Den du nicht siehst
Roman
Kurz vor Mittsommer auf der Schwedeninsel Gotland: ein Serienmörder, der seine weiblichen Opfer mit einer Axt tötet, treibt auf der Insel sein Unwesen. Hauptkommissar Anders Knutas ermittelt unter großem Druck der Öffentlichkeit. Welche Verbindung besteht zwischen den ermordeten Frauen?
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Produktinformationen zu „Den du nicht siehst “
Kurz vor Mittsommer auf der Schwedeninsel Gotland: ein Serienmörder, der seine weiblichen Opfer mit einer Axt tötet, treibt auf der Insel sein Unwesen. Hauptkommissar Anders Knutas ermittelt unter großem Druck der Öffentlichkeit. Welche Verbindung besteht zwischen den ermordeten Frauen?
Lese-Probe zu „Den du nicht siehst “
1. Montag, 4. JuniDer Abend verlief besser als erwartet. Natürlich war sie vorher ein wenig angespannt gewesen - sie hatten sich doch alle so lange nicht mehr gesehen. Aber jetzt war ihre Unruhe verflogen. Nach einem starken Willkommensdrink, Weißwein zur Vorspeise, mehreren Gläsern Rotwein zum Hauptgericht und Portwein zum Dessert herrschte am Tisch eine wunderbar ausgelassene Stimmung. Kristian erzählte gerade eine weitere komische Anekdote über seinen Chef, und Gelächter erfüllte den Wohnraum des alten Kalksteinhauses.
Vor den Fenstern lagen wogende Kornfelder und Wiesen, auf denen der Mohn noch einige Wochen vor der Blüte stand. Dahinter war im letzten, zögernden Abendlicht das Meer zu erahnen.
Helena und Per hatten sich einige Tage freigenommen und waren über Pfingsten in ihr Ferienhaus auf Gotland gefahren. In solchen Kurzurlauben trafen sie sich immer mit Helenas alten Freunden. Dieses Jahr hatte nur der Pfingstmontag bei allen gepasst.
Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit, gerade mal zehn Grad. Ein heftiger Wind heulte und pfiff in den Baumwipfeln.
Helena lachte laut, als Per ein Spottlied anstimmte, das sie ihm selbst beigebracht hatte, über die Bengel vom Festland, die in den Sommerferien den Mädchen von Gotland nachstellen.
Alle am Tisch sangen beim Refrain mit: Helenas beste Freundin Emma und ihr Mann Olle, die Nachbarn Eva und Rikard und Beata mit ihrem neuen Mann John, der aus den USA stammte und zum ersten Mal in ihrer Runde war. Kristian war als Einziger noch immer Single. Ein gut aussehender Mann, aber offenbar ein ewiger Junggeselle. Er hatte noch nie mit einer Frau zusammengelebt, obwohl er nun auch schon fünfunddreißig war. Helena hatte sich im Laufe der Jahre oft gefragt, woran das wohl lag.
Kerzen brannten in gusseisernen Leuchtern auf den Fensterbänken, das Feuer knisterte im offenen Kamin. Der Hund, Spencer, lag auf einem Fell davor und leckte sich die Pfoten, seufzte laut und rollte sich dann im warmen Schein des
... mehr
Feuers zusammen.
Helena ging in die Küche, um noch zwei Flaschen Wein zu öffnen.
Sie liebte dieses karge Haus, in dem sie seit ihrer Kindheit jeden Sommer verbracht hatte. Eigentlich brauchten Per und sie ungestörte Zweisamkeit. Brauchten Zeit, um miteinander zu reden. Um zusammen zu sein, ohne Telefon, Computer oder Wecker. Aber ein Essen mit den alten Freunden war eine gute Idee gewesen, dachte Helena, und dabei ging ihr auf, wie sehr sie ihr gefehlt hatten.
Plötzlich strich jemand mit dem Finger über ihren Rücken.
"Wie geht's?" Kristians Stimme klang leise und einfühlsam.
"Gut", antwortete sie und lachte ein wenig verkrampft, als sie sich zu ihm umdrehte.
"Und, wie läuft deine Beziehung zu Per?"
Sanft kniff er sie in die Nase.
"Macht er dich noch immer glücklich?"
"Sicher. Wer dich nicht kriegen kann, muss sich doch mit dem Zweitbesten zufrieden geben", sagte sie und ging vor ihm her aus der Küche.
"Los, lasst uns tanzen", rief Beata, die offenbar in Hochform war. Sie sprang vom Tisch auf und durchwühlte die CDs. Eines der wenigen modernen Einrichtungsstücke im Haus war die Musikanlage. Eine der Grundbedingungen dafür, dass Per überhaupt mehr als vierundzwanzig Stunden hier verbrachte.
