesen Dingern zu Euch lockt!« Der Wirt wies auf das Blatt, das der Armbrustschütze im Augenblick seines Todes verloren hatte.
Dauras hob das Papier auf. Wie durch ein Wunder war kaum Blut darangekommen, man konnte es gut noch einmalverwenden. Die Steckbriefe waren teuer genug gewesen, und der Kupferstich darauf, so hatte er sich sagen lassen, sah ihm verblüffend ähnlich. Dauras bedauerte fast, dass er selbst niemals sehen würde, wofür er sein Geld ausgegeben hatte.
Er faltete den Bogen Papier sorgfältig zusammen und steckte ihn ein. »Mein Steckbrief lockt nur Kopfgeldjäger an, Abschaum, den niemand vermissen wird. Und es sind immer Fremde, die keiner hier kennt. Kein Einheimischer würde auf die Zettel reinfallen. Und am Ende landet das Geld in deiner Kasse. Also, was jammerst du herum?«
Dauras beeilte sich mit der Arbeit. Seine Sinne verrieten ihm, dass neue Gäste vorgefahren waren. Er wollte mit den Toten fertig sein, bevor sie hereinkamen. Nicht, um den Wirt zu schonen, sondern um die Hände und den Kopf freizuhaben für die Neuankömmlinge, wenn es sich als nötig erweisen sollte.
»Ich weiß, Herr. Und niemand hier will Euch verärgern.« Der Wirt senkte den Kopf. »Aber warum müsst Ihr dieseHalunken immer in meinem Haus erwarten? Die Toten sind nicht gut für mein Geschäft.«
»Dann rate ich dir, Wirt, schaff die Toten weg. Du wirst den Platz gleich für die Lebenden brauchen.« Dauras schob seine Beute unter den Tisch. Dann setzte er sich entspannt wieder vor den Bierkrug und zog die Kapuze tief in die Stirn. Seine Sinne jedoch waren bis zum Äußersten geschärft.
Die neuen Gäste auf der Straße vor dem Gasthaus waren von einem anderen Schlag als die beiden Kopfgeldjäger. Dauras spürte Stahl - eine Menge Stahl! Das waren nicht nur Waffen, er nahm auch Kettenhemden wahr, und Schilde an den gut bepackten Pferden. Zwanzig schwer bewaffnete Krieger versammelten sich um einen geschlossenen Wagen, aus dem zwei Frauen stiegen.
Dauras fühlte durch die Mauern, wer die Herrin war - ein zierliches junges Mädchen, das sich leicht bewegte, obwohles bedrückt wirkte und Gewänder trug, die ein wenig zu zweckmäßig waren für jemanden von hohem Stand. Ihre Begleiterin war älter und schwerfälliger, eine Magd vermutlich.
Die Tür sprang auf, die Schar drängte herein. Der Wirt, der sich gerade mit zwei Burschen um die Leichen kümmerte, fuhr überrascht auf.
»Eh, Wirt«, rief der Anführer der Neuankömmlinge. Leder und Kettenringe knirschten, wenn er sich bewegte, und seine Ausstrahlung verriet den erfahrenen Krieger. Ein Ritter, schätzte Dauras, und gewiss schon über vierzig.
»Ein Zimmer für die Dame. Und Platz für meine Männer ... was ist denn das?«
Er hatte die toten Kopfgeldjäger erspäht.
Der Wirt eilte auf ihn zu und nahm den grau gefleckten Lappen in die Hand, den er sich als Kopftuch um die schwitzende Stirn gebunden hatte. »Verzeiht den Anblick, Herr«, sagte er eilfertig. »Zwei auswärtige Herumtreiber, die mit dem falschen Gast Streit gesucht haben. Ich versichere Euch, wir sind für alle ehrbaren Besucher ein sicheres Haus.«
»Der falsche Gast, so, so«, wiederholte der alte Ritter. Sein Blick wanderte zu Dauras und blieb an dem schäbigen Umhang haften. »Auf den ersten Blick hätte ich eher den für einen auswärtigen Herumtreiber gehalten.«
Ein paar der Krieger aus der Schar hinter ihm schnaubten abfällig. Dauras hörte sogar ein leises Kichern unter den Männern. »Bauer gegen Bettler«, murmelte ein Jüngling, den Dauras für einen Knappen hielt. »Welch epische Schlachtenhier geschlagen werden.«
Ganz im Hintergrund der fremden Schar bemerkte Dauras allerdings ein Augenpaar, das sich mit neu erwachtem Interesse in seine Richtung wandte, eine kleine schmale Gestalt, die sich streckte, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.
Die junge Dame, die mit den Rittern gekommen war.
Die Reisegesellschaft nahm eine große Tafel in Beschlag. Ein halbes Dutzend Krieger hockten sich abseits der übrigen an einen Tisch bei der Tür. Der Wirt ließ auftragen, und Dauras lauschte den Gesprächen beim Essen. Die Männer lärmten und scherzten, aber wann immer persönliche Dinge zur Sprache kamen, das Ziel ihrer Reise oder der letzte Ort, an dem sie gewesen waren, herrschte der alte Ritter sie an, und siewechselten zu unverfänglicheren Themen. Die junge Dame saß still zwischen ihnen, neben dem alten Ritter und ihrer Magd, und kritzelte etwas auf ein Stück Papier.
Diese Reisenden hüteten ein Geheimnis, so viel war klar. Aber sie hüteten es gut und gaben auch nichts davon preis, nachdem sie gespeist hatten und der Wirt Bier und Weinauftrug. Dauras überlegte, ob er gezielter nachforschen sollte. Er entschied sich dagegen. Die banalen Geheimnisse der Menschen interessierten ihn nicht. Es gab so viele Heimlichkeiten den Fluss hinauf und hinunter, wenn er allen hinterherjagen wollte, würde er ordentlich seine Zeit verschwenden.
Dann löste die Gesellschaft sich auf. Die Dame gab ihren Begleitern zu verstehen, dass sie sich zurückziehen wolle, und ein größerer Tross setzte sich in Bewegung. Der alte Ritter und ein gutes halbes Dutzend seiner Männer geleiteten die junge Herrin nach oben zu ihrem Zimmer. Sie kamen an Dauras' Tisch vorbei, und er bemerkte eine verstohlene Geste. Die Dame streifte mit den Fingern über die Tischplatte und ließ einen kleinen zusammengeknüllten Zettel darauf zurück.
