Das zweite Königreich
Die historische Schlacht von Hastings wird zum Hintergrund einer spannenden Geschichte um Gunst, Liebe und Hass.
England, 1064: Nach einer Verletzung wird Cædmon of Helmsby von seinem Vater in die Normandie abgeschoben. Von dort...
England, 1064: Nach einer Verletzung wird Cædmon of Helmsby von seinem Vater in die Normandie abgeschoben. Von dort...
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Produktinformationen zu „Das zweite Königreich “
Die historische Schlacht von Hastings wird zum Hintergrund einer spannenden Geschichte um Gunst, Liebe und Hass.
England, 1064: Nach einer Verletzung wird Cædmon of Helmsby von seinem Vater in die Normandie abgeschoben. Von dort kehrt er zwei Jahre später im Erobererheer von Herzog William nach England zurück. Die Schlacht von Hastings macht William zum König und lässt Cædmon zwischen die Fronten geraten. Er wird zum Vermittler zwischen Eroberern und Besiegten. Damit macht er sich mächtige Feinde. Doch er steht immer in der Gunst des Königs. Bis William von der normannischen Frau erfährt, die Cædmon liebt.
England, 1064: Nach einer Verletzung wird Cædmon of Helmsby von seinem Vater in die Normandie abgeschoben. Von dort kehrt er zwei Jahre später im Erobererheer von Herzog William nach England zurück. Die Schlacht von Hastings macht William zum König und lässt Cædmon zwischen die Fronten geraten. Er wird zum Vermittler zwischen Eroberern und Besiegten. Damit macht er sich mächtige Feinde. Doch er steht immer in der Gunst des Königs. Bis William von der normannischen Frau erfährt, die Cædmon liebt.
Lese-Probe zu „Das zweite Königreich “
Das zweite Königreich von Rebecca Gablé1. BUCH
Dann erschien in ganz England ein Zeichen am Himmel, wie man es nie zuvor gesehen hatte. Manche sagten, es sei der Stern Comet, den man den »langhaarigen« Stern nennt, und er leuchtete eine ganze Woche lang Nacht für Nacht.
Angelsachsenchronik, 1066
Helmsby, März 1064
... mehr
»Bei Gott, was für ein Treffer, Caedmon! Wer so mit einer Schleuder umgehen kann wie du, kann seinen Bogen getrost verfeuern.« Dunstan klopfte seinem jüngeren Bruder so kräftig auf den Rücken, dass dieser sich unauffällig mit der Linken auf den Sattelknauf stützte.
Caedmon strahlte, glitt aus dem Sattel und lief die fünfzig oder sechzig Schritte, die ihn von seiner erlegten Beute trennten. Es war ein einjähriger Rehbock. Er lag reglos auf der Seite, auch die Vorderläufe zuckten nicht mehr. Sein braunes Auge starrte in den weißgrauen Himmel hinauf, der noch weitaus mehr nach Winter denn nach Frühling aussah. Auch der Waldboden unter Caedmons dünnen, knöchelhohen Lederschuhen fühlte sich noch hart an. Die alten, dicht stehenden Bäume zeigten nicht den leisesten Hauch von Grün, aber die ersten verwegenen Narzissen blühten im struppigen Gras des Vorjahres.
Dunstan war ebenfalls abgesessen und trat zu seinem Bruder. »Meisterhaft«, wiederholte er und nickte nachdrücklich. »Mitten zwischen die Augen. Ich wette, er war schon tot, ehe er umfi el. Wie machst du das nur?«
Der Junge hob unbehaglich die Schultern und winkte verlegen ab. Dunstan war sechzehn, zwei Jahre älter als er, und für gewöhnlich sehr sparsam mit seinem Lob. »Ich weiß nicht. Ich ... seh' auf den Punkt, den ich treffen will, und hör' auf das Singen der Schleuder über meinem Kopf. Und dann ...«
Dunstan verpasste ihm eine Kopfnuss der eher sanften Sorte. »Ja, ja. Erspar mir den lehrreichen Vortrag.«
Aber du hast gefragt, dachte Caedmon verständnislos.
»Jetzt ist jedenfalls endlich Schluss mit dem verf uchten Pökelfleisch«, bemerkte Dunstan zufrieden, beugte sich über den Bock und band ihm mit einer dünnen Lederschnur die Läufe zusammen. Dann sah er stirnrunzelnd auf. »Was ist? Hilfst du mir, oder hast du Angst, dass dir schlecht wird, wenn du Blut siehst?«
Caedmon seufzte verstohlen, zückte sein Jagdmesser und setzte es dem Bock an die Halsschlagader. Er vermied es, in das tote braune Rehauge zu sehen.
Wenig später waren sie auf dem Heimweg. Der ausgeblutete Bock lag vor Caedmon über dem Sattel, und das stämmige, gedrungene Pferd trug die doppelte Last ohne erkennbare Mühe. Eine fahle Märzsonne glitzerte auf dem Wasser des Ouse, an dessen östlichem Ufer sie entlangritten. Der Nebel, der sich den ganzen Tag über nicht so recht hatte lichten wollen, war hier am Ufer dichter. Ein paar Eisschollen trieben noch auf dem Wasser, aber der Fluss war schon wieder befahrbar. Ein Lastkahn tauchte vor ihnen aus den dichten Schwaden auf, beladen mit Fässern und Holzkohle. Der Schiffer hielt sein Gefährt mit einer langen Stange in der Strommitte und ließ sich fussabwärts treiben. Als er die beiden Reiter auf dem Uferpfad entdeckte, hob er eine Hand von seiner Ruderstange und winkte ihnen zu. Caedmon winkte zurück.
»Das war Godric«, murmelte er.
»Ich habe Augen«, erwiderte Dunstan trocken.
»Ich hab ihn den ganzen Winter nicht gesehen.«
»Nein, weil er sich den Winter über in seiner Hütte verkriecht wie ein Bär in seiner Höhle, sich von früh bis spät mit Bier volllaufen lässt oder eine seiner zahllosen Schwestern bespringt, bis das Tauwetter kommt und er wieder hinausfahren kann.«
»Dunstan!«, rief Caedmon schockiert aus.