Bald klang Håkan Hellström aus den Lautsprechern. Per folgte Beatas Beispiel und wirbelte mit ihr durch den Raum.
Auch die anderen kamen auf die Beine und tanzten so ausgelassen, dass die Dielen knarrten.
Danach konnte niemand mehr sagen, wann die Stimmung gekippt war.
Per riss Helena plötzlich aus Kristians Armen und zog sie auf die Veranda. Im Haus wurde weiter getanzt.
Nach einer Weile stieß Helena die Verandatür auf, stolperte herein. Ihre Oberlippe blutete. Sie schlug die Hände vors Gesicht und verschwand auf der Toilette. Mit einem Schlag verwandelte sich die Partylaune in verwirrte Bestürzung.
John schaltete die Anlage aus. Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Nur der Hund stand bellend vor der Toilettentür und knurrte alle an, die sich in seine Nähe wagten, bis Helena schließlich die Tür einen Spalt öffnete und ihn hereinließ.
Kristian ging hinaus, um mit Per zu reden, und die anderen liefen hinterher.
Es passierte so schnell, dass Kristian nicht reagieren konnte. Per landete einen Volltreffer direkt auf Kristians Nasenbein.
Rikard und John packten ihn, bevor er erneut zuschlagen konnte. Sie zogen ihn von der Veranda auf den feuchten Rasen. Der Wind hatte nachgelassen, und ein grauer Nebel hüllte sie ein. Emma und Beata kümmerten sich um Helena. Eva versorgte Kristian, half ihm, das Blut abzuwischen und einen Eisbeutel aufzulegen, um die Schwellung zu mildern. Olle bestellte Taxis. Die Party war eindeutig zu Ende.
2. Dienstag, 5. Juni
Als Helena am nächsten Morgen um halb sieben die Augen aufschlug, dröhnte ihr Kopf. Wenn sie verkatert war, erwachte sie immer ganz besonders früh. Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken im Bett, die Arme an den Seiten, in einer Art liegender Habt-Acht-Stellung. Als habe sie sich während der Nacht auch nicht einen Zentimeter weit bewegen wollen, um jeglichen Körperkontakt mit Per zu vermeiden, der nur eine Handbreit von ihr entfernt lag. Sie sah ihn an. Er schlief, atmete tief und regelmäßig und hatte sich komplett in seine Decke gewickelt. Nur seine braunen Locken schauten heraus.
Im Haus war es dunkel, allein Spencers leichtes Schnarchen war zu hören. Der Hund hatte noch nicht bemerkt, dass sie wach war. Helena fühlte sich verspannt, ihr war schlecht. Sie starrte an die weiße Decke, und es dauerte einige Sekunden, bis ihr einfiel, was am Vorabend passiert war.
Nein, dachte sie, nein, nein, nein. Nicht schon wieder. Pers Eifersucht hatte ihnen schon so oft Probleme bereitet, aber im vergangenen Jahr war alles besser geworden. Das musste sie zugeben. Und jetzt dieser Rückschlag. Wie eine gigantische Bauchlandung. Schmerz loderte in ihr auf, als sie das Ausmaß dessen erkannte, was geschehen war. Es betraf nicht nur sie und Per. Er hatte den gesamten Freundeskreis mit hineingezogen. Auf der Party. Die so schön angefangen hatte.
Nach dem Essen hatten sie getanzt. Natürlich war Kristians Hand auf ihrem Rücken ein wenig zu tief geglitten, als ihre Körper sich bei einem ruhigen Stück aneinander geschmiegt hatten. Sie hatte flüchtig mit dem Gedanken gespielt, sie wegzuschieben, war aber viel zu beschwipst gewesen, um die Situation wirklich ernst zu nehmen.
Ohne Vorwarnung hatte Per sie von Kristian weggerissen. Auf der Veranda hatte er sie mit Vorwürfen überschüttet. Außer sich vor Wut hatte sie ihn angeschrien, gehöhnt und gefaucht. Als er sie schüttelte, schlug sie nach ihm, kratzte und biss. Am Ende hatte er ihr eine schallende Ohrfeige verpasst. Sie stürzte auf die Toilette.
Schockiert hatte sie vor dem Spiegel in der Toilette gestanden und ihr zu einer stummen Grimasse verzerrtes Gesicht angestarrt. Mit zitternden Fingerspitzen ihre anschwellende Oberlippe berührt. Er hatte sie noch nie geschlagen.
Emma und Olle waren geblieben, bis Per einschlief und auch Helena die Augen kaum noch aufhalten konnte.
