Der Junge, der Anne Frank liebte
Roman
Europa 1945. Der junge Peter van Pels hat als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt. Er wandert nach Amerika aus, wo er ein neues Leben sucht, frei von seiner jüdischen Herkunft. Er verliebt sich in eine junge behütete Frau, heiratet sie, drei...
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Produktinformationen zu „Der Junge, der Anne Frank liebte “
Europa 1945. Der junge Peter van Pels hat als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt. Er wandert nach Amerika aus, wo er ein neues Leben sucht, frei von seiner jüdischen Herkunft. Er verliebt sich in eine junge behütete Frau, heiratet sie, drei Kinder werden geboren. Die Familie ist glücklich. Doch nachdem er das Tagebuch der Anne Frank auf dem Nachttisch seiner Frau findet, erkennt er schmerzhaft, daß er seiner Vergangenheit nicht entrinnen kann. Denn Peter van Pels war im Amsterdamer Exil Annes Jugendfreund. Ihr hatte er im Februar 1944 anvertraut, sich nach dem Krieg neu erfinden zu wollen. Und hier erzählt Ellen Feldman für ihn die Geschichte, die vielleicht so hätte passieren können.
Klappentext zu „Der Junge, der Anne Frank liebte “
Europa 1945. Der junge Peter van Pels hat als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt. Er wandert nach Amerika aus, wo er ein neues Leben sucht, frei von seiner jüdischen Herkunft. Er verliebt sich in eine junge behütete Frau, heiratet sie, drei Kinder werden geboren. Die Familie ist glücklich. Doch nachdem er das Tagebuch der Anne Frank auf dem Nachttisch seiner Frau findet, erkennt er schmerzhaft, daß er seiner Vergangenheit nicht entrinnen kann. Denn Peter van Pels war im Amsterdamer Exil Annes Jugendfreund. Ihr hatte er im Februar 1944 anvertraut, sich nach dem Krieg neu erfinden zu wollen. Und hier erzählt Ellen Feldman für ihn die Geschichte, die vielleicht so hätte passieren können.
Lese-Probe zu „Der Junge, der Anne Frank liebte “
PROLOG13. August 1946
Nichts unterschied ihn von der Menge, außer der Tatsache, daß er nicht auffallen wollte. Aber das konnte man ihm nicht ansehen. Alles, was man sah, war ein hagerer junger Mann mit Wolfsaugen wie die Horden junger Männer, die sich nach dem Krieg gegenseitig auf die Schulter nahmen, und den Reklameglanz von Neonlichtern und einladenden Festzelten. Er konnte kein Städter sein, so wie er die Rauchringe der Camel-Werbung über seinem Kopf anstarrte, aber das war nichts Besonderes. An einem sanften Sommerabend war der Times Square voller Touristen.
Er hatte ein Jahr gebraucht, um hierherzukommen. So lange war es her, fast auf die Woche genau, daß er diese eselsohrige Ausgabe des Life-Magazins gesehen hatte mit dem Foto eines amerikanischen Jungen in Matrosenuniform, betrunken nach Präsident Trumans Erklärung, daß die Japaner kapituliert hatten. Er hielt eine weißgekleidete Krankenschwester im Arm, nach hinten gebogen, und gab ihr einen orgiastischen Friedenskuß. Als er es sah, wußte er sofort, wo er hingehen wollte. Das war ein Land, in dem Uniformen so unschuldig waren wie Kinderkleidung. Das war eine Stadt, in der Menschen ihre Freude offen zeigen konnten. Hier war ein Ort, wo er glücklich werden konnte.
Der makellose Glorienschein amerikanischen Einfallsreichtums setzte sich in dem perfekten O fort, das aus dem Mund des Rauchers kam. Er wußte, wie es gemacht wurde, er hatte sich mit einem Mitglied der Schiffscrew angefreundet und ihn mit allen möglichen Fragen gelöchert. Die Ringe hatten zehn Fuß Durchmesser und bestanden nicht aus Rauch, sondern aus Dampf aus einer Gebäudeheizung, der sich in einem Reservoir hinter dem Plakat befand. Alle vier Sekunden drückte ein mit Kolben angetriebener Membranverschluß den Dampf durch die Öffnung. Was für ein Land, was für ein Volk, das seinen Geist für solche Zwecke verwendete!
Und nun war er einer von ihnen. Er war an diesem Morgen über die Gangway zum Pier gekommen, ein Neueinwanderer, ein
... mehr
Greenhorn, eine Displaced Person. Eine Stunde später hatte er die Zollhalle als hundertprozentiger Amerikaner verlassen. Und er hatte noch nicht einmal lügen müssen. Alles, was er zu tun gehabt hatte, war, ruhig zu bleiben. Er hatte fast fünfundzwanzig Monate, siebenhundertunddreiundfünfzig Tage, um genau zu sein, ruhig bleiben müssen
Pst. Sag nichts. Bewege dich nicht. Es könnte uns jemand hören.
ERSTES BUCH 1952
EINS
Es ist zu allen Zeiten gefordert, leise zu sprechen. Erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch.
