Das Zauberlied
Buenos Aires 1946: Der Stadtteil Hurlingham ist englischer als England selbst. Dort verbringt die attraktive Audrey Garnett eine sorglose Jugend in Reichtum und Luxus. Ihr Herz gehört dem begnadeten Pianisten Louis, mit...
Buenos Aires 1946: Der Stadtteil Hurlingham ist englischer als England selbst. Dort verbringt die attraktive Audrey Garnett eine sorglose Jugend in Reichtum und Luxus. Ihr Herz gehört dem begnadeten Pianisten Louis, mit dem sie heimlich die Nächte durchtanzt. Eine Familientragödie zwingt Audrey jedoch in die Ehe mit einem anderen Mann. Sie muss Argentinien verlassen und zieht nach England. Zurück bleibt Louis, der seiner großen Liebe eine zauberhafte Melodie komponiert. Eine Melodie, die Raum und Zeit zu überwinden scheint...
Das Zauberlied von SantaMontefiore
LESEPROBE
Prolog
England
Herbst 1984
Der Himmel warbeinahe zu schön für einen Tag wie diesen. Ein Oktoberhimmel, der die darunterliegende Landschaft mit einem blendend goldenen Strahlen segnete, als hätteGott der Herr persönlich die herbstlichen Bäume und sauber gepflügten Äcker mitLicht übergossen, um diesen herrlichen Tag der Vergänglichkeit auszuzeichnen.Kräftige Streifen in Flamingorosa und Blutrot überzogen den Himmel,
um ihn soeindrucksvoll wie möglich zu gestalten, während die sterbende Sonne langsam wieLava herabsank und mit dem Abenddunst am Horizont verschmolz. Die Natur feierteihren Triumph, was der demütigen Seele Cecil Forresters nicht angemessenerschien.
Grace war dieeinzige von Cecil Forresters Töchtern, die auf seinem Begräbnis nicht weinte.
Alicia weinte. Sieweinte mit dem gleichen Gespür für Theatralik, das auch jeden anderen Aspektihres Lebens kennzeichnete, so als stünde sie stets auf der Bühne, ihr schönesGesicht immer im Rampenlicht. Sie weinte glitzernde Tränen und schluchzte so anhaltend,dass ihre schwarz behandschuhten Hände zitterten, wenn sie sich mit ihrembestickten Taschentuch die Wangen tupfte. Sie gab sorgfältig Acht, dass ihr zurSchau gestellter Schmerz nicht ihre Züge verzerrte, drückte ihre Gefühlevielmehr mit einem lieblichen Zittern der Unterlippe und mit der anmutigenNeigung ihres Kopfes aus, das Gesicht reizvoll
verborgen hinterdem an der Hutkrempe befestigten zarten schwarzen Schleier.
Auch Leonoraweinte leise. Nicht um den Vater, den sie verloren hatte, sondern um den Vater,den sie nie besaß. Der Mann dort im Sarg hätte ebenso gut ein Fremder seinkönnen, ein entfernter Onkel vielleicht oder ein alter Lehrer. Mehr Nähe hatteer ihr nie zugestanden. Sie blickte zu ihrer jüngeren Schwester hinüber, dieungerührt zusah, wie der Sarg in die ordentlich ausgehobene Grube in der Erdegesenkt wurde, und fragte sich, wieso diese überhaupt keine Gefühle zeigte,obwohl sie doch von ihnen dreien am meisten Grund zur Trauer hatte.
Grace war überzehn Jahre jünger als ihre Schwestern, die Zwillinge. Im Gegensatz zu ihrenGeschwistern, die im zarten Alter von zehn Jahren zur Ausbildung nach Englandgeschickt worden waren, wuchs Grace in dem grünen englischen Vorort Hurlinghamin Buenos Aires auf. Doch nicht der Altersunterschied war schuld daran, dass sie sie kaum zu kennenglaubten, auch nicht die vielen Jahre der Trennung, die eine unüberwindlicheMauer zwischen ihnen aufgerichtet hatten, sondern die Tatsache, dass Grace soanders war. Wie die Elfen ihrer Kinderzeit war sie nicht zu greifen, nicht vondieser Welt. Alicia meinte, ihr ätherisches Wesen wäre dem Umstandzuzuschreiben, dass ihre Mutter sie nicht losließ und sie verwöhnte, nachdemsie vorher so sehr unter der Trennung von den Zwillingen gelitten hatte
und allein undverloren zurückgeblieben war. Leonora aber stimmte ihr nicht zu. Grace war ebenso. Ihre Mutter hatte recht getan, sich nicht von ihr trennen zu lassen. Gracewäre in den kalten englischen Schulen, in denen sie selbst Tränen des Heimwehsin harte Kissen geweint hatte, wie eine wilde Wiesenblume verwelkt.