Trotz allem hatten sie die Nacht im selben Bett verbracht.
Sie konnte nicht begreifen, warum alles so schief gegangen war. Sie überlegte, wie der Tag wohl verlaufen würde. Wie sollten sie aus dieser Sache wieder herauskommen? Eifersuchtsdrama, Prügelei. Sie führten sich auf wie unreife Drecksgören, unfähig, sich mit Freunden einen schönen Abend zu machen. Sie waren erbärmlich. Helenas schlechtes Gewissen lag ihr im Magen wie ein schwerer Stein.
Vorsichtig stieg sie aus dem Bett; sie hatte Angst, Per zu wecken. Sie schlich zur Toilette, pinkelte und musterte ihr gelblichbleiches Gesicht im Spiegel. Suchte nach Spuren dafür, dass sie am Vorabend misshandelt worden war. Aber sie fand keine. Die Schwellung war bereits zurückgegangen. So hart hat er also doch nicht zugeschlagen, dachte sie. Als könne das ein Trost sein. Sie ging in die Küche und trank eine halbe Dose Cola, kehrte ins Badezimmer zurück und putzte sich die Zähne.
Der Boden unter ihren bloßen Füßen war kühl, als sie von einem Zimmer ins andere ging. Spencer folgte ihr wie ein Schatten. Sie zog sich an, lief zur Freude des Hundes in die Diele und schlüpfte in ihre Turnschuhe.
Die Morgenluft schlug ihr entgegen, kalt und befreiend, als sie die Tür öffnete.
Sie nahm den Weg, der zum Meer hinunterführte. Spencer trabte mit hoch erhobenem Schwanz neben ihr her, rannte durch das Gras am Wegesrand und setzte ab und zu eine Duftmarke. Der Labrador mit dem glänzenden schwarzen Fell war ein guter Wachhund und Helenas ständiger Begleiter. Sie atmete tief durch, und ihre Augen tränten in der Morgenkälte.
Als sie über die Dünenkrone zum Strand hinunterstieg, umhüllte sie dichter grau-weißer Nebel. Der Horizont war nicht mehr zu erkennen. Das stahlgraue Wasser schien regungslos. Es war auffallend still. Nur eine einsame Möwe stieß hoch über dem Meer ihren Schrei aus. Helena beschloss, etwas am Strand entlangzugehen, trotz der schlechten Sicht. Wenn ich einfach am Wasser bleibe, dann kann ja wohl nichts passieren, dachte sie.
Ihre Kopfschmerzen ließen langsam nach, und sie versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen.
Das Frühjahr war für sie und Per arbeitsreich und anstrengend gewesen, und sie hatten ein wenig Zeit füreinander gebraucht.
Aber nach dem Fiasko des vergangenen Abends wusste sie nicht mehr weiter.
Sie glaubte trotz allem, dass Per der Mann war, mit dem sie zusammenleben wollte. Sie war sich sicher, dass er sie liebte. Im kommenden Monat wurde sie fünfunddreißig, und sie wusste, dass er eine Antwort erwartete. Eine Entscheidung. Er wollte schon lange heiraten, und er wollte ein Kind mit ihr. Wenn sie in letzter Zeit miteinander geschlafen hatten, hatte er hinterher oft gesagt, er wünschte, sie würden nicht verhüten und er hätte sie schwängern können. Und jedes Mal hatte ihr das die Stimmung verdorben.
Gleichzeitig hatte sie sich noch nie so geborgen gefühlt, so geliebt. Mehr konnte man vermutlich nicht verlangen, und vielleicht war die Zeit reif für eine Entscheidung. Ihre früheren Liebschaften waren erfolglos geblieben. Sie hatte niemals richtig geliebt und wusste auch nicht, ob sie das jetzt wirklich tat. Vielleicht war sie dazu einfach nicht in der Lage.
Der Hund bellte und riss sie aus ihren Gedanken. Sein Bellen klang wie ein Jagdsignal. Vielleicht hatte er die Spur eines Kaninchens gefunden, von denen es auf Gotland nur so wimmelte.
"Spencer! Komm her!", befahl sie.
Brav kam der Hund angelaufen und beschnupperte dabei den Boden. Helena ging in die Hocke und streichelte ihn. Sie versuchte, auf das Meer hinauszuschauen, aber sie konnte Himmel und Wasser kaum unterscheiden. An klaren Tagen waren von hier aus die Felsen auf den Inseln Stora und Lilla Karlsö zu sehen.