Dauras nahm das Papier an und strich es glatt, während der Rest der Schar an ihm vorüberging. Er schnaubte belustigt, und mit einem Mal war ihm danach, die Dinge ein wenig in Bewegung zu bringen.
Er hielt das Papier in die Höhe. »He«, rief er. »Ich glaube, die Dame hat etwas verloren.«
Der Zug hielt inne. Dauras spürte, wie die junge Damezwischen den Männern zusammenzuckte, erschrocken, verlegen, fassungslos. Ihr Herz pochte rascher, und das Blut schoss ihr ins Gesicht.
Dauras genoss den Augenblick, der mehr Unterhaltung versprach als die üblichen tumben Kopfgeldjäger.
»Was willst du, Bauer?« Der Knappe am Ende der Scharwandte sich um. Er konnte kaum dem Knabenalter entwachsen sein, aber dem Auftreten nach hielt er sich für einen Mann, und zwar für einen großen.
»Gib her, den Fetzen. Und wenn du uns belästigen willst ...«
Der Jüngling streckte die Hand aus, doch Dauras zog das Blatt zurück. Er reichte es dem Wirt, der eifrig zu den Herrschaften hinlief.
»Hier, Wirt ...« Er konnte sich den Namen des Mannes einfach nicht merken, obwohl er schon seit einem halben Jahr unter dessen Dach logierte. »Lies vor!«
»Herr ...«, stammelte der Wirt. Er warf einen entschuldigenden Seitenblick zu den anderen Gästen, aber Dauras wusste, dass der Mann es nicht wagen würde, sich seinem Befehl zu widersetzen.
Der junge Knappe wandte sich an seinen Anführer. »Dieser Herumtreiber hat eine Tracht Prügel verdient, was meint Ihr, Herr?«
Der alte Ritter antwortete nicht. Sein Blick glitt von der Dame zu dem Wirt und weiter zu Dauras, der sich unter seinem schäbigen Kapuzenumhang verbarg. Dauras wusste, der erfahrene Krieger fing etwas auf, was dessen Aufmerksamkeit weckte. Er war klug genug, die Sache ernst zu nehmen, auch wenn er nicht wusste, was er davon halten sollte.
»Hier steht ...«, stammelte der Wirt und verstummte.
»Was ist, Mann?«, herrschte Dauras ihn an. »Erzähl mir nicht, dass du plötzlich das Lesen verlernt hast.«
»Hier steht ...«, fuhr der Wirt tonlos fort. »Helft mir. Ich werde entführt.«
Die Zeit schien so träge zu fließen wie das Abwasser aus den Kloaken der Hauptstadt.
»Was bedeutet das?« Die Stimme des Knappen drang durch die Stille. Er riss dem Wirt das Papier aus der Hand, warf aber keinen Blick darauf. Vermutlich konnte der Jüngling genauso wenig lesen wie Dauras selbst. »Ist das eins von diesen Spielen bei Hofe, von denen man so viel hört? Oder will der Landstreicher die hohe Dame in Verlegenheit bringen?«
Dauras spannte sich an. Es war an der Zeit, die Sache zu beenden, wenn er sich nicht in etwas hineinziehen lassen wollte. Konnte er die Sache überhaupt noch beenden, ohne in etwas hineingezogen zu werden?
Bislang hatte keiner der fremden Krieger eine Waffe gezogen. Sie mochten zornig sein, verwirrt, aber sie waren unentschlossen und fühlten sich nicht bedroht. Sie vertrauten auf ihre Zahl und auf ihre Waffen.
Dauras entschied, dass er eine bessere Gelegenheit nichtmehr bekommen würde.
Sein Schwert lehnte neben ihm an der Bank. Er griff danach und sprang auf. Er riss die Klinge in einem Bogen hoch. Sie fuhr dem Knappen in den Oberschenkel und ging durch bis auf den Knochen.
Dauras stand im Gang und schob den Jüngling zur Seite. Schmatzend glitt der Stahl aus dem Fleisch. Dauras trat dem nächsten Mann kraftvoll gegen das Schienbein, und das Knie sprang aus dem Gelenk. Dem Mann daneben trieb er die blutverschmierte Klinge ins Bein und durch die Arterie. Er tat einen Satz über die stürzenden und blutenden Kriegerhinweg und zog dem einen im Vorübergehen einen Dolch aus dem Gürtel.
Erst jetzt fand der Knappe, der zuerst verletzt worden war, die Zeit für einen Schrei.
Dauras' Gegner trugen Kettenhemden. Die Rüstung hätte seine Schwertklinge behindert. Aber der Dolch in seiner Hand war schmal genug, und Dauras stieß seinem vierten Gegner die Klinge durch die Eisenringe hindurch ins Herz. Dem nächsten Gegner stach er das Schwert so kraftvoll durch die Kehle, dass er den Mann dahinter noch ins Auge traf. Es war kein Zufall, er hatte den Stoß so präzise geführt.
Er ließ sein Schwert los und griff nach der Waffe des Mannes, der mit dem Dolch im Herzen dastand, obwohl er schon tot war. Es war den Rittern schwer gefallen, ihre Waffen zuziehen. Der enge Gang zwischen den Tischen behinderte sie. Aber Dauras vollendete mühelos die Bewegung, die der Besitzer des Schwertes nie mehr fortführen würde.
Er sprang über einen der Tische, vorbei an der Dame, die den Zettel geschrieben hatte und die jetzt wie erstarrt inmitten der fallenden Leiber stand.
Im selben Schwung hieb er dem nächsten Krieger die Klinge in den Hals, umfasste mit der Linken dessen Hand und streckte mit der Waffe darin dessen Nachbarn nieder.
Jetzt stand nur noch der alte Ritter vor ihm. Dauras hatte für den Weg durch all die Männer nicht länger gebraucht, als ein normaler Krieger brauchte, um sein Schwert zu ziehen. Der Ritter hielt seine Waffe in der Hand - Dauras war trotzdem schneller. Er rammte ihm das Schwert mit einem wuchtigen Stoß durch das Kettenhemd und in die Brust, bevor der Ritter zum Hieb ausholen konnte.
Dann hielt er inne.