Sein Bruder schnitt eine verächtliche Grimasse. »Entschuldige, Schwesterchen ...«
Caedmon schwieg beleidigt. Der Uferpfad verengte sich, so dass sie hintereinanderreiten mussten, und das war ihm nur recht. Dunstan sollte nicht sehen, wie ihm das Blut in die Wangen geschossen war, und Caedmon drückte seinem struppigen Kaltblüter die Fersen in die Seiten und zog eine Länge vor. Lass ihn nur reden, dachte er. Aber ich war es, der den Bock erlegt hat.
»Sag, Caedmon, jetzt mal ganz ehrlich. Bist du noch Jungfrau?«, fragte Dunstan mit vermeintlichem brüderlichem Wohlwollen. Doch Caedmon hörte das mutwillige Grinsen in seiner Stimme, er brauchte sich nicht einmal umzuwenden, um es zu sehen.
Er errötete schon wieder. Das schien ihm in letzter Zeit ganz besonders häufi g zu passieren. Über den Winter hatte sein Körper begonnen, sich auf geradezu bestürzende Weise zu verändern. Er hatte einen ordentlichen Schuss getan und war jetzt ebenso groß wie Dunstan und sein Vater, aber das war es nicht allein. Sein Bartwuchs hatte eingesetzt, seine Stimme veränderte sich, er wurde von Träumen geplagt, an die er nicht denken konnte, ohne wieder aufs neue rot anzulaufen, und all das erschien ihm fremd, machte ihn so unsicher, dass es ihm manchmal vorkam, als lebe er im Körper eines Fremden.
»Antworte, Caedmon«, befahl Dunstan mit der befehlsgewohnten Stimme des Älteren. »Wenn es so ist, wüsste ich, wie wir Abhilfe schaffen könnten. Ehe du auf die Idee kommst, dich an den Schafen zu versuchen.«
Ein neuerliches, empörtes »Dunstan!«, lag Caedmon auf der Zunge, aber er besann sich und wandte lediglich den Kopf, um seinem Bruder einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Doch stattdessen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
»Heiliger Edmund, steh uns bei ... Reite, Dunstan! Los, komm schon!« Dunstans Miene zeigte eine Mischung aus Verwunderung und gönnerhafter Belustigung, und statt dem guten Rat zu folgen, wandte er den Blick ebenfalls zum Fluss. »Oh, mein Gott ... Ein Drache!«
Damit hatte er genug gesehen. Er rammte seinem Pferd die Hacken in die Seiten. Caedmon war schon angaloppiert. Er hörte ein seltsam surrendes Geräusch, wie das Summen einer Hornisse, und zog den Kopf ein. Im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz im linken Bein und schrie entsetzt auf. Sein sonst so gleichmütiges Pferd bäumte sich plötzlich auf, legte die Ohren an und bockte. Caedmon warf sich nach vorn, um im Sattel zu bleiben, doch das Tier wieherte angstvoll, stieg, und dann pfl ügte Dunstans Pferd in seine Seite. Sie stürzten in einem wirren Durcheinander aus Hufen, Armen und Beinen. Ein harter Stoß traf Caedmon in den Rücken, und er lag einen Moment still, unfähig zu atmen oder sich zu rühren. Wieder erklang das unheilvolle Surren, und er überwand seine Schwäche und kroch auf dem Bauch in das dichte Unterholz neben dem Pfad. Dann lag er still, hielt sein Bein umklammert und lauschte.
Es kam ihm vor, als habe er Stunden so gelegen. Die Stille war beinah vollkommen, nur ganz leise war das Plätschern des Flusses zu vernehmen.
Schließlich sammelte Caedmon seinen Mut und hob den Kopf. »Dunstan?«
Sein Pferd stand nur wenige Schritte entfernt auf dem Pfad. Of enbar war es ein Stück gerannt und dann zurückgekehrt; der Rehbock schleifte am Boden. Dunstans Brauner war hingegen nirgendwo zu sehen, doch sein Bruder selbst lag gleich neben ihm, halb auf dem Uferpfad, halb im Dickicht. Sein Gesicht war Caedmon zugewandt, und was durch die wirren, blonden Haare hindurch davon erkennbar war, wirkte todesbleich. Dunstan lag vollkommen reglos.
»Nein ...« Caedmon richtete sich halb auf. Ein neuerlicher Schmerz zuckte durch sein Bein, und er sah es zum ersten Mal an. Ein kurzer, hellgefi ederter Pfeil steckte seitlich in seinem Oberschenkel. »Gott verfl ucht. Dunstan?«
Sein Bruder regte sich nicht. Caedmon robbte zu ihm hinüber und strich die Haare aus Dunstans Stirn. Dann legte er ihm furchtsam eine Hand auf die Brust. Das Herz schlug gleichmäßig und kräftig. Ein wenig erleichtert untersuchte er den Kopf des Bruders. Unter dem Haaransatz fand er eine anschwellende Beule. Anscheinend hatte Dunstan einen Huftritt vor die Stirn bekommen. Caedmon rüttelte ihn zaghaft an der Schulter. Nichts.
»Gott, was tu' ich denn jetzt nur?«
Er sah auf den Fluss hinaus. Der Drache war verschwunden, zweifellos weiter flussaufwärts gezogen. Caedmon wusste, er musste nach Hause reiten. Seinen Vater und die anderen warnen.
»Und je länger du hier herumsitzt, um so dunkler und kälter wird es werden«, murmelte er. Unbewusst versuchte er, Dunstans Stimme zu imitieren, denn nichts konnte ihn so dazu anspornen, über sich hinauszuwachsen, wie die Herablassung seines Bruders.
Caedmon zog das gesunde Bein an, biss die Zähne zusammen und stand auf. Doch sobald er das angeschossene Bein mit seinem Gewicht belastete, zuckte der Schmerz bis in die Hüfte hinauf. Als er die wenigen Schritte zu seinem Pferd zurückgelegt hatte, weinte er.