Helena fröstelte. Auf Gotland war der Frühling zwar immer recht kühl, aber dass sich die Kälte bis in den Juni hielt, war doch ungewöhnlich. Die feuchtkalte Luft durchdrang alle Stoffschichten. Sie trug ein T-Shirt, ein Sweatshirt und eine Strickjacke, aber sie fror trotzdem. Sie erhob sich, zog ihre Jacke fester zusammen und machte sich auf den Rückweg. Hoffentlich ist Per schon wach, damit wir reden können, dachte sie.
Langsam fühlte sie sich besser, und in ihr wuchs die Zuversicht, dass vielleicht doch noch nicht alles zerstört war. Später könnte sie die Freunde anrufen, und bald würde alles vergessen sein. Pers Eifersucht hatte sich doch schon gebessert. Und schließlich war sie diejenige, die zuerst gekratzt und geschlagen hatte.
Als sie den Anfang des Strandes wieder erreichte, war der Nebel noch dichter geworden. Weiß, weiß, weiß. Wohin sie sich auch drehte. Ihr fiel auf, dass sie Spencer schon lange nicht mehr gehört hatte. Das Einzige, was sie deutlich erkennen konnte, waren ihre halb im Sand versunkenen Turnschuhe. Sie rief einige Male. Wartete. Er kam nicht. Seltsam.
Sie ging einige Schritte zurück und versuchte angestrengt, etwas durch die Nebeldecke zu sehen.
"Spencer! Komm her!"
Keine Reaktion. Verdammter Hund. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.
Etwas stimmte hier nicht. Sie blieb stehen und horchte, hörte aber nur das Schwappen der Wellen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Plötzlich zerriss ein kurzes, scharfes Bellen die Stille. Es folgte ein Knurren, das gleich wieder verstummte. Das war Spencer.
Was war da los?
Sie blieb regungslos stehen und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die sich in ihr breit machte. Der undurchdringliche Nebel umschloss sie. Sie kam sich vor wie in einem Vakuum und schrie:
"Spencer! Hierher!"
Dann spürte sie hinter sich eine Bewegung und begriff, dass irgendwer ganz in ihrer Nähe stand. Langsam drehte sie sich um.
"Ist da jemand?", fragte sie.
In der Redaktion der Regionalnachrichten des großen, angesehenen Fernsehsenders herrschte eine müde Stimmung. Die Morgenbesprechung war überstanden.
Hier und da saßen Reporter mit ihren Kaffeetassen. Einer telefonierte, eine starrte ihren Computer an, zwei steckten die Köpfe zusammen und waren in ein leises Gespräch vertieft. Der eine oder andere Kameramann blätterte lustlos in den Zeitungen vom Vorabend.
Überall Papierstapel, herumliegende Zeitungen, halb leere Kaffeetassen, Telefone, Computer, Faxe, Ordner und Mappen.
Am Produktionstisch, dem Mittelpunkt der Redaktion, saß an diesem frühen Vormittag nur der leitende Redakteur Max Grenfors.
Die Leute hier begreifen einfach nicht, wie gut sie es haben, dachte er, während er am Computer die Tagesbeiträge sichtete. Ein gewisses Maß an Feuer und Enthusiasmus musste man nach dem langen Pfingstwochenende doch erwarten können, aber hier herrschte nur Apathie. Nicht genug damit, dass es den Reportern bei der Besprechung an diesem tristen Dienstagmorgen an eigenen Ideen gefehlt hatte, sie quengelten auch wegen der Aufgaben, die ihnen zugeteilt wurden.
Max Grenfors hatte die Fünfzig knapp überschritten, was man ihm jedoch nicht ansah. Sein inzwischen grau meliertes Haar ließ er regelmäßig bei einem der besten Friseure der Stadt dunkel nachfärben. Seinen Körper hielt er durch lange, einsame Schichten im hauseigenen Fitnessstudio in Form. Mittags zog er Hüttenkäse oder Joghurt vor dem Computer den fetten Gerichten in der lauten Kantine mit seinen lärmenden Kollegen vor. Max Grenfors fand, den meisten Reportern fehle es an Geist und Tatkraft, die er besessen hatte, ehe er schließlich im Redakteurssessel gelandet war.
Als leitender Redakteur konnte er die Inhalte der Sendungen festlegen, er konnte entscheiden, welche Beiträge gemacht wurden und wie lang sie ausfallen sollten. Er mischte sich gern in die jeweilige Gestaltung ein, was oft zu Verärgerung unter den Reportern führte. Das störte ihn nicht weiter, wenn er nur das letzte Wort behielt.