Die Hälfte seiner Gegner war tot, die übrigen wanden sich mit zerschlagenen Beinen hilflos am Boden. Die Gaststube war erfüllt von ihren Schreien. Blut sprudelte aus den Oberschenkelwunden wie Wein aus einem aufgeschlagenen Fass.
Die junge Dame verharrte immer noch wie gelähmt in dem Durcheinander. Dauras fasste sie an den Hüften und hob sie auf eine Bank, ehe die Lache aus Blut ihre Füße erreichte. Beiläufig nahm er die feinen Pelzstiefelchen wahr, die sie trug. Er packte sein eigenes Schwert. Die Klinge hatte sich in der Augenhöhle verkantet und ließ sich nur widerstrebend wieder herausziehen.
Er schritt in den vorderen Teil der Gaststätte.
Die Krieger, die dort noch saßen, griffen zu den Waffen. Mit aufgeregten Rufen sprangen sie auf und stellten sich neben die Tische. Es waren mehr Männer übrig, als Dauras bereits besiegt hatte. Aber fünf von ihnen wichen zurück, als er auf sie zuging, bis zur Türe, und dann flohen sie hinaus auf die Straße. Es waren dieselben fünf, die zuvor schon abseits der anderen gesessen hatten.
Dauras stieß einen Schrei aus. Er stürmte auf die letzten sechs an der großen Tafel zu. Einer hob erschrocken das Schwert und stellte sich ihm entgegen. Dessen Kameradendahinter suchten das Weite, noch bevor Dauras den Mann erschlagen hatte.
Es wurde still in der Gaststube. Dauras drehte sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Zu langsam, dachte er. Sie sind einfach alle zu langsam!
Er fühlte einen Hauch von Hochgefühl nach dem gewonnenen Kampf, doch es lag auch eine bittere Note darin. Enttäuschung.
Er bedauerte es beinahe, dass er seinen Gegnern nicht die Zeit gegeben hatte, sich auf den Kampf vorzubereiten. Hätte er sie alle dann genauso besiegt, in einem offenen Kampf?
Vielleicht hätte er es darauf ankommen lassen sollen.
Seine Sinne erfassten die stumme Präsenz des Wirts, und er hielt inne. Der Mann wirkte aufgebrachter denn je, aber auf eine ruhige Art. Erschüttert. Steif lehnte er inmitten des Gemetzels an einem Tisch, nicht weit von der immer noch reglosen Dame entfernt.
Dauras fuhr den Mann an: »Willst du mir wieder Vorhaltungen machen? Du hast es gehört: Die Dame wurde entführt. Ich habe ihr nur geholfen!«
Seine Worte rissen den Wirt aus der Benommenheit. Langsam wandte er sich Dauras zu. Seine Stimme zitterte.
»Nein, Herr ...« Der Wirt räusperte sich. Er rang die Hände. »Wenn Ihr nur sehen könntet!«
Dauras stieß einen verächtlichen Laut aus. »Ich sehe besser als jeder andere, Wirt. Und ich brauche keine Augen dafür. Frag diese Krieger da, wenn du an meinen Worten zweifelst.«
»Ihr seht es nicht!« In der Stimme des Wirtes lag ein Entsetzen, das selbst Dauras innehalten ließ. »Diese Männer, sie trugen Wappen und Farben. Die Soldaten, die geflohen sind, trugen die Farben des Kaisers! Diesmal, Herr, seid Ihr zu weit gegangen.«
Zu weit gegangen.
Zwei Wegstunden entfernt auf einer menschenleeren Heide dachte Dauras über diese Worte nach.
Dauras wusste, dass viele seiner Feinde überlebt hatten. Er war kein Risiko eingegangen und hatte die Silberforelle sofort verlassen. Die Dame - besser gesagt: das Mädchen - folgte ihm so willenlos wie eine Puppe, sobald er sie an der Hand nahm. Niemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt.
Im Stall hatte er unter den Pferden seiner Feinde die besten herausgesucht. Doch dann hatte das Mädchen überraschend zwei bessere gewählt. Sie war weit geschickter auf dem Pferd als er und erwies sich nicht als Bürde, während sie nach Westen ritten, fort von dem Fluss und hinein in das spärlich besiedelte Hinterland.
Dauras war nicht allzu besorgt wegen der entkommenen Krieger. Allerdings wollte er Abstand gewinnen und an einemsicheren Platz alles Weitere überdenken.
Das Tageslicht reichte noch eine Wegstunde, eine weitere Stunde ritten sie durch Dämmerung und Dunkelheit. Jetztwaren sie hier, in einem öden Streifen Brachland zwischen den Dörfern. Sie hockten in einer Kuhle unter den herabhängenden Ästen des einzigen Baumes weit und breit, und Dauras stocherte in dem kleinen Feuer, das er aus den Resten vertrockneten Buschwerks entfacht hatte.
Das Mädchen hatte die ganze Zeit kein Wort gesprochen. Aber Dauras wollte wissen, worauf er sich da eingelassen hatte.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Aredrel Callindrin, Kaiser des Omukchar, Graf von Horome und weltlicher Gebieter über alle Lande der Menschen, erwachte wie aus einem Albtraum - und tauchte in einen Albtraum ein!
Als Erstes stieg ihm dieser Geruch in die Nase, ein Gestank nach Erbrochenem, nach Schweiß, nach verschüttetem Wein. Die Luft war zum Schneiden schwer. Aredrel hörte keuchende Atemzüge und das Schnarchen von Betrunkenen. Er schlug die Augen auf.
Eine Handvoll Kerzen brannten in der Dunkelheit. Ihr Leuchten drang schwach aus roten Glaszylindern. Von irgendwoher sickerte ein schmaler Streifen Tageslicht in den Raum. Das Licht reichte aus, sodass Aredrel seinen privaten Bankettsaal erkannte und die Umrisse der Zecher, die über der niedrigen Tafel zusammengesackt waren.
Übelkeit stieg in ihm auf, Übelkeit und Scham. Eine brennende, eine würgende Scham! In diesem Augenblick war der Kaiser froh, dass die Dunkelheit das Schlimmste verhüllte. Er war froh, dass er seine Gefährten nicht sehen musste, seine Getreuesten.
