Das Totenschiff von Altona
Das Totenschiff vonAltona von Virginia Doyle
LESEPROBE
Vorüber, ach vorüber
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh lieber
Und rühre mich nicht an.
Matthias Claudius
Prolog :- HAFEN IM NEBEL Sie erwachte von denBöllerschüssen, die, vom Nebel gedämpft, über die Elbe hallten. Voller Angsthielt sie die Augen geschlossen, den Kopf in den Armen vergraben. Ein kalterWindhauch fuhr über sie hinweg. Sie fröstelte. War das ihr Körper, von dem eindumpfer Schmerz ausging? Er signalisierte ihr, dass sie noch lebte. War siedenn wirklich nicht tot? Die Erkenntnis, noch da zu sein, durchfuhr sie wie einSchock. Sie krümmte sich zusammen. Nun konnte es also doch noch schlimmerkommen!
Sie hörte ein lautes Stöhnen undmerkte dann, dass sie selbst diesen Laut ausgestoßen hatte. Noch immer wagtesie nicht, den Kopf zu heben. Aber sie horchte. Sie hörte ein Flattern wie voneinem Fähnchen im Wind. Sie hörte das Knarren von Holz und Seilen, ein Schaben,leises Quietschen, Gurgeln, ein regelmäßiges Schwappen. Dann einen fernenSchrei, irgendwo dort oben, wo der kalte Hauch herkam. Wer schrie da?
Plötzlich war da wieder dieserschreckliche Geruch. Die Ausdünstung des Todes, die sie so lange ertragenhatte, dass sie inzwischen schon ganz abgestumpft dagegen war. Aber jetzt war dieserGestank schlimmer als je zuvor. Er kam von unten. Ein bestialischer Geruch nachFäulnis und Zerfall. Ein plötzliches krampfartiges Unwohlsein wallte in ihrhoch.
Wieder Böllerschüsse in der Ferne.Dann hörte sie erneut den Schrei der einsamen Möwe. Eine Möwe? Sie hob denKopf. Wo Möwen waren, da war Land. Sollte diese schreckliche Reise endlichvorbei sein? Warum erlöste sie niemand aus ihrem Albtraum und rief: «Land inSicht!»?
Sie setzte sich auf. In ihrem Magenrumorte es. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie rochen nach Teer. Einwundervoller Geruch. Sie sog ihn ein. Sie rieb mit den Handflächen über ihrGesicht. Hier und da schmerzte es. Sie spürte Schorf und wunde Stellen.
Ein frischer Lufthauch trug ihr denGeruch von Gras zu. Endlich traute sie sich, die Augen zu öffnen. Ich binblind, dachte sie. Ein Lächeln quälte sich über ihr Gesicht: Oh, wie gut, dassich blind bin! Doch dann nahm sie unscharfe Konturen wahr. Um sie herum waralles schwarz, aber sie konnte graue Schemen erkennen. Nebelschwaden zogen überdas Schiff hinweg. Jetzt konnte sie einen Teil des Großmastes erkennen. DasGroßmastsegel samt Rah und Pardunen war heruntergekommen, nachdem der Fockmastumgeknickt und dagegen gefallen war. Sie saß inmitten eines Gewirrs aus Takelagen,zerfetzten Wanten, zerschmetterten Fässern, kaputten Kisten und zersplittertemGestänge.
Sie stellte fest, dass sie einenMantel trug. Der schwere Stoff roch tranig, nach würzigem Tabak undMännerschweiß. Es war ein guter Geruch, ein Geruch, der sie schützte. Unter demMantel war sie nackt. Aber das war normal, wenn man gerade der Hölle entkommenwar.
Sie versuchte aufzustehen undknickte sofort wieder ein. Ihre Knie schmerzten, ihre Oberschenkel schienen vontausend Nadeln durchstochen, die nackten Füße zerschnitten. Auf dem Rückenspürte sie ein Brennen, als würden frisch verheilte Wunden aufplatzen. Siefasste nach einem Tau und zog sich ächzend hoch. Ein kalter Windstoß ließ ihreHaare flattern.