Vielleicht lag es an dem langen Winter und dem feuchten, windigen Frühling, mit einer Kälte, die offenbar nicht enden wollte, dass die Müdigkeit wie eine klamme Wolldecke über der Redaktion lag. Die ersehnte Sommerwärme schien noch in ferner Zukunft zu liegen.
Grenfors markierte die Reportagen, die gesendet werden sollten, und stellte eine Reihenfolge her. Das Hauptthema des Tages war die finanzielle Notlage des Universitätskrankenhauses von Uppsala, gefolgt vom Streik in Österåker, dem nächtlichen Schusswechsel in Södertälje und der Katze Elsa, die von zwei zwölfjährigen Jungen vor dem sicheren Tod auf einer Sperrmüllhalle in Alby gerettet worden war. Echter human touch, dachte der Redakteur befriedigt und vergaß darüber für eine Weile seine Unzufriedenheit. Kindliche Helden und Tiere sprechen das Publikum immer an.Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass der Nachrichtensprecher die Redaktion betrat. Es war Zeit, die Themen durchzugehen und für die übliche Diskussion der Frage, welcher Studiogast für diesen Abend eingeladen werden sollte.
Helena ging in die Küche, um noch zwei Flaschen Wein zu öffnen.
Sie liebte dieses karge Haus, in dem sie seit ihrer Kindheit jeden Sommer verbracht hatte. Eigentlich brauchten Per und sie ungestörte Zweisamkeit. Brauchten Zeit, um miteinander zu reden. Um zusammen zu sein, ohne Telefon, Computer oder Wecker. Aber ein Essen mit den alten Freunden war eine gute Idee gewesen, dachte Helena, und dabei ging ihr auf, wie sehr sie ihr gefehlt hatten.
Plötzlich strich jemand mit dem Finger über ihren Rücken.
"Wie geht's?" Kristians Stimme klang leise und einfühlsam.
"Gut", antwortete sie und lachte ein wenig verkrampft, als sie sich zu ihm umdrehte.
"Und, wie läuft deine Beziehung zu Per?"
Sanft kniff er sie in die Nase.
"Macht er dich noch immer glücklich?"
"Sicher. Wer dich nicht kriegen kann, muss sich doch mit dem Zweitbesten zufrieden geben", sagte sie und ging vor ihm her aus der Küche.
"Los, lasst uns tanzen", rief Beata, die offenbar in Hochform war. Sie sprang vom Tisch auf und durchwühlte die CDs. Eines der wenigen modernen Einrichtungsstücke im Haus war die Musikanlage. Eine der Grundbedingungen dafür, dass Per überhaupt mehr als vierundzwanzig Stunden hier verbrachte.
Bald klang Håkan Hellström aus den Lautsprechern. Per folgte Beatas Beispiel und wirbelte mit ihr durch den Raum.
Auch die anderen kamen auf die Beine und tanzten so ausgelassen, dass die Dielen knarrten.
Danach konnte niemand mehr sagen, wann die Stimmung gekippt war.
Per riss Helena plötzlich aus Kristians Armen und zog sie auf die Veranda. Im Haus wurde weiter getanzt.
Nach einer Weile stieß Helena die Verandatür auf, stolperte herein. Ihre Oberlippe blutete. Sie schlug die Hände vors Gesicht und verschwand auf der Toilette. Mit einem Schlag verwandelte sich die Partylaune in verwirrte Bestürzung.
John schaltete die Anlage aus. Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Nur der Hund stand bellend vor der Toilettentür und knurrte alle an, die sich in seine Nähe wagten, bis Helena schließlich die Tür einen Spalt öffnete und ihn hereinließ.
Kristian ging hinaus, um mit Per zu reden, und die anderen liefen hinterher.
Es passierte so schnell, dass Kristian nicht reagieren konnte. Per landete einen Volltreffer direkt auf Kristians Nasenbein.
Rikard und John packten ihn, bevor er erneut zuschlagen konnte. Sie zogen ihn von der Veranda auf den feuchten Rasen. Der Wind hatte nachgelassen, und ein grauer Nebel hüllte sie ein. Emma und Beata kümmerten sich um Helena. Eva versorgte Kristian, half ihm, das Blut abzuwischen und einen Eisbeutel aufzulegen, um die Schwellung zu mildern. Olle bestellte Taxis. Die Party war eindeutig zu Ende.
2. Dienstag, 5. Juni
Als Helena am nächsten Morgen um halb sieben die Augen aufschlug, dröhnte ihr Kopf. Wenn sie verkatert war, erwachte sie immer ganz besonders früh. Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken im Bett, die Arme an den Seiten, in einer Art liegender Habt-Acht-Stellung. Als habe sie sich während der Nacht auch nicht einen Zentimeter weit bewegen wollen, um jeglichen Körperkontakt mit Per zu vermeiden, der nur eine Handbreit von ihr entfernt lag. Sie sah ihn an. Er schlief, atmete tief und regelmäßig und hatte sich komplett in seine Decke gewickelt. Nur seine braunen Locken schauten heraus.