Er schob die nackte Magd zur Seite, die über seinen Schenkeln lag. Sie regte sich müde und schlief dann weiter. Aredrel erhob sich von dem gepolsterten Nest, das er sich aus großen Kissen vor dem kurzbeinigen Tisch bereitet hatte. Auf schwankenden Beinen stakste er zu einer Seitentür.
Diener huschten herbei. Sie hatten im Schatten der Hallenwand auf ihn gewartet. Aredrel wehrte ihre Hilfe ab. Eigenhändig zog er den Umhang aus schwerem Goldbrokat fester um sich. Es war das einzige Kleidungsstück, das er am Leibe trug. Er war sich nur allzu bewusst, was für ein Bild er abgab: ein dicker, kleiner, krummbeiniger Mann mit dünnen Haaren, die ihm fettig in der Stirn klebten, dazu die würdelose Nacktheit unter einem losen Mantel, der zweifelsohne befleckt war von den Ausschweifungen der vergangenen Nacht.
Aredrel, der Kaiser des Omukchar, fühlte sich gedemütigt vor seinen Dienern. Gestern hätte er über diese Vorstellung nur gelacht. An die Lakaien und Wachen in seinem Palasthatte er nie einen Gedanken verschwendet. Heute spürte er, dass er seine Person, sein Amt und seinen Titel und das Reich selbst entweiht hatte.
»Bponur, hilf ...«
Er taumelte durch den Raum und murmelte vor sich hin.
Zu gern wollte er glauben, dass dieser Augenblick ein einmaliger Ausrutscher war, eine durchzechte Nacht am Tag des Lebens vielleicht, wo man derlei Ausschweifungen vergeben konnte.
Er hätte sich gern eingeredet, dass er in ein neues Leben erwacht war und vergessen hatte, was vorher gewesen war. Doch leider erinnerte er sich an alles, an jeden einzelnen Tag in diesen letzten zwanzig Jahren, in denen er sich selbst Schande gemacht hatte. An jedes Gelage, an jeden ... Wahnsinn.
Wie konnte es sein, dass er gestern nichts von alle dem empfunden hatte und dass er es mit einem Mal so schmerzhaft spürte? Lauerte der Wahnsinn tatsächlich in jenen Erinnerungen, die ihn quälten? Oder war das jetzt der Wahnsinn, dieser Augenblick, der sich anfühlte wie eine Erkenntnis?
Bponur, mach, dass es vorbei ist, dachte er nur.
Aredrel erreichte die Tür. Er sah den grellen Streifen, der darunter hindurch ins Zimmer fiel. »Bleibt zurück«, befahl er den Dienern. Er wollte nicht, dass sie ihn im gnadenlosen Licht des Tages erblickten.
Er schlurfte auf den Flur, der von einer Reihe hoher Fenster gesäumt war. Mit den Händen beschirmte er die Augen und huschte weiter, so schnell seine zitternden Beine ihn trugen.
Er wollte sich waschen. Sich ankleiden. Da tauchte neben ihm ein Schatten auf, wie aus der Wand gewachsen. Aredrel zuckte zurück. Fast hätte er seinen Umhang verloren. Dann erkannte er die schwarze, hagere Gestalt seines Hofmagiers.
Runnik.
Aredrel dachte an ihre gemeinsamen Ausflüge in die Gewölbe unter dem Palast, an die Magie, die Runnik ihm dort zu ihrer beider Vergnügen vorgeführt hatte. An die blutigen Opfer. An grotesk verzerrte Körper, deren Fleisch sich formen ließ wie Lehm. An Tote, die an kupfernen Fäden hingen und zuckend tanzten zur Kurzweil des Kaisers.
Runnik war ihm wie ein Bruder gewesen, ein Bruder im Geiste. Und jetzt, bei Gott, jetzt fürchtete er diesen Mann!
»Eure Majestät sind wach.« Eine leichte Falte zeigte sich auf Runniks Stirn.
Aredrel bot seine ganze Entschlossenheit auf und ließ sich nichts anmerken. »Runnik. Du hast mich erschreckt. Du solltest nicht aus finsteren Winkeln herabschweben wie eine Fledermaus. «
»Es tut mir leid, Majestät.« Der Hofmagier neigte den Kopf. »Ich habe unten in meinen Labors ein kleines Schauspiel für Euch vorbereitet. Wenn ich Euch einladen darf ...?«
»Nein ... Nein«, stammelte Aredrel. »Nicht jetzt.«
Er floh den Flur hinunter und in sein Schlafgemach. Erschlug die Tür zu und blieb dahinter stehen. Endlich allein. Durch die Glasfenster und die Vorhänge aus ockergelber Seide sickerte das Licht eines klaren Morgens in den Raum. Es wirkte so freundlich. Runnik folgte ihm nicht, und Aredrel atmete auf.
Ich muss diesen Hofmagier loswerden, dachte er.
Ihm wurde bewusst, dass er über jeden seiner Gefolgsleute dasselbe sagen könnte. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte.
Aredrel wischte sich die Stirn und stöhnte.
Der Mann, der er noch gestern gewesen war, hatte keine Angst vor Runnik gehabt. Aredrel war Herr über all die Wölfe gewesen, die er an seinem Hof versammelt hatte. Hatte er da nicht mehr von einem Kaiser an sich gehabt als jetzt?
Unruhig ging er in seinem Schlafzimmer auf und ab, zwischen den uralten Möbeln, von denen er allein das breite Bett mit dem hohen Himmel jemals benutzt hatte. Er öffnete die Schubladen seines leeren Sekretärs, als könnte er darin eine Antwort auf seine Fragen finden.
Nein, ich bin nicht schwach geworden!
Er würde sein Reich neu ordnen.
Aber wem konnte er vertrauen, an diesem Hof, den er in den letzten Jahren mit allem Gesindel besetzt hatte, das es in seinem Reich gab?
Seiner Frau?
Aredrel schnaubte verächtlich. Sie war ein Püppchen, das ihm aus gutem Grund aus dem Weg ging. Er hatte von ihr nie als der »Kaiserin« gedacht, und er tat es auch jetzt nicht, was immer sich sonst verändert haben mochte.
Bertin von Ebran, sein Erzkaplan?
Dieser Priester mochte ein Anfang sein. Aber Aredrel musste zugeben, dass er den Mann kaum kannte. Hatte er je ein Wort mit ihm gewechselt?
Bei diesem Gedanken erinnerte er sich an jenen anderen Menschen, der fast vergessen in seiner Nähe gelebt hatte. Aruda!