Er umfasste den Sattelknauf mit beiden Händen und sah im schwindenden Licht an seinem linken Bein hinab. Blut tränkte seine Hosen aus dunklem Wollstoff , der Fleck hatte beinah die gekreuzten Lederbänder erreicht, die seine Waden bis zum Knie umschlossen, und breitete sich weiter aus. Besser nicht hinsehen, dachte er. Er nahm sein geduldiges Reittier am Zügel. »Komm, Beorn. Wir müssen Dunstan nach Hause schaffen.«
Der stämmige Grauschimmel ließ sich willig führen, aber nach drei Schritten musste Caedmon anhalten. Er hatte bis heute nicht gewusst, dass einem übel werden konnte vor Schmerz. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, und es wurde schnell kälter. Trotzdem erschien sein Gesicht ihm heiß. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, legte dem Pferd den rechten Arm um den Hals und hüpfte auf einem Bein neben ihm her.
Dunstan war nach wie vor besinnungslos. Caedmon beugte sich über ihn und fühlte wieder seinen Herzschlag. Unverändert.
»Oh, Dunstan, werd wach. Bitte, wach doch auf, du verdammter Mistkerl ...«
Aber Dunstan war nicht gerade dafür bekannt, dass er sich nach den Wünschen seiner Brüder richtete. Er zeigte nicht die leiseste Regung. Caedmon sah zum Himmel auf. Er war nicht mehr weiß, sondern dunkelgrau. Ein scharfer Wind hatte sich mit der Dämmerung erhoben und trieb schwere Wolken heran.
»Ja, warum nicht«, murmelte Caedmon bissig. »Das macht jetzt keinen großen Unterschied.«
Er wusste genau, was er tun musste. Aber im Augenblick fühlte er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen. Fast war es, als könne er den mörderischen Schmerz schon jetzt spüren, und er schauderte unwillkürlich. »Gott, Dunstan, das werde ich dir niemals verzeihen«, drohte er an.
Er betrachtete das Gesicht seines Bruders, um noch einen kleinen Aufschub herauszuschinden. Es war kein übles Gesicht. Eingerahmt von flachsblonden Locken, eine hohe Stirn, helle Brauen und dichte Wimpern, eine gerade, fast zu schmale Nase über einem noch recht dünnen Schnurrbart und einem um so breiteren Mund, der von Natur aus, sogar jetzt in tiefer Bewusstlosigkeit, zu einem Lächeln neigte, das manchmal gutmütig, öfter aber höhnisch war. Caedmon legte den Kopf zur Seite, seine eigenen, dunkleren Locken fi elen ihm dabei ins Gesicht, und er rief sich die eisblaue Farbe der Augen ins Gedächtnis.
»Komm, Bruder«, murmelte er seufzend. »Lass uns nach Hause reiten.« Er schätzte, sie waren noch etwa drei Meilen von Helmsby entfernt. Ausgeschlossen, den ganzen Weg zu laufen. Schon bei dem Gedanken brach ihm der Schweiß aus. Hof nungsvoll spähte er den Uferpfad entlang, doch von Dunstans Pferd war nirgends eine Spur zu entdecken. Schweren Herzens löste er die Stricke, mit denen sie den Rehbock festgebunden hatten. Mit einem dumpfen Laut fi el der schwere Kadaver zu Boden.
»Die Füchse werden ein Fest feiern«, murmelte Caedmon. Er schwang den Strick in der Linken und sah auf seinen Bruder hinab. »Statt dessen werde ich dich heimbringen.«
Er erinnerte sich später nur vage. Er wusste noch, dass er mehrere Anläufe gebraucht hatte, um den schweren, leblosen Körper seines Bruders auf den Rücken des Pferdes zu hieven. Er vergaß, dass er zwischendurch verzweifelte, dass er beinah der Versuchung erlegen wäre, Dunstan liegen zu lassen und Hilfe zu holen. Aber das durfte er nicht. Es wurde dunkel und kalt. Der Wald wimmelte von hungrigen Räubern auf zwei und vier Beinen, selbst der Drache mochte zurückkommen. Caedmon wusste, wenn er Dunstan zurückließ und allein heimritt, würden sie seinen Bruder vermutlich nur noch tot wiederfi nden.
Als er den großen Körper schließlich aufs Pferd gehoben hatte, hatte Caedmon das Gefühl, dass seine Kräfte aufgezehrt waren. Er weinte wieder. Er konnte nichts dagegen tun, der Schmerz in seinem Bein war übermächtig. Seine Finger erschienen ihm ungeschickt und klamm, als er Dunstans Hände und Füße zusammenband. Dann führte er das Pferd zu einem nahen Baumstumpf, kletterte ungeschickt hinauf und saß auf. Als er den linken Fuß in den Steigbügel stellte und mit seinem gesamten Gewicht belastete, wurde ihm schwarz vor Augen. Hastig schwang er das rechte Bein über den Sattel, nahm die Zügel auf und ritt an.
Inzwischen war es dunkel. Caedmon ließ die Zügel lang und hoffte darauf, dass das Pferd von allein nach Hause finden würde. Er wusste nicht mehr, wo er sich befand. Er saß zusammengekrümmt im Sattel, eine Hand auf der Schulter seines Bruders, und es dauerte nicht lange, bis eisige Regentropfen ihn in den Nacken trafen wie Nadelstiche. Die Welt wurde fi nster.
»Je zwei Mann Richtung Fluss und nach Norden. Der Rest folgt mir. Aufsitzen!« Die tragende Stimme übertönte den prasselnden Regen ohne besondere Mühe. »Worauf wartet ihr, na los!«
»Da kommt jemand, Thane«, rief eine junge Stimme aus der Finsternis. Die Männer, die sich vor dem Pferdestall nahe der Halle versammelt hatten, nahmen die Füße aus den Steigbügeln und horchten hoffnungsvoll. Jetzt konnten sie alle den dumpfen Hufschlag im Morast hören. Eine schemenhafte Pferdegestalt hob sich plötzlich als schwarzer Schatten vor der nächtlichen Dunkelheit ab.