Im Haus war es dunkel, allein Spencers leichtes Schnarchen war zu hören. Der Hund hatte noch nicht bemerkt, dass sie wach war. Helena fühlte sich verspannt, ihr war schlecht. Sie starrte an die weiße Decke, und es dauerte einige Sekunden, bis ihr einfiel, was am Vorabend passiert war.
Nein, dachte sie, nein, nein, nein. Nicht schon wieder. Pers Eifersucht hatte ihnen schon so oft Probleme bereitet, aber im vergangenen Jahr war alles besser geworden. Das musste sie zugeben. Und jetzt dieser Rückschlag. Wie eine gigantische Bauchlandung. Schmerz loderte in ihr auf, als sie das Ausmaß dessen erkannte, was geschehen war. Es betraf nicht nur sie und Per. Er hatte den gesamten Freundeskreis mit hineingezogen. Auf der Party. Die so schön angefangen hatte.
Nach dem Essen hatten sie getanzt. Natürlich war Kristians Hand auf ihrem Rücken ein wenig zu tief geglitten, als ihre Körper sich bei einem ruhigen Stück aneinander geschmiegt hatten. Sie hatte flüchtig mit dem Gedanken gespielt, sie wegzuschieben, war aber viel zu beschwipst gewesen, um die Situation wirklich ernst zu nehmen.
Ohne Vorwarnung hatte Per sie von Kristian weggerissen. Auf der Veranda hatte er sie mit Vorwürfen überschüttet. Außer sich vor Wut hatte sie ihn angeschrien, gehöhnt und gefaucht. Als er sie schüttelte, schlug sie nach ihm, kratzte und biss. Am Ende hatte er ihr eine schallende Ohrfeige verpasst. Sie stürzte auf die Toilette.
Schockiert hatte sie vor dem Spiegel in der Toilette gestanden und ihr zu einer stummen Grimasse verzerrtes Gesicht angestarrt. Mit zitternden Fingerspitzen ihre anschwellende Oberlippe berührt. Er hatte sie noch nie geschlagen.
Emma und Olle waren geblieben, bis Per einschlief und auch Helena die Augen kaum noch aufhalten konnte.
Trotz allem hatten sie die Nacht im selben Bett verbracht.
Sie konnte nicht begreifen, warum alles so schief gegangen war. Sie überlegte, wie der Tag wohl verlaufen würde. Wie sollten sie aus dieser Sache wieder herauskommen? Eifersuchtsdrama, Prügelei. Sie führten sich auf wie unreife Drecksgören, unfähig, sich mit Freunden einen schönen Abend zu machen. Sie waren erbärmlich. Helenas schlechtes Gewissen lag ihr im Magen wie ein schwerer Stein.
Vorsichtig stieg sie aus dem Bett; sie hatte Angst, Per zu wecken. Sie schlich zur Toilette, pinkelte und musterte ihr gelblichbleiches Gesicht im Spiegel. Suchte nach Spuren dafür, dass sie am Vorabend misshandelt worden war. Aber sie fand keine. Die Schwellung war bereits zurückgegangen. So hart hat er also doch nicht zugeschlagen, dachte sie. Als könne das ein Trost sein. Sie ging in die Küche und trank eine halbe Dose Cola, kehrte ins Badezimmer zurück und putzte sich die Zähne.
Der Boden unter ihren bloßen Füßen war kühl, als sie von einem Zimmer ins andere ging. Spencer folgte ihr wie ein Schatten. Sie zog sich an, lief zur Freude des Hundes in die Diele und schlüpfte in ihre Turnschuhe.
Die Morgenluft schlug ihr entgegen, kalt und befreiend, als sie die Tür öffnete.
Sie nahm den Weg, der zum Meer hinunterführte. Spencer trabte mit hoch erhobenem Schwanz neben ihr her, rannte durch das Gras am Wegesrand und setzte ab und zu eine Duftmarke. Der Labrador mit dem glänzenden schwarzen Fell war ein guter Wachhund und Helenas ständiger Begleiter. Sie atmete tief durch, und ihre Augen tränten in der Morgenkälte.