Aredrel stöhnte leicht. Er strich sich die schütteren braunen Haare aus der Stirn. Das war sein schlimmstes Versäumnis! Wie ein Geist war sie stets an seinem Hof gewesen, und dann hatte er sie fortgeschickt.
Er würde dem Erzkaplan einen Brief diktieren und seine Tochter zurückholen. Was auch immer er in der Vergangenheit getan hatte, was auch immer die Zukunft brachte - erwünschte sich, dass seine Tochter während der kommenden Tage an seiner Seite stand.
Und dass sie ihm verzieh.
26.9.962 - Undervilz, zwei Tagesreisen nördlich der Hauptstadt
Undervilz war so unbedeutend und provinziell, wie der Name vermuten ließ. Eine Handvoll zweistöckiger Häuser aus Fachwerk, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie ein Dorf sein wollten oder ein Städtchen. Dennoch lag Undervilz im Einzugsgebiet der großen Metropole Horomeund am Ufer des gewaltigen Stroms, den die Bewohner am Oberlauf schlicht den »Rhod« nannten.
Dauras liebte solche Orte. Es verirrten sich genug Fremde hierher, dass es für seinen Lebensunterhalt reichte, und zugleich blieb es so ruhig, dass niemand ihn mit Dingen behelligte, die unter seiner Würde waren. Das war eine ganze Weile gut gegangen - jetzt aber saß Dauras der Schwertkämpfer an einem Tisch in der »Silberforelle«, über einen Krug dünnen Biers gebeugt, und fragte sich, ob es an der Zeit war, weiterzuziehen.
Es gab einen guten Grund, warum er noch darüber nachdachte: Der Wirt der »Forelle« kannte ihn, und Dauras genoss hier uneingeschränkten Kredit. Zudem passte das Hausperfekt zu seinen Geschäften. Es war keine dieser verrauchten Kneipen, in denen man kaum aufstehen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen. Der Gastraum war groß, mit langen Tischen und Bänken und mit viel lichter Weite unter der Decke. Dauras hatte lange nach einem Ort wie diesem gesucht, und er gab ihn nur ungern wieder auf.
Doch vielleicht musste er das gar nicht.
Zwei Männer traten in die Stube, und Dauras zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Er trug ein geschlitztes Wams ausgrünem Tuch und eine leichte helle Hose, dazu Stiefel aus weichem Leder - reisefeste und zugleich bequeme Kleidung von guter Qualität. Aber der Kapuzenmantel, den er darüber anhatte, war schäbig und fleckig und verbarg alles. Es war ein Umhang, in dem er aussah wie ein Landstreicher oder wie ein bäuerlicher Tagelöhner.
Er musterte die beiden, ohne den Kopf zu heben. Der eine war ein großer ungeschlachter Typ mit viel zu schweren Muskeln, die immer zu langsam reagieren und bei jedem Kampf nur im Weg sein würden. Sein schmächtiger Begleiter hielt klugerweise bereits eine gespannte Armbrust in der Hand, weil er sonst wohl ohnehin zu nichts zu gebrauchen war.
Dauras betrachtete prüfend ihre Ausrüstung: Kleidung, Waffen und ein etwas wahlloses Sammelsurium von Rüstungsteilen aus Eisen und Leder. Alles zusammen mochte etwa dreißig Goldmark einbringen. An baren Münzen im Säckeltrugen die Männer kaum mehr als ein paar Bronzemark. Armselig. Dauras nahm einen Schluck aus seinem Krug.
Zu dieser frühen Nachmittagsstunde saßen nicht viele Gäste in der »Forelle«. Die Einheimischen erhoben sich rasch, als die Fremden hereinkamen, andere Reisende waren klug genug, ihrem Beispiel zu folgen. Nur Dauras blieb sitzen und starrte in sein Bier.
Die beiden Neuankömmlinge bauten sich vor seinem Tisch auf. Der Muskelprotz stand direkt neben ihm, und Dauras roch dessen Schweiß und das fettige Leder. Der Kerl mit der Armbrust wartete zwei Schritte dahinter.
»He, du da«, hörte Dauras den Kräftigen sagen.
Er vernahm eine leichte Unsicherheit in der Stimme und grinste. Die Männer hatten sich ohne Zweifel vergewissert, dass er hier war, bevor sie die Schenke betraten. Aber die Kapuze verbarg sein Gesicht, und sie waren sich noch nichtsicher, ob er es war.
Sie wussten nichts über ihn.
»He, ich rede mit dir.« Der Große zog sein Schwert. Dauras hörte, wie der Stahl über das Leder schabte, er spürte die Bewegung vor seiner Stirn, nur durch eine Schicht dünnen fleckigen Tuchs von seiner Haut getrennt. Der Krieger schob Dauras' Kapuze mit der Schwertklinge nach hinten.
»Wohl taub, oder was?« Er legte die linke Hand unter Dauras' Kinn und zog den Kopf nach oben. »Schau mich gefälligst an, wenn ich ...«
Er erstarrte. Dauras wusste, was der Fremde in seinem Gesicht sah, obwohl er selbst es niemals so wahrnehmen würde. Doch man hatte ihm den Anblick oft genug beschrieben, seit er die Mauern des Klosters verlassen hatte: starre graue Augen, wie mit einem nebligen Schleier überzogen. »Die Augeneines Toten«, so hatte ein Söldner ihm einmal ins Gesicht gesagt.
»He, der ist blind!« Der muskelbepackte Krieger drehte sich zu seinem Gefährten um.
»Scheiße, kann nich' sein«, antwortete der Mickerling. Erhielt die kleine Armbrust mit einer Hand und nestelte mit der anderen ein Blatt Papier hervor.
Dauras atmete aus. Er packte den kräftigen Schwertkämpfer an beiden Handgelenken und riss ihn zur Seite. Mit dem Fuß sichelte er ihm die Beine weg. Der Mann taumelte nachhinten, auf seinen Begleiter zu und genau in die Schussbahn des Bolzens hinein, den der Armbrustschütze vor Schreck fliegen ließ. Das Geschoss traf den bulligen Schwertschwinger an der Schulter.
Dauras sprang auf. Er fing das Schwert, das dem Getroffenen aus der Hand fiel, setzte über den Stürzenden hinweg und stieß dem Schützen die Klinge in die Kehle, bevor der überhaupt bemerkt hatte, dass er seinen Bolzen längst verschossen hatte.