»Wo ist mein Vater?«
»Thane, es ist Caedmon!«
Ælfric, der Thane of Helmsby, ließ die Zügel seines kräftigen Wallachs los und trat auf den Reiter zu.
»Caedmon?«
Der Junge richtete sich im Sattel auf. »Wir hatten einen Rehbock erlegt. Aber dann ... kam ein Drache und ...«
»Caedmon, wo ist Dunstan?« Ælfric legte ihm die Hand auf das linke Bein, und Caedmon wurde ohnmächtig.
Er erwachte mit einem Gefühl vollkommener Schwerelosigkeit, wie er es aus den Träumen kannte, in denen er fliegen konnte. Er kostete das Erlebnis aus, und erst als er auf weichem Grund landete, schlug er die Augen auf.
Sein Vater stand über ihn gebeugt. Er hatte ihn getragen, erkannte Caedmon, und sah sich verwirrt um: Er lag auf einem breiten Bett mit Vorhängen aus rauem, bräunlichem Wollstoff - kein Zweifel, er lag im Bett seiner Eltern. Einen Moment fragte er sich verwirrt, was in aller Welt er hier verloren hatte, doch als er sich regte, spürte er das Bein wieder, und die Erinnerung kam zurück.
»Dunstan ...«
»Es geht ihm gut«, sagte Ælfric beschwichtigend. »Er ist aufgewacht.«
»Vater, es waren die Dänen. Ein Drache kam den Fluss hinauf, und sie haben auf uns geschossen.«
JElfric betrachtete ihn skeptisch. »Das hat dein Bruder auch behauptet. Ich dachte, er fantasiert. Ein Drachenschiff, Caedmon? Die Dänen haben unsere Küsten schon seit langem verschont, Gott und seinen Heiligen sei Dank, aber wenn sie kommen, dann wenigstens mit zehn Schiffen. Oder mit Hunderten. Es muss König Knuts Geisterschiff gewesen sein, das ihr gesehen habt.«
Caedmon wies auf sein abgewinkeltes Bein. »Und nennst du das einen Geisterpfeil?«
JElfric sah besorgt auf den blutgetränkten Schaft hinab. »Keineswegs. Deine Mutter wird sich darum kümmern. Ich denke, es ist das beste, ich mache mich mit den Männern auf den Weg, um euren Drachen zu erlegen. Wenn das Schiff die Vorhut einer Invasion ist, sollten wir das wissen. Wahrscheinlicher ist, dass es nur Piraten sind.«
»Auf jeden Fall schießen sie gut.«
JElfric lächelte. »Dunstan sagt, du hattest einen Bock?«
Caedmon nickte. »Ich musste ihn zurücklassen, um Dunstan nach Hause zu bringen. Dabei hatte er sich so auf den Rehbraten gefreut.«
Sein Vater legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Er war kein Mann, der dazu neigte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Niemand hätte ahnen können, welche Ängste er ausgestanden hatte, nachdem Dunstans Pferd allein nach Hause gekommen war. Er suchte einen Moment nach Worten, um seinem Zweitältesten zu zeigen, wie dankbar er ihm war. »Du hast es trotzdem richtig gemacht. Wir werden sehen, ob wir deinen Bock auf dem Rückweg fi nden. Sonst schicke ich Wulfric und Cynewulf in den Wald. Auf keinen Fall können wir zulassen, dass du um deinen Braten betrogen wirst.«
Caedmon verzog einen Mundwinkel zu einem müden Lächeln, und JElfric wandte sich ab und ging mit langen Schritten zur Tür. Der Junge schloss die Augen und bat Gott, er möge nochmals eine schützende Hand über seine Familie halten und seinen Vater unversehrt nach Hause kommen lassen.
All seine Vorfahren hatten gegen die Dänen gekämpft - die Dänen hatte Gott sich ausgesucht, um die Engländer zu prüfen. Vor langer Zeit hatte der große König Alfred mit den Dänen Frieden geschlossen und ihnen beinah die Hälfte von England überlassen. Die Nachfahren König Alfreds eroberten diese Hälfte Englands, die bis auf den heutigen Tag Danelaw genannt wurde, zurück. Über die Generationen waren die dänischen und englischen Nachbarn miteinander verschmolzen, ihre Sprachen wurden einander immer ähnlicher, so dass die Unterscheidung zwischen Dänen und Angelsachsen nach und nach in Vergessenheit geriet. Es hätte Frieden im Land herrschen können, wären nicht immer wieder neue Dänen gekommen, Wikinger, die nicht auf Land aus waren, das sie besiedeln konnten, sondern auf Beute. Auf Mord und Totschlag.
Doch in den letzten Jahren war es ruhig geworden um die Wikinger. Seit Ælfric seinem Vater als Thane of Helmsby gefolgt war, hatte es keine größeren Überfälle mehr gegeben, weder hier in East Anglia noch anderswo. Und das sei ein Glück, hatte Caedmon seinen Vater sagen hören, denn König Edward sei ein Heiliger, kein Krieger. Caedmon hoffte, das Drachenschiff, das den Ouse hinauf-gesegelt war, kündigte nicht das Ende der ruhigen Jahre an. Er hatte keine Zweifel, dass sein Vater und die Housecarls, die in seinem Dienst standen, in der Lage waren, Haus und Hof zu verteidigen. Und auch er selbst und seine Brüder hatten gelernt, ein Schwert, eine Streitaxt und eine Pike zu führen. Von der Bandschleuder ganz zu schweigen. Trotzdem flößte die Vorstellung von einem neuen Däneneinfall ihm Angst ein. Genau genommen, musste er feststellen, erfüllte der Gedanke ihn mit Grauen.
Die hölzerne Tür zu der kleinen Kammer hinter der Halle öff - nete sich geräuschlos, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau trat ein. In einer Hand hielt sie eine Wasserschüssel. Sie stellte sie neben dem Bett ab und beugte sich über ihn.