Als sie über die Dünenkrone zum Strand hinunterstieg, umhüllte sie dichter grau-weißer Nebel. Der Horizont war nicht mehr zu erkennen. Das stahlgraue Wasser schien regungslos. Es war auffallend still. Nur eine einsame Möwe stieß hoch über dem Meer ihren Schrei aus. Helena beschloss, etwas am Strand entlangzugehen, trotz der schlechten Sicht. Wenn ich einfach am Wasser bleibe, dann kann ja wohl nichts passieren, dachte sie.
Ihre Kopfschmerzen ließen langsam nach, und sie versuchte, ihre wirren Gedanken zu ordnen.
Das Frühjahr war für sie und Per arbeitsreich und anstrengend gewesen, und sie hatten ein wenig Zeit füreinander gebraucht.
Aber nach dem Fiasko des vergangenen Abends wusste sie nicht mehr weiter.
Sie glaubte trotz allem, dass Per der Mann war, mit dem sie zusammenleben wollte. Sie war sich sicher, dass er sie liebte. Im kommenden Monat wurde sie fünfunddreißig, und sie wusste, dass er eine Antwort erwartete. Eine Entscheidung. Er wollte schon lange heiraten, und er wollte ein Kind mit ihr. Wenn sie in letzter Zeit miteinander geschlafen hatten, hatte er hinterher oft gesagt, er wünschte, sie würden nicht verhüten und er hätte sie schwängern können. Und jedes Mal hatte ihr das die Stimmung verdorben.
Gleichzeitig hatte sie sich noch nie so geborgen gefühlt, so geliebt. Mehr konnte man vermutlich nicht verlangen, und vielleicht war die Zeit reif für eine Entscheidung. Ihre früheren Liebschaften waren erfolglos geblieben. Sie hatte niemals richtig geliebt und wusste auch nicht, ob sie das jetzt wirklich tat. Vielleicht war sie dazu einfach nicht in der Lage.
Der Hund bellte und riss sie aus ihren Gedanken. Sein Bellen klang wie ein Jagdsignal. Vielleicht hatte er die Spur eines Kaninchens gefunden, von denen es auf Gotland nur so wimmelte.
"Spencer! Komm her!", befahl sie.
Brav kam der Hund angelaufen und beschnupperte dabei den Boden. Helena ging in die Hocke und streichelte ihn. Sie versuchte, auf das Meer hinauszuschauen, aber sie konnte Himmel und Wasser kaum unterscheiden. An klaren Tagen waren von hier aus die Felsen auf den Inseln Stora und Lilla Karlsö zu sehen.
Helena fröstelte. Auf Gotland war der Frühling zwar immer recht kühl, aber dass sich die Kälte bis in den Juni hielt, war doch ungewöhnlich. Die feuchtkalte Luft durchdrang alle Stoffschichten. Sie trug ein T-Shirt, ein Sweatshirt und eine Strickjacke, aber sie fror trotzdem. Sie erhob sich, zog ihre Jacke fester zusammen und machte sich auf den Rückweg. Hoffentlich ist Per schon wach, damit wir reden können, dachte sie.
Langsam fühlte sie sich besser, und in ihr wuchs die Zuversicht, dass vielleicht doch noch nicht alles zerstört war. Später könnte sie die Freunde anrufen, und bald würde alles vergessen sein. Pers Eifersucht hatte sich doch schon gebessert. Und schließlich war sie diejenige, die zuerst gekratzt und geschlagen hatte.
Als sie den Anfang des Strandes wieder erreichte, war der Nebel noch dichter geworden. Weiß, weiß, weiß. Wohin sie sich auch drehte. Ihr fiel auf, dass sie Spencer schon lange nicht mehr gehört hatte. Das Einzige, was sie deutlich erkennen konnte, waren ihre halb im Sand versunkenen Turnschuhe. Sie rief einige Male. Wartete. Er kam nicht. Seltsam.
Sie ging einige Schritte zurück und versuchte angestrengt, etwas durch die Nebeldecke zu sehen.
"Spencer! Komm her!"
Keine Reaktion. Verdammter Hund. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.
Etwas stimmte hier nicht. Sie blieb stehen und horchte, hörte aber nur das Schwappen der Wellen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Plötzlich zerriss ein kurzes, scharfes Bellen die Stille. Es folgte ein Knurren, das gleich wieder verstummte. Das war Spencer.
Was war da los?
Sie blieb regungslos stehen und versuchte, die Panik zu unterdrücken, die sich in ihr breit machte. Der undurchdringliche Nebel umschloss sie. Sie kam sich vor wie in einem Vakuum und schrie:
"Spencer! Hierher!"
Dann spürte sie hinter sich eine Bewegung und begriff, dass irgendwer ganz in ihrer Nähe stand. Langsam drehte sie sich um.
"Ist da jemand?", fragte sie.