Der Mann ließ das Papier los, das er in der Linken hielt.
Er brach zusammen und wedelte dabei immer noch mit der nutzlosen Armbrust in Dauras' Richtung, die Finger um den Abzug verkrampft.
Dauras fuhr herum und hieb dem ersten Gegner die Klingein den Nacken.
Er atmete ein. Der Kampf war vorüber. Diese Männerwaren so langsam gewesen - so langsam wie alle Menschen, denen er jemals begegnet war. Verächtlich verzog Dauras das Gesicht.
Der Wirt lief herbei, ein freundlicher, schmächtiger Mannjenseits der fünfzig. Er rang die Hände. »Bitte, Herr!«, sagte er. »Nicht in meinem Gasthaus! Nicht immer in meinem Gasthaus!«
Mit geübten Bewegungen drehte Dauras die noch zuckenden Leichen auf den Rücken und pflückte alles von ihrem Körper, was einen Wert hatte.
»Was beklagst du dich bei mir, Wirt?«, knurrte er. »Sie haben mich zuerst angegriffen, oder nicht?«
»Aber nur, weil Ihr sie mit diesen Dingern zu Euch lockt!« Der Wirt wies auf das Blatt, das der Armbrustschütze im Augenblick seines Todes verloren hatte.
Dauras hob das Papier auf. Wie durch ein Wunder war kaum Blut darangekommen, man konnte es gut noch einmalverwenden. Die Steckbriefe waren teuer genug gewesen, und der Kupferstich darauf, so hatte er sich sagen lassen, sah ihm verblüffend ähnlich. Dauras bedauerte fast, dass er selbst niemals sehen würde, wofür er sein Geld ausgegeben hatte.
Er faltete den Bogen Papier sorgfältig zusammen und steckte ihn ein. »Mein Steckbrief lockt nur Kopfgeldjäger an, Abschaum, den niemand vermissen wird. Und es sind immer Fremde, die keiner hier kennt. Kein Einheimischer würde auf die Zettel reinfallen. Und am Ende landet das Geld in deiner Kasse. Also, was jammerst du herum?«
Dauras beeilte sich mit der Arbeit. Seine Sinne verrieten ihm, dass neue Gäste vorgefahren waren. Er wollte mit den Toten fertig sein, bevor sie hereinkamen. Nicht, um den Wirt zu schonen, sondern um die Hände und den Kopf freizuhaben für die Neuankömmlinge, wenn es sich als nötig erweisen sollte.
»Ich weiß, Herr. Und niemand hier will Euch verärgern.« Der Wirt senkte den Kopf. »Aber warum müsst Ihr dieseHalunken immer in meinem Haus erwarten? Die Toten sind nicht gut für mein Geschäft.«
»Dann rate ich dir, Wirt, schaff die Toten weg. Du wirst den Platz gleich für die Lebenden brauchen.« Dauras schob seine Beute unter den Tisch. Dann setzte er sich entspannt wieder vor den Bierkrug und zog die Kapuze tief in die Stirn. Seine Sinne jedoch waren bis zum Äußersten geschärft.
Die neuen Gäste auf der Straße vor dem Gasthaus waren von einem anderen Schlag als die beiden Kopfgeldjäger. Dauras spürte Stahl - eine Menge Stahl! Das waren nicht nur Waffen, er nahm auch Kettenhemden wahr, und Schilde an den gut bepackten Pferden. Zwanzig schwer bewaffnete Krieger versammelten sich um einen geschlossenen Wagen, aus dem zwei Frauen stiegen.
Dauras fühlte durch die Mauern, wer die Herrin war - ein zierliches junges Mädchen, das sich leicht bewegte, obwohles bedrückt wirkte und Gewänder trug, die ein wenig zu zweckmäßig waren für jemanden von hohem Stand. Ihre Begleiterin war älter und schwerfälliger, eine Magd vermutlich.
Die Tür sprang auf, die Schar drängte herein. Der Wirt, der sich gerade mit zwei Burschen um die Leichen kümmerte, fuhr überrascht auf.
»Eh, Wirt«, rief der Anführer der Neuankömmlinge. Leder und Kettenringe knirschten, wenn er sich bewegte, und seine Ausstrahlung verriet den erfahrenen Krieger. Ein Ritter, schätzte Dauras, und gewiss schon über vierzig.
»Ein Zimmer für die Dame. Und Platz für meine Männer ... was ist denn das?«
Er hatte die toten Kopfgeldjäger erspäht.
Der Wirt eilte auf ihn zu und nahm den grau gefleckten Lappen in die Hand, den er sich als Kopftuch um die schwitzende Stirn gebunden hatte. »Verzeiht den Anblick, Herr«, sagte er eilfertig. »Zwei auswärtige Herumtreiber, die mit dem falschen Gast Streit gesucht haben. Ich versichere Euch, wir sind für alle ehrbaren Besucher ein sicheres Haus.«
»Der falsche Gast, so, so«, wiederholte der alte Ritter. Sein Blick wanderte zu Dauras und blieb an dem schäbigen Umhang haften. »Auf den ersten Blick hätte ich eher den für einen auswärtigen Herumtreiber gehalten.«
Ein paar der Krieger aus der Schar hinter ihm schnaubten abfällig. Dauras hörte sogar ein leises Kichern unter den Männern. »Bauer gegen Bettler«, murmelte ein Jüngling, den Dauras für einen Knappen hielt. »Welch epische Schlachtenhier geschlagen werden.«
Ganz im Hintergrund der fremden Schar bemerkte Dauras allerdings ein Augenpaar, das sich mit neu erwachtem Interesse in seine Richtung wandte, eine kleine schmale Gestalt, die sich streckte, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.
Die junge Dame, die mit den Rittern gekommen war.
Die Reisegesellschaft nahm eine große Tafel in Beschlag. Ein halbes Dutzend Krieger hockten sich abseits der übrigen an einen Tisch bei der Tür. Der Wirt ließ auftragen, und Dauras lauschte den Gesprächen beim Essen. Die Männer lärmten und scherzten, aber wann immer persönliche Dinge zur Sprache kamen, das Ziel ihrer Reise oder der letzte Ort, an dem sie gewesen waren, herrschte der alte Ritter sie an, und siewechselten zu unverfänglicheren Themen. Die junge Dame saß still zwischen ihnen, neben dem alten Ritter und ihrer Magd, und kritzelte etwas auf ein Stück Papier.