»Comment vas tu, mon fi ls?«
Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, und Caedmon lehnte den Kopf in die Kissen zurück. »Na ja. Wie soll es einem Mann gehen, der gerade mit der Erkenntnis ringt, dass er ein Feigling ist?«
Sie lachte ihr leises, warmes Lachen. »Ein Feigling? Du? Das wäre mir ganz neu. Nein, nein, Caedmon. Du hast ein Herz so groß wie Beowulfs.« Sie sah kurz auf den gefi ederten Schaft in seinem Oberschenkel. »Und das wirst du auch brauchen.«
Caedmon schnitt eine Grimasse und wechselte das Thema. »Was macht Dunstan?«
»Oh, Dunstan ist schon wieder ganz der Alte. Er sitzt drüben in der Halle, einen beeindruckenden Verband um die Stirn und einen vollen Becher vor sich und erfreut die Dienerschaft mit der Geschichte, wie er dich vor den Dänen errettet hat.«
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Bei Gott, was für ein Treffer, Caedmon! Wer so mit einer Schleuder umgehen kann wie du, kann seinen Bogen getrost verfeuern.« Dunstan klopfte seinem jüngeren Bruder so kräftig auf den Rücken, dass dieser sich unauffällig mit der Linken auf den Sattelknauf stützte.
Caedmon strahlte, glitt aus dem Sattel und lief die fünfzig oder sechzig Schritte, die ihn von seiner erlegten Beute trennten. Es war ein einjähriger Rehbock. Er lag reglos auf der Seite, auch die Vorderläufe zuckten nicht mehr. Sein braunes Auge starrte in den weißgrauen Himmel hinauf, der noch weitaus mehr nach Winter denn nach Frühling aussah. Auch der Waldboden unter Caedmons dünnen, knöchelhohen Lederschuhen fühlte sich noch hart an. Die alten, dicht stehenden Bäume zeigten nicht den leisesten Hauch von Grün, aber die ersten verwegenen Narzissen blühten im struppigen Gras des Vorjahres.
Dunstan war ebenfalls abgesessen und trat zu seinem Bruder. »Meisterhaft«, wiederholte er und nickte nachdrücklich. »Mitten zwischen die Augen. Ich wette, er war schon tot, ehe er umfi el. Wie machst du das nur?«
Der Junge hob unbehaglich die Schultern und winkte verlegen ab. Dunstan war sechzehn, zwei Jahre älter als er, und für gewöhnlich sehr sparsam mit seinem Lob. »Ich weiß nicht. Ich ... seh' auf den Punkt, den ich treffen will, und hör' auf das Singen der Schleuder über meinem Kopf. Und dann ...«
Dunstan verpasste ihm eine Kopfnuss der eher sanften Sorte. »Ja, ja. Erspar mir den lehrreichen Vortrag.«
Aber du hast gefragt, dachte Caedmon verständnislos.
»Jetzt ist jedenfalls endlich Schluss mit dem verf uchten Pökelfleisch«, bemerkte Dunstan zufrieden, beugte sich über den Bock und band ihm mit einer dünnen Lederschnur die Läufe zusammen. Dann sah er stirnrunzelnd auf. »Was ist? Hilfst du mir, oder hast du Angst, dass dir schlecht wird, wenn du Blut siehst?«
Caedmon seufzte verstohlen, zückte sein Jagdmesser und setzte es dem Bock an die Halsschlagader. Er vermied es, in das tote braune Rehauge zu sehen.
Wenig später waren sie auf dem Heimweg. Der ausgeblutete Bock lag vor Caedmon über dem Sattel, und das stämmige, gedrungene Pferd trug die doppelte Last ohne erkennbare Mühe. Eine fahle Märzsonne glitzerte auf dem Wasser des Ouse, an dessen östlichem Ufer sie entlangritten. Der Nebel, der sich den ganzen Tag über nicht so recht hatte lichten wollen, war hier am Ufer dichter. Ein paar Eisschollen trieben noch auf dem Wasser, aber der Fluss war schon wieder befahrbar. Ein Lastkahn tauchte vor ihnen aus den dichten Schwaden auf, beladen mit Fässern und Holzkohle. Der Schiffer hielt sein Gefährt mit einer langen Stange in der Strommitte und ließ sich fussabwärts treiben. Als er die beiden Reiter auf dem Uferpfad entdeckte, hob er eine Hand von seiner Ruderstange und winkte ihnen zu. Caedmon winkte zurück.
»Das war Godric«, murmelte er.
»Ich habe Augen«, erwiderte Dunstan trocken.
»Ich hab ihn den ganzen Winter nicht gesehen.«
»Nein, weil er sich den Winter über in seiner Hütte verkriecht wie ein Bär in seiner Höhle, sich von früh bis spät mit Bier volllaufen lässt oder eine seiner zahllosen Schwestern bespringt, bis das Tauwetter kommt und er wieder hinausfahren kann.«
»Dunstan!«, rief Caedmon schockiert aus.
Sein Bruder schnitt eine verächtliche Grimasse. »Entschuldige, Schwesterchen ...«
Caedmon schwieg beleidigt. Der Uferpfad verengte sich, so dass sie hintereinanderreiten mussten, und das war ihm nur recht. Dunstan sollte nicht sehen, wie ihm das Blut in die Wangen geschossen war, und Caedmon drückte seinem struppigen Kaltblüter die Fersen in die Seiten und zog eine Länge vor. Lass ihn nur reden, dachte er. Aber ich war es, der den Bock erlegt hat.
»Sag, Caedmon, jetzt mal ganz ehrlich. Bist du noch Jungfrau?«, fragte Dunstan mit vermeintlichem brüderlichem Wohlwollen. Doch Caedmon hörte das mutwillige Grinsen in seiner Stimme, er brauchte sich nicht einmal umzuwenden, um es zu sehen.