Wo sind die anderen?, fragte sie sich. Einen Moment lang bildete sie sich ein,jemand würde nach ihr rufen, aber es war wieder nur die einsame Möwe, die sichmitten in der Nacht im wabernden Nebel irgendwo auf diesem zerrütteten Schiffniedergelassen hatte, um gelegentlich klagende Laute von sich zu geben. Dannentdeckte sie die erste Leiche, einen bärtigen Mann, der keine Augen mehrhatte. Er lag auf einem wirren Haufen aus Tauen und Segeltuch. Nicht weit vonihm entfernt fand sie eine Frau, mit dem Gesicht auf den Planken liegend, untersich die Leiche eines Kindes. Zwei Schritte weiter einen jungen Mann, dem einMesser aus dem Bauch ragte, dann einen Alten, dessen Vollbart blutdurchtränktwar. Sie sah Matrosen in grotesken Todesstellungen, die ans Ruder gebundene Leichedes Steuermanns und weitere Passagiere, von denen manche in Ecken lagen, wo sieoffenbar auf den Tod gewartet hatten.
Sie kletterte über die Toten, denUnrat und die zerstörten Aufbauten zum Heck. Plötzlich schreckte sie zusammen.Direkt neben dem Schiff dröhnte ein Böllerschuss. Sie wollte zur Reling laufenund rufen, blieb jedoch abrupt stehen und starrte zum Besanmast. Sie begann amganzen Körper zu zittern, grässliche Laute wollten durch ihre verschnürteKehle nach draußen und blieben auf halbem Weg stecken.
Der Kapitän! Sie hatte den Kapitänentdeckt. Er stand kerzengerade und in voller Uniform am Besanmast. Seinschneeweißer Schnurrbart war korrekt gezwirbelt, die Koteletten gekämmt, dasschüttere Haupthaar klebte gut gescheitelt am Kopf. Seine Mütze war nirgends zusehen. Dafür ragte aus der Stirn ein dicker langer Nagel. Der Kapitän der«Anastasia» war an den Mast genagelt worden!
Ein heftiger Ruck ging durch dasSchiff, sie hörte lautes Knirschen und Schaben. Sie verlor das Gleichgewichtund fiel auf die feuchten Planken. Kaum lag sie da, begann sie zu zucken. Dannentrangen sich ihrer Brust verzweifelte Schreie.
Sie schrie immer noch, als sich ihrplötzlich ein Schatten näherte. Er stolperte über den Unrat, der an Bordherumlag, strauchelte, kam näher. Sie blickte auf. Die Schreie blieben ihr inder Kehle stecken. Über ihr stand ein Husar in weiß-roter Uniform. Ein Soldat?Ein Retter? Sie wollte etwas sagen, aber ihre Stimme versagte. Er beugte sichzu ihr herunter, packte sie, warf sie grob über seine Schulter und trug sie vonBord.
Sie verlor das Bewusstsein.
Das Totenschifftrieb weiter durch den Nebel, stieß gegen einen Frachtkahn und drohte einenEwer zu versenken, der ihm unter den Bug geraten war. Dabei erst wurde dasSchiff von einem Beamten der Hafenaufsicht bemerkt. Er holte Verstärkung. Diefreiwilligen Helfer schufteten stundenlang, um den Dreimaster so weit zusichern, dass er, trotz der in den Hafen drängenden Wassermassen, kein Unheilmehr anrichten konnte.
Die Herren von der Criminal-Polizei kamen erst bei Tageslicht, als die Flutschon wieder zurückgegangen war und nur einige Pfützen mit Elbwasser auf derUferstraße hinterließ. Der Nebel wurde bei Tagesanbruch von einer leichtenBrise zerweht. Im fahlen Licht eines nasskalten Aprilmorgens fanden die Polizistennicht nur den Kapitän am Besanmast und diverse an Deck liegende Leichen,sondern auch zweihundert Tote im Zwischendeck. ( )
© Rowohlt Verlag
- Autor: Virginia Doyle
- 2007, 6. Aufl., 288 Seiten, Maße: 11,6 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499231530
- ISBN-13: 9783499231537
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