Grace sah unbewegtzu, wie der Sarg unter dem übertriebenen, um der dramatischen Wirkung willendeutlich vernehmbaren Schluchzen und Schniefen ihrer Schwester in die Erdeherabgelassen wurde. Sicher war es verlockend, sich an einem solchspektakulären Abend, unter diesem prachtvollen Himmel in dieser Weise in Szenezu setzen. Grace verurteilte sie nicht deswegen. Sie sah nur heiter zu, wohlwissend, dass ihr Vater nicht in diesem Sarg lag, wie alle glaubten. Sie wusstees, weil sie gesehen hatte, wie sein Geist im Augenblick des Todes seinenKörper verließ. Er hatte sie angelächelt, als wollte er sagen: »Du hattest alsovon Anfang an Recht, Grace.« Begleitet von seiner verstorbenen Mutter undseinem Lieblingsonkel Errol war er in die andere Dimension hinübergeschwebt undhinterließ nichts als einen verwelkten Leichnam. Grace war es leid, ihnen dieWahrheit zu berichten. Schließlich würden sie es ja selbst erfahren, wenn siean der Reihe waren abzutreten. Sie richtete den Blick auf ihre Mutter nebenihr, deren Gesicht eine Mischung aus Schmerz und Erleichterung verriet, undgriff nach ihrer Hand. Dankbar drückte Audrey die Finger ihrer Tochter. ObwohlGrace jetzt eine junge Frau war, besaß sie doch eine Reinheit und Unschuld, diesie noch immer wie ein Kind erscheinen ließen. Für Audrey würde sie immer einKind bleiben.
Für Audrey warGrace etwas Besonderes. Seit dem Augenblick ihrer Geburt im Krankenhaus inBuenos Aires wusste Audrey, dass Grace anders war als ihre übrigen Kinder.Alicia war mit der ihr eigenen Ungeduld schreiend auf die Welt gekommen, undLeonora folgte ihr unterwürfig und zitternd angesichts der großen Unsicherheit,die sie erwartete. Doch Grace war anders. Ohne Umstände war sie aus dem kleinenKörper ihrer Mutter geschlüpft, wie ein zufriedener Engel, und hatte mit einemwissenden Lächeln auf ihren rosigen Lippen zu ihr aufgeblickt, mit einersolchen Zuversicht, dass der Arzt vor Verblüffung erst errötete und dann inaschfahlem Schrecken erstarrte. Doch Audrey war nicht überrascht. Grace war einHimmelswesen, und Audrey liebte sie mit einer Heftigkeit, die sie fasterstickte. Sie drückte das winzige Baby an ihre Brust und blickte ehrfürchtigin das durchscheinende Gesichtchen, unverkennbar das Gesicht eines Engels.
Für Audrey warGrace eine ihr von einem mitleidigen Gott erwiesene Gnade. Ihr Haar war einwilder Heiligenschein unzähmbarer blonder Locken, und ihre Augen waren wie eintiefer grüner Fluss, der die Geheimnisse der Welt in seinen Tiefen barg.
Grace bezaubertedie Menschen und machte ihnen gleichzeitig Angst, denn sie schien sie zudurchschauen, als würde sie sie besser kennen als diese selbst. Keinen aberbeängstigte sie so sehr
wie ihren eignenVater, der sein Bestes tat, um den Kontakt mit diesem Wesen, so fremd, als kämees von einem anderen Universum, zu vermeiden. Sie besaß keinen seiner Vorzüge,keine seiner körperlichen Eigenheiten und war immun gegen seine Willenskraftund die Gewalt seines Zorns. Sie lächelte lediglich belustigt, als begriffe siesein Wesen und die Gründe, warum er dieses ständig bekämpfte. Er hatte sie nieverstanden, jedenfalls nicht bis kurz vor seinem Tod. Daher hatte er nach allihren Differenzen plötzlich genauso gelächelt wie sie, wissend, beinahe selbstzufrieden,und sie mit seiner Liebe umfangen. Dann war er gestorben, mit diesem fremdenLächeln auf dem Gesicht, das er zu Lebzeiten nie gezeigt hatte. Audrey ließ dieHand ihrer Tochter los, trat vor, den silberhaarigen Kopf erhoben mit einerWürde, die ihr über viele wild bewegte Jahre hinweggeholfen hatte, und warfeine einzelne weiße Lilie ins Grab. Sie flüsterte ein hastiges Gebet und hobdann den Blick zur untergehenden Sonne hinter den Bäumen, die lange Schattenüber den Friedhof warfen. Es war in diesem Augenblick, als ihre Gedankenabschweiften und sehnsuchtsvoll zurück in eine Zeit glitten, als die Liebegeblüht hatte wie die Jacarandabäume. Jetzt war sie alt und würde nie wiederlieben - jedenfalls nicht auf die Art, wie sie in ihrer Jugend geliebt hatte.Vor dem düsteren Grab ihres Mannes gab Audrey endlich der Macht ihrer Erinnerungennach und sah sie wie Geister vor ihrem inneren Auge aufsteigen.
Sie schütteltenihre Fesseln ab, und plötzlich war Audrey wieder ein junges Mädchen, und ihreTräume waren glänzend und neu und voller Versprechungen.
© Droemer/Knaur
Übersetzung:Elisabeth Hartmann
- Autor: Santa Montefiore
- 2005, 536 Seiten, Maße: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Dtsch. v. Elisabeth Hartmann
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426661497
- ISBN-13: 9783426661499
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