Er errötete schon wieder. Das schien ihm in letzter Zeit ganz besonders häufi g zu passieren. Über den Winter hatte sein Körper begonnen, sich auf geradezu bestürzende Weise zu verändern. Er hatte einen ordentlichen Schuss getan und war jetzt ebenso groß wie Dunstan und sein Vater, aber das war es nicht allein. Sein Bartwuchs hatte eingesetzt, seine Stimme veränderte sich, er wurde von Träumen geplagt, an die er nicht denken konnte, ohne wieder aufs neue rot anzulaufen, und all das erschien ihm fremd, machte ihn so unsicher, dass es ihm manchmal vorkam, als lebe er im Körper eines Fremden.
»Antworte, Caedmon«, befahl Dunstan mit der befehlsgewohnten Stimme des Älteren. »Wenn es so ist, wüsste ich, wie wir Abhilfe schaffen könnten. Ehe du auf die Idee kommst, dich an den Schafen zu versuchen.«
Ein neuerliches, empörtes »Dunstan!«, lag Caedmon auf der Zunge, aber er besann sich und wandte lediglich den Kopf, um seinem Bruder einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Doch stattdessen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
»Heiliger Edmund, steh uns bei ... Reite, Dunstan! Los, komm schon!« Dunstans Miene zeigte eine Mischung aus Verwunderung und gönnerhafter Belustigung, und statt dem guten Rat zu folgen, wandte er den Blick ebenfalls zum Fluss. »Oh, mein Gott ... Ein Drache!«
Damit hatte er genug gesehen. Er rammte seinem Pferd die Hacken in die Seiten. Caedmon war schon angaloppiert. Er hörte ein seltsam surrendes Geräusch, wie das Summen einer Hornisse, und zog den Kopf ein. Im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz im linken Bein und schrie entsetzt auf. Sein sonst so gleichmütiges Pferd bäumte sich plötzlich auf, legte die Ohren an und bockte. Caedmon warf sich nach vorn, um im Sattel zu bleiben, doch das Tier wieherte angstvoll, stieg, und dann pfl ügte Dunstans Pferd in seine Seite. Sie stürzten in einem wirren Durcheinander aus Hufen, Armen und Beinen. Ein harter Stoß traf Caedmon in den Rücken, und er lag einen Moment still, unfähig zu atmen oder sich zu rühren. Wieder erklang das unheilvolle Surren, und er überwand seine Schwäche und kroch auf dem Bauch in das dichte Unterholz neben dem Pfad. Dann lag er still, hielt sein Bein umklammert und lauschte.
Es kam ihm vor, als habe er Stunden so gelegen. Die Stille war beinah vollkommen, nur ganz leise war das Plätschern des Flusses zu vernehmen.
Schließlich sammelte Caedmon seinen Mut und hob den Kopf. »Dunstan?«
Sein Pferd stand nur wenige Schritte entfernt auf dem Pfad. Of enbar war es ein Stück gerannt und dann zurückgekehrt; der Rehbock schleifte am Boden. Dunstans Brauner war hingegen nirgendwo zu sehen, doch sein Bruder selbst lag gleich neben ihm, halb auf dem Uferpfad, halb im Dickicht. Sein Gesicht war Caedmon zugewandt, und was durch die wirren, blonden Haare hindurch davon erkennbar war, wirkte todesbleich. Dunstan lag vollkommen reglos.
»Nein ...« Caedmon richtete sich halb auf. Ein neuerlicher Schmerz zuckte durch sein Bein, und er sah es zum ersten Mal an. Ein kurzer, hellgefi ederter Pfeil steckte seitlich in seinem Oberschenkel. »Gott verfl ucht. Dunstan?«
Sein Bruder regte sich nicht. Caedmon robbte zu ihm hinüber und strich die Haare aus Dunstans Stirn. Dann legte er ihm furchtsam eine Hand auf die Brust. Das Herz schlug gleichmäßig und kräftig. Ein wenig erleichtert untersuchte er den Kopf des Bruders. Unter dem Haaransatz fand er eine anschwellende Beule. Anscheinend hatte Dunstan einen Huftritt vor die Stirn bekommen. Caedmon rüttelte ihn zaghaft an der Schulter. Nichts.
»Gott, was tu' ich denn jetzt nur?«
Er sah auf den Fluss hinaus. Der Drache war verschwunden, zweifellos weiter flussaufwärts gezogen. Caedmon wusste, er musste nach Hause reiten. Seinen Vater und die anderen warnen.
»Und je länger du hier herumsitzt, um so dunkler und kälter wird es werden«, murmelte er. Unbewusst versuchte er, Dunstans Stimme zu imitieren, denn nichts konnte ihn so dazu anspornen, über sich hinauszuwachsen, wie die Herablassung seines Bruders.
Caedmon zog das gesunde Bein an, biss die Zähne zusammen und stand auf. Doch sobald er das angeschossene Bein mit seinem Gewicht belastete, zuckte der Schmerz bis in die Hüfte hinauf. Als er die wenigen Schritte zu seinem Pferd zurückgelegt hatte, weinte er.
Er umfasste den Sattelknauf mit beiden Händen und sah im schwindenden Licht an seinem linken Bein hinab. Blut tränkte seine Hosen aus dunklem Wollstoff , der Fleck hatte beinah die gekreuzten Lederbänder erreicht, die seine Waden bis zum Knie umschlossen, und breitete sich weiter aus. Besser nicht hinsehen, dachte er. Er nahm sein geduldiges Reittier am Zügel. »Komm, Beorn. Wir müssen Dunstan nach Hause schaffen.«
Der stämmige Grauschimmel ließ sich willig führen, aber nach drei Schritten musste Caedmon anhalten. Er hatte bis heute nicht gewusst, dass einem übel werden konnte vor Schmerz. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, und es wurde schnell kälter. Trotzdem erschien sein Gesicht ihm heiß. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, legte dem Pferd den rechten Arm um den Hals und hüpfte auf einem Bein neben ihm her.
Dunstan war nach wie vor besinnungslos. Caedmon beugte sich über ihn und fühlte wieder seinen Herzschlag. Unverändert.