Diese Reisenden hüteten ein Geheimnis, so viel war klar. Aber sie hüteten es gut und gaben auch nichts davon preis, nachdem sie gespeist hatten und der Wirt Bier und Weinauftrug. Dauras überlegte, ob er gezielter nachforschen sollte. Er entschied sich dagegen. Die banalen Geheimnisse der Menschen interessierten ihn nicht. Es gab so viele Heimlichkeiten den Fluss hinauf und hinunter, wenn er allen hinterherjagen wollte, würde er ordentlich seine Zeit verschwenden.
Dann löste die Gesellschaft sich auf. Die Dame gab ihren Begleitern zu verstehen, dass sie sich zurückziehen wolle, und ein größerer Tross setzte sich in Bewegung. Der alte Ritter und ein gutes halbes Dutzend seiner Männer geleiteten die junge Herrin nach oben zu ihrem Zimmer. Sie kamen an Dauras' Tisch vorbei, und er bemerkte eine verstohlene Geste. Die Dame streifte mit den Fingern über die Tischplatte und ließ einen kleinen zusammengeknüllten Zettel darauf zurück.
Dauras nahm das Papier an und strich es glatt, während der Rest der Schar an ihm vorüberging. Er schnaubte belustigt, und mit einem Mal war ihm danach, die Dinge ein wenig in Bewegung zu bringen.
Er hielt das Papier in die Höhe. »He«, rief er. »Ich glaube, die Dame hat etwas verloren.«
Der Zug hielt inne. Dauras spürte, wie die junge Damezwischen den Männern zusammenzuckte, erschrocken, verlegen, fassungslos. Ihr Herz pochte rascher, und das Blut schoss ihr ins Gesicht.
Dauras genoss den Augenblick, der mehr Unterhaltung versprach als die üblichen tumben Kopfgeldjäger.
»Was willst du, Bauer?« Der Knappe am Ende der Scharwandte sich um. Er konnte kaum dem Knabenalter entwachsen sein, aber dem Auftreten nach hielt er sich für einen Mann, und zwar für einen großen.
»Gib her, den Fetzen. Und wenn du uns belästigen willst ...«
Der Jüngling streckte die Hand aus, doch Dauras zog das Blatt zurück. Er reichte es dem Wirt, der eifrig zu den Herrschaften hinlief.
»Hier, Wirt ...« Er konnte sich den Namen des Mannes einfach nicht merken, obwohl er schon seit einem halben Jahr unter dessen Dach logierte. »Lies vor!«
»Herr ...«, stammelte der Wirt. Er warf einen entschuldigenden Seitenblick zu den anderen Gästen, aber Dauras wusste, dass der Mann es nicht wagen würde, sich seinem Befehl zu widersetzen.
Der junge Knappe wandte sich an seinen Anführer. »Dieser Herumtreiber hat eine Tracht Prügel verdient, was meint Ihr, Herr?«
Der alte Ritter antwortete nicht. Sein Blick glitt von der Dame zu dem Wirt und weiter zu Dauras, der sich unter seinem schäbigen Kapuzenumhang verbarg. Dauras wusste, der erfahrene Krieger fing etwas auf, was dessen Aufmerksamkeit weckte. Er war klug genug, die Sache ernst zu nehmen, auch wenn er nicht wusste, was er davon halten sollte.
»Hier steht ...«, stammelte der Wirt und verstummte.
»Was ist, Mann?«, herrschte Dauras ihn an. »Erzähl mir nicht, dass du plötzlich das Lesen verlernt hast.«
»Hier steht ...«, fuhr der Wirt tonlos fort. »Helft mir. Ich werde entführt.«
Die Zeit schien so träge zu fließen wie das Abwasser aus den Kloaken der Hauptstadt.
»Was bedeutet das?« Die Stimme des Knappen drang durch die Stille. Er riss dem Wirt das Papier aus der Hand, warf aber keinen Blick darauf. Vermutlich konnte der Jüngling genauso wenig lesen wie Dauras selbst. »Ist das eins von diesen Spielen bei Hofe, von denen man so viel hört? Oder will der Landstreicher die hohe Dame in Verlegenheit bringen?«
Dauras spannte sich an. Es war an der Zeit, die Sache zu beenden, wenn er sich nicht in etwas hineinziehen lassen wollte. Konnte er die Sache überhaupt noch beenden, ohne in etwas hineingezogen zu werden?
Bislang hatte keiner der fremden Krieger eine Waffe gezogen. Sie mochten zornig sein, verwirrt, aber sie waren unentschlossen und fühlten sich nicht bedroht. Sie vertrauten auf ihre Zahl und auf ihre Waffen.
Dauras entschied, dass er eine bessere Gelegenheit nichtmehr bekommen würde.
Sein Schwert lehnte neben ihm an der Bank. Er griff danach und sprang auf. Er riss die Klinge in einem Bogen hoch. Sie fuhr dem Knappen in den Oberschenkel und ging durch bis auf den Knochen.
Dauras stand im Gang und schob den Jüngling zur Seite. Schmatzend glitt der Stahl aus dem Fleisch. Dauras trat dem nächsten Mann kraftvoll gegen das Schienbein, und das Knie sprang aus dem Gelenk. Dem Mann daneben trieb er die blutverschmierte Klinge ins Bein und durch die Arterie. Er tat einen Satz über die stürzenden und blutenden Kriegerhinweg und zog dem einen im Vorübergehen einen Dolch aus dem Gürtel.
Erst jetzt fand der Knappe, der zuerst verletzt worden war, die Zeit für einen Schrei.
Dauras' Gegner trugen Kettenhemden. Die Rüstung hätte seine Schwertklinge behindert. Aber der Dolch in seiner Hand war schmal genug, und Dauras stieß seinem vierten Gegner die Klinge durch die Eisenringe hindurch ins Herz. Dem nächsten Gegner stach er das Schwert so kraftvoll durch die Kehle, dass er den Mann dahinter noch ins Auge traf. Es war kein Zufall, er hatte den Stoß so präzise geführt.