In der Redaktion der Regionalnachrichten des großen, angesehenen Fernsehsenders herrschte eine müde Stimmung. Die Morgenbesprechung war überstanden.
Hier und da saßen Reporter mit ihren Kaffeetassen. Einer telefonierte, eine starrte ihren Computer an, zwei steckten die Köpfe zusammen und waren in ein leises Gespräch vertieft. Der eine oder andere Kameramann blätterte lustlos in den Zeitungen vom Vorabend.
Überall Papierstapel, herumliegende Zeitungen, halb leere Kaffeetassen, Telefone, Computer, Faxe, Ordner und Mappen.
Am Produktionstisch, dem Mittelpunkt der Redaktion, saß an diesem frühen Vormittag nur der leitende Redakteur Max Grenfors.
Die Leute hier begreifen einfach nicht, wie gut sie es haben, dachte er, während er am Computer die Tagesbeiträge sichtete. Ein gewisses Maß an Feuer und Enthusiasmus musste man nach dem langen Pfingstwochenende doch erwarten können, aber hier herrschte nur Apathie. Nicht genug damit, dass es den Reportern bei der Besprechung an diesem tristen Dienstagmorgen an eigenen Ideen gefehlt hatte, sie quengelten auch wegen der Aufgaben, die ihnen zugeteilt wurden.
Max Grenfors hatte die Fünfzig knapp überschritten, was man ihm jedoch nicht ansah. Sein inzwischen grau meliertes Haar ließ er regelmäßig bei einem der besten Friseure der Stadt dunkel nachfärben. Seinen Körper hielt er durch lange, einsame Schichten im hauseigenen Fitnessstudio in Form. Mittags zog er Hüttenkäse oder Joghurt vor dem Computer den fetten Gerichten in der lauten Kantine mit seinen lärmenden Kollegen vor. Max Grenfors fand, den meisten Reportern fehle es an Geist und Tatkraft, die er besessen hatte, ehe er schließlich im Redakteurssessel gelandet war.
Als leitender Redakteur konnte er die Inhalte der Sendungen festlegen, er konnte entscheiden, welche Beiträge gemacht wurden und wie lang sie ausfallen sollten. Er mischte sich gern in die jeweilige Gestaltung ein, was oft zu Verärgerung unter den Reportern führte. Das störte ihn nicht weiter, wenn er nur das letzte Wort behielt.
Vielleicht lag es an dem langen Winter und dem feuchten, windigen Frühling, mit einer Kälte, die offenbar nicht enden wollte, dass die Müdigkeit wie eine klamme Wolldecke über der Redaktion lag. Die ersehnte Sommerwärme schien noch in ferner Zukunft zu liegen.
Grenfors markierte die Reportagen, die gesendet werden sollten, und stellte eine Reihenfolge her. Das Hauptthema des Tages war die finanzielle Notlage des Universitätskrankenhauses von Uppsala, gefolgt vom Streik in Österåker, dem nächtlichen Schusswechsel in Södertälje und der Katze Elsa, die von zwei zwölfjährigen Jungen vor dem sicheren Tod auf einer Sperrmüllhalle in Alby gerettet worden war. Echter human touch, dachte der Redakteur befriedigt und vergaß darüber für eine Weile seine Unzufriedenheit. Kindliche Helden und Tiere sprechen das Publikum immer an.Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass der Nachrichtensprecher die Redaktion betrat. Es war Zeit, die Themen durchzugehen und für die übliche Diskussion der Frage, welcher Studiogast für diesen Abend eingeladen werden sollte.
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Autoren-Porträt von Mari Jungstedt
Mari Jungstedt, geboren 1962 in Stockholm, Studium der Journalistik, seit 14 Jahren tätig als Radio- und TV-Journalistin. Für das schwedische Fernsehen ist sie Nachrichtensprecherin, Redakteurin und Programmleiterin - vor und hinter der Kamera.Dr. Gabriele Haefs studierte in Bonn und Hamburg Sprachwissenschaft. Seit 25 Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen. Sie wurde dafür u.a. mit dem Gustav- Heinemann-Friedenspreis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. 2011 wurde Gabriele Haefs als Königlich Norwegische Ritterin des St.Olavs Ordens in der Norwegischen Botschaft in Berlin ausgezeichnet u.a. für ihre Übersetzungen, für die Vermittlung von norwegischen Büchern nach Deutschland sowie für das Knüpfen von Kontakten im Kulturbereich ganz allgemein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mari Jungstedt
- 2004, 383 Seiten, Maße: 14,1 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Haefs, Gabriele
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453879902
- ISBN-13: 9783453879904
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