»Oh, Dunstan, werd wach. Bitte, wach doch auf, du verdammter Mistkerl ...«
Aber Dunstan war nicht gerade dafür bekannt, dass er sich nach den Wünschen seiner Brüder richtete. Er zeigte nicht die leiseste Regung. Caedmon sah zum Himmel auf. Er war nicht mehr weiß, sondern dunkelgrau. Ein scharfer Wind hatte sich mit der Dämmerung erhoben und trieb schwere Wolken heran.
»Ja, warum nicht«, murmelte Caedmon bissig. »Das macht jetzt keinen großen Unterschied.«
Er wusste genau, was er tun musste. Aber im Augenblick fühlte er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen. Fast war es, als könne er den mörderischen Schmerz schon jetzt spüren, und er schauderte unwillkürlich. »Gott, Dunstan, das werde ich dir niemals verzeihen«, drohte er an.
Er betrachtete das Gesicht seines Bruders, um noch einen kleinen Aufschub herauszuschinden. Es war kein übles Gesicht. Eingerahmt von flachsblonden Locken, eine hohe Stirn, helle Brauen und dichte Wimpern, eine gerade, fast zu schmale Nase über einem noch recht dünnen Schnurrbart und einem um so breiteren Mund, der von Natur aus, sogar jetzt in tiefer Bewusstlosigkeit, zu einem Lächeln neigte, das manchmal gutmütig, öfter aber höhnisch war. Caedmon legte den Kopf zur Seite, seine eigenen, dunkleren Locken fi elen ihm dabei ins Gesicht, und er rief sich die eisblaue Farbe der Augen ins Gedächtnis.
»Komm, Bruder«, murmelte er seufzend. »Lass uns nach Hause reiten.« Er schätzte, sie waren noch etwa drei Meilen von Helmsby entfernt. Ausgeschlossen, den ganzen Weg zu laufen. Schon bei dem Gedanken brach ihm der Schweiß aus. Hof nungsvoll spähte er den Uferpfad entlang, doch von Dunstans Pferd war nirgends eine Spur zu entdecken. Schweren Herzens löste er die Stricke, mit denen sie den Rehbock festgebunden hatten. Mit einem dumpfen Laut fi el der schwere Kadaver zu Boden.
»Die Füchse werden ein Fest feiern«, murmelte Caedmon. Er schwang den Strick in der Linken und sah auf seinen Bruder hinab. »Statt dessen werde ich dich heimbringen.«
Er erinnerte sich später nur vage. Er wusste noch, dass er mehrere Anläufe gebraucht hatte, um den schweren, leblosen Körper seines Bruders auf den Rücken des Pferdes zu hieven. Er vergaß, dass er zwischendurch verzweifelte, dass er beinah der Versuchung erlegen wäre, Dunstan liegen zu lassen und Hilfe zu holen. Aber das durfte er nicht. Es wurde dunkel und kalt. Der Wald wimmelte von hungrigen Räubern auf zwei und vier Beinen, selbst der Drache mochte zurückkommen. Caedmon wusste, wenn er Dunstan zurückließ und allein heimritt, würden sie seinen Bruder vermutlich nur noch tot wiederfi nden.
Als er den großen Körper schließlich aufs Pferd gehoben hatte, hatte Caedmon das Gefühl, dass seine Kräfte aufgezehrt waren. Er weinte wieder. Er konnte nichts dagegen tun, der Schmerz in seinem Bein war übermächtig. Seine Finger erschienen ihm ungeschickt und klamm, als er Dunstans Hände und Füße zusammenband. Dann führte er das Pferd zu einem nahen Baumstumpf, kletterte ungeschickt hinauf und saß auf. Als er den linken Fuß in den Steigbügel stellte und mit seinem gesamten Gewicht belastete, wurde ihm schwarz vor Augen. Hastig schwang er das rechte Bein über den Sattel, nahm die Zügel auf und ritt an.
Inzwischen war es dunkel. Caedmon ließ die Zügel lang und hoffte darauf, dass das Pferd von allein nach Hause finden würde. Er wusste nicht mehr, wo er sich befand. Er saß zusammengekrümmt im Sattel, eine Hand auf der Schulter seines Bruders, und es dauerte nicht lange, bis eisige Regentropfen ihn in den Nacken trafen wie Nadelstiche. Die Welt wurde fi nster.
»Je zwei Mann Richtung Fluss und nach Norden. Der Rest folgt mir. Aufsitzen!« Die tragende Stimme übertönte den prasselnden Regen ohne besondere Mühe. »Worauf wartet ihr, na los!«
»Da kommt jemand, Thane«, rief eine junge Stimme aus der Finsternis. Die Männer, die sich vor dem Pferdestall nahe der Halle versammelt hatten, nahmen die Füße aus den Steigbügeln und horchten hoffnungsvoll. Jetzt konnten sie alle den dumpfen Hufschlag im Morast hören. Eine schemenhafte Pferdegestalt hob sich plötzlich als schwarzer Schatten vor der nächtlichen Dunkelheit ab.
»Wo ist mein Vater?«
»Thane, es ist Caedmon!«
Ælfric, der Thane of Helmsby, ließ die Zügel seines kräftigen Wallachs los und trat auf den Reiter zu.
»Caedmon?«
Der Junge richtete sich im Sattel auf. »Wir hatten einen Rehbock erlegt. Aber dann ... kam ein Drache und ...«
»Caedmon, wo ist Dunstan?« Ælfric legte ihm die Hand auf das linke Bein, und Caedmon wurde ohnmächtig.
Er erwachte mit einem Gefühl vollkommener Schwerelosigkeit, wie er es aus den Träumen kannte, in denen er fliegen konnte. Er kostete das Erlebnis aus, und erst als er auf weichem Grund landete, schlug er die Augen auf.
Sein Vater stand über ihn gebeugt. Er hatte ihn getragen, erkannte Caedmon, und sah sich verwirrt um: Er lag auf einem breiten Bett mit Vorhängen aus rauem, bräunlichem Wollstoff - kein Zweifel, er lag im Bett seiner Eltern. Einen Moment fragte er sich verwirrt, was in aller Welt er hier verloren hatte, doch als er sich regte, spürte er das Bein wieder, und die Erinnerung kam zurück.