Er ließ sein Schwert los und griff nach der Waffe des Mannes, der mit dem Dolch im Herzen dastand, obwohl er schon tot war. Es war den Rittern schwer gefallen, ihre Waffen zuziehen. Der enge Gang zwischen den Tischen behinderte sie. Aber Dauras vollendete mühelos die Bewegung, die der Besitzer des Schwertes nie mehr fortführen würde.
Er sprang über einen der Tische, vorbei an der Dame, die den Zettel geschrieben hatte und die jetzt wie erstarrt inmitten der fallenden Leiber stand.
Im selben Schwung hieb er dem nächsten Krieger die Klinge in den Hals, umfasste mit der Linken dessen Hand und streckte mit der Waffe darin dessen Nachbarn nieder.
Jetzt stand nur noch der alte Ritter vor ihm. Dauras hatte für den Weg durch all die Männer nicht länger gebraucht, als ein normaler Krieger brauchte, um sein Schwert zu ziehen. Der Ritter hielt seine Waffe in der Hand - Dauras war trotzdem schneller. Er rammte ihm das Schwert mit einem wuchtigen Stoß durch das Kettenhemd und in die Brust, bevor der Ritter zum Hieb ausholen konnte.
Dann hielt er inne.
Die Hälfte seiner Gegner war tot, die übrigen wanden sich mit zerschlagenen Beinen hilflos am Boden. Die Gaststube war erfüllt von ihren Schreien. Blut sprudelte aus den Oberschenkelwunden wie Wein aus einem aufgeschlagenen Fass.
Die junge Dame verharrte immer noch wie gelähmt in dem Durcheinander. Dauras fasste sie an den Hüften und hob sie auf eine Bank, ehe die Lache aus Blut ihre Füße erreichte. Beiläufig nahm er die feinen Pelzstiefelchen wahr, die sie trug. Er packte sein eigenes Schwert. Die Klinge hatte sich in der Augenhöhle verkantet und ließ sich nur widerstrebend wieder herausziehen.
Er schritt in den vorderen Teil der Gaststätte.
Die Krieger, die dort noch saßen, griffen zu den Waffen. Mit aufgeregten Rufen sprangen sie auf und stellten sich neben die Tische. Es waren mehr Männer übrig, als Dauras bereits besiegt hatte. Aber fünf von ihnen wichen zurück, als er auf sie zuging, bis zur Türe, und dann flohen sie hinaus auf die Straße. Es waren dieselben fünf, die zuvor schon abseits der anderen gesessen hatten.
Dauras stieß einen Schrei aus. Er stürmte auf die letzten sechs an der großen Tafel zu. Einer hob erschrocken das Schwert und stellte sich ihm entgegen. Dessen Kameradendahinter suchten das Weite, noch bevor Dauras den Mann erschlagen hatte.
Es wurde still in der Gaststube. Dauras drehte sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Zu langsam, dachte er. Sie sind einfach alle zu langsam!
Er fühlte einen Hauch von Hochgefühl nach dem gewonnenen Kampf, doch es lag auch eine bittere Note darin. Enttäuschung.
Er bedauerte es beinahe, dass er seinen Gegnern nicht die Zeit gegeben hatte, sich auf den Kampf vorzubereiten. Hätte er sie alle dann genauso besiegt, in einem offenen Kampf?
Vielleicht hätte er es darauf ankommen lassen sollen.
Seine Sinne erfassten die stumme Präsenz des Wirts, und er hielt inne. Der Mann wirkte aufgebrachter denn je, aber auf eine ruhige Art. Erschüttert. Steif lehnte er inmitten des Gemetzels an einem Tisch, nicht weit von der immer noch reglosen Dame entfernt.
Dauras fuhr den Mann an: »Willst du mir wieder Vorhaltungen machen? Du hast es gehört: Die Dame wurde entführt. Ich habe ihr nur geholfen!«
Seine Worte rissen den Wirt aus der Benommenheit. Langsam wandte er sich Dauras zu. Seine Stimme zitterte.
»Nein, Herr ...« Der Wirt räusperte sich. Er rang die Hände. »Wenn Ihr nur sehen könntet!«
Dauras stieß einen verächtlichen Laut aus. »Ich sehe besser als jeder andere, Wirt. Und ich brauche keine Augen dafür. Frag diese Krieger da, wenn du an meinen Worten zweifelst.«
»Ihr seht es nicht!« In der Stimme des Wirtes lag ein Entsetzen, das selbst Dauras innehalten ließ. »Diese Männer, sie trugen Wappen und Farben. Die Soldaten, die geflohen sind, trugen die Farben des Kaisers! Diesmal, Herr, seid Ihr zu weit gegangen.«
Zu weit gegangen.
Zwei Wegstunden entfernt auf einer menschenleeren Heide dachte Dauras über diese Worte nach.
Dauras wusste, dass viele seiner Feinde überlebt hatten. Er war kein Risiko eingegangen und hatte die Silberforelle sofort verlassen. Die Dame - besser gesagt: das Mädchen - folgte ihm so willenlos wie eine Puppe, sobald er sie an der Hand nahm. Niemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt.
Im Stall hatte er unter den Pferden seiner Feinde die besten herausgesucht. Doch dann hatte das Mädchen überraschend zwei bessere gewählt. Sie war weit geschickter auf dem Pferd als er und erwies sich nicht als Bürde, während sie nach Westen ritten, fort von dem Fluss und hinein in das spärlich besiedelte Hinterland.
Dauras war nicht allzu besorgt wegen der entkommenen Krieger. Allerdings wollte er Abstand gewinnen und an einemsicheren Platz alles Weitere überdenken.
Das Tageslicht reichte noch eine Wegstunde, eine weitere Stunde ritten sie durch Dämmerung und Dunkelheit. Jetztwaren sie hier, in einem öden Streifen Brachland zwischen den Dörfern. Sie hockten in einer Kuhle unter den herabhängenden Ästen des einzigen Baumes weit und breit, und Dauras stocherte in dem kleinen Feuer, das er aus den Resten vertrockneten Buschwerks entfacht hatte.
Das Mädchen hatte die ganze Zeit kein Wort gesprochen. Aber Dauras wollte wissen, worauf er sich da eingelassen hatte.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Daniel Loy
- 2013, 494 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404207246
- ISBN-13: 9783404207244
- Erscheinungsdatum: 19.07.2013
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