»Dunstan ...«
»Es geht ihm gut«, sagte Ælfric beschwichtigend. »Er ist aufgewacht.«
»Vater, es waren die Dänen. Ein Drache kam den Fluss hinauf, und sie haben auf uns geschossen.«
JElfric betrachtete ihn skeptisch. »Das hat dein Bruder auch behauptet. Ich dachte, er fantasiert. Ein Drachenschiff, Caedmon? Die Dänen haben unsere Küsten schon seit langem verschont, Gott und seinen Heiligen sei Dank, aber wenn sie kommen, dann wenigstens mit zehn Schiffen. Oder mit Hunderten. Es muss König Knuts Geisterschiff gewesen sein, das ihr gesehen habt.«
Caedmon wies auf sein abgewinkeltes Bein. »Und nennst du das einen Geisterpfeil?«
JElfric sah besorgt auf den blutgetränkten Schaft hinab. »Keineswegs. Deine Mutter wird sich darum kümmern. Ich denke, es ist das beste, ich mache mich mit den Männern auf den Weg, um euren Drachen zu erlegen. Wenn das Schiff die Vorhut einer Invasion ist, sollten wir das wissen. Wahrscheinlicher ist, dass es nur Piraten sind.«
»Auf jeden Fall schießen sie gut.«
JElfric lächelte. »Dunstan sagt, du hattest einen Bock?«
Caedmon nickte. »Ich musste ihn zurücklassen, um Dunstan nach Hause zu bringen. Dabei hatte er sich so auf den Rehbraten gefreut.«
Sein Vater legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Er war kein Mann, der dazu neigte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Niemand hätte ahnen können, welche Ängste er ausgestanden hatte, nachdem Dunstans Pferd allein nach Hause gekommen war. Er suchte einen Moment nach Worten, um seinem Zweitältesten zu zeigen, wie dankbar er ihm war. »Du hast es trotzdem richtig gemacht. Wir werden sehen, ob wir deinen Bock auf dem Rückweg fi nden. Sonst schicke ich Wulfric und Cynewulf in den Wald. Auf keinen Fall können wir zulassen, dass du um deinen Braten betrogen wirst.«
Caedmon verzog einen Mundwinkel zu einem müden Lächeln, und JElfric wandte sich ab und ging mit langen Schritten zur Tür. Der Junge schloss die Augen und bat Gott, er möge nochmals eine schützende Hand über seine Familie halten und seinen Vater unversehrt nach Hause kommen lassen.
All seine Vorfahren hatten gegen die Dänen gekämpft - die Dänen hatte Gott sich ausgesucht, um die Engländer zu prüfen. Vor langer Zeit hatte der große König Alfred mit den Dänen Frieden geschlossen und ihnen beinah die Hälfte von England überlassen. Die Nachfahren König Alfreds eroberten diese Hälfte Englands, die bis auf den heutigen Tag Danelaw genannt wurde, zurück. Über die Generationen waren die dänischen und englischen Nachbarn miteinander verschmolzen, ihre Sprachen wurden einander immer ähnlicher, so dass die Unterscheidung zwischen Dänen und Angelsachsen nach und nach in Vergessenheit geriet. Es hätte Frieden im Land herrschen können, wären nicht immer wieder neue Dänen gekommen, Wikinger, die nicht auf Land aus waren, das sie besiedeln konnten, sondern auf Beute. Auf Mord und Totschlag.
Doch in den letzten Jahren war es ruhig geworden um die Wikinger. Seit Ælfric seinem Vater als Thane of Helmsby gefolgt war, hatte es keine größeren Überfälle mehr gegeben, weder hier in East Anglia noch anderswo. Und das sei ein Glück, hatte Caedmon seinen Vater sagen hören, denn König Edward sei ein Heiliger, kein Krieger. Caedmon hoffte, das Drachenschiff, das den Ouse hinauf-gesegelt war, kündigte nicht das Ende der ruhigen Jahre an. Er hatte keine Zweifel, dass sein Vater und die Housecarls, die in seinem Dienst standen, in der Lage waren, Haus und Hof zu verteidigen. Und auch er selbst und seine Brüder hatten gelernt, ein Schwert, eine Streitaxt und eine Pike zu führen. Von der Bandschleuder ganz zu schweigen. Trotzdem flößte die Vorstellung von einem neuen Däneneinfall ihm Angst ein. Genau genommen, musste er feststellen, erfüllte der Gedanke ihn mit Grauen.
Die hölzerne Tür zu der kleinen Kammer hinter der Halle öff - nete sich geräuschlos, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau trat ein. In einer Hand hielt sie eine Wasserschüssel. Sie stellte sie neben dem Bett ab und beugte sich über ihn.
»Comment vas tu, mon fi ls?«
Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, und Caedmon lehnte den Kopf in die Kissen zurück. »Na ja. Wie soll es einem Mann gehen, der gerade mit der Erkenntnis ringt, dass er ein Feigling ist?«
Sie lachte ihr leises, warmes Lachen. »Ein Feigling? Du? Das wäre mir ganz neu. Nein, nein, Caedmon. Du hast ein Herz so groß wie Beowulfs.« Sie sah kurz auf den gefi ederten Schaft in seinem Oberschenkel. »Und das wirst du auch brauchen.«
Caedmon schnitt eine Grimasse und wechselte das Thema. »Was macht Dunstan?«
»Oh, Dunstan ist schon wieder ganz der Alte. Er sitzt drüben in der Halle, einen beeindruckenden Verband um die Stirn und einen vollen Becher vor sich und erfreut die Dienerschaft mit der Geschichte, wie er dich vor den Dänen errettet hat.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Rebecca Gable
Die 1964 geborene Rebecca Gable war nach dem Studium der Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Literaturübersetzerin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rebecca Gable
- 912 Seiten, Maße: 13,4 x 21 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005374
- ISBN-13: 9783868005370
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