Anne Frank, Tagebuch, 17. November 1942
Der Name des Arztes war Gabor. Wie diese ungarischen Schwestern mit all ihren Juwelen und ihren Ehemännern, sagte ich zu meiner Frau. Zsa Zsa, Eva, und wie die dritte heißt, vergesse ich immer. Ich versuchte, einen Witz daraus zu machen. Ich versuchte, kein Spielverderber zu sein. Sie werden nirgendwo hinkommen, wenn Sie so empfindlich sind, hatte man mich gewarnt, obwohl das nun schon Jahre her war.
Ich war nicht kampflustig. Ich hätte nicht entgegenkommender sein können, als Dr. Gabor mir die Tür zwischen dem Wartezimmer und dem Sprechzimmer aufhielt. Mit einem Nicken seines kleinen, mit ölig glänzenden schwarzen Haaren bedeckten Kopfs forderte er mich auf, an ihm vorbeizugehen. Ich betrat das Zimmer.
Die Jalousien waren gegen den sonnenglühenden Nachmittag dicht geschlossen. Schatten verschluckten die Ecken des Raums. Unter dem Fenster murmelte eine Klimaanlage unbestimmte Drohungen. An einer Wand duckte sich ein schwarzes Ledersofa. Ich umrundete es in einem weiten Bogen und nahm auf dem Stuhl diesseits des Schreibtischs Platz. Dr. Gabor trat hinter den Tisch und setzte sich in den mächtigen Stuhl mir gegenüber. Er war kein großer Mann, einen Kopf kleiner als ich und dreißig Pfund leichter, schätzte ich. Ich stellte mir vor, daß seine Füße unter dem Tisch etliche Zentimeter über dem Boden baumelten, munter und hilflos. Ich könnte ihn leicht überwältigen.
Er griff nach einem gelben Block und zog einen der Stifte, die in einer etruskischen Vase steckten, heraus. Der Tisch war überladen wie ein Pfandhaus mit dem Werkzeug seines Berufs: das Papier und den Stift, die er zur Hand genommen hatte, ein Telefon, ein halbes Dutzend Bücher mit den Buchrücken zu ihm, eine Uhr, ebenfalls mit dem Zifferblatt zu ihm. Dann gab es noch einige Kuriositäten, aber vielleicht gehörten sie auch zum Gewerbe: eine Reproduktion von Rodins Bürger von Calais - seltsam, daß er sich angesichts seines Berufs nicht für den Kuß entschieden hatte -, einige präkolumbianische Köpfe mit ausgehöhlten Augen und aufgerissenen Mündern, zwei afrikanische Statuen, eine mit einem vorgewölbten Bauch und hängenden Brüsten wie Auberginen, die andere mit einem Penis wie ein Maschinengewehr. Dr. Gabor hatte die Figur gegen mich gerichtet. Ich wollte ihm sagen, daß dies nicht das Problem sei; es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich Angst, es könnte es werden, aber jetzt nicht mehr.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und schaute mich durch seine Drahtgestellbrille an. Er hatte den weiten, hohlen Blick einer Eule. Er war nicht beruhigend. Die anderen Ärzte hatten mir gesagt, er sei meine letzte Hoffnung, dieser ungarische Herr in seinem taillierten Zweireiher, der nach langen Nachmittagen in Boulevard-Cafes und trägen Stunden mit jenen blonden Damen aussah, die seinen Namen trugen. Der Anzug konnte kein Zufall sein. Kleidung ist die einfachste Tarnung. Ich hatte mich wie ein Amerikaner oder wenigestens wie ein G.I. angezogen, bevor ich an jenem Morgen im August die Gangway hinuntergegangen war. Vielleicht war das der Punkt. Dr. Gabor, der länger hier war als ich, seit einigen Jahren vor dem Krieg, wie den gerahmten Zeugnissen an der Wand zu entnehmen war, zeigte seine Verbindung zur Alten Welt, aber vielleicht widerstand er auch nur den Vulgaritäten der Neuen. Ich war sicher, daß er sie als Vulgaritäten ansah.
"So, Herr van Pels", sagte er und wippte ein bißchen in seinem großen Lederstuhl, "Sie haben also Ihre Stimme verloren."
Ihr habt eure Handschuhe verloren, ihr unartigen Kätzchen, liest meine Frau unserer Tochter vor.
Ich nickte, obwohl ich damals noch flüstern konnte. Drei Wochen später konnte ich nicht einmal mehr das. Ich war in der Lage, meinen Mund aufzumachen und Worte zu formen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Nun gelang es mir, ein klägliches Wimmern auszustoßen, schwach wie das eines Babys. Nein, ein Baby kann schreien. Man sollte nur meine Tochter gehört haben, wie sie brüllte, als der Arzt sie ins Leben zog. Ihr Schrei hallte in der ganzen Welt wider. Ich hatte meinen Mund zu einem lauten Jubel geöffnet, doch ihr Anblick, wie sie an ihren schleimig-glitschigen Füßen festgehalten und geschwenkt wurde, roh und blutig wie ein Stück Fleisch, erstickte den Laut in meiner Kehle. Ich stellte mir vor, wie sie auf den Boden fiel und über das gemusterte Linoleum rutschte. Ich stellte mir vor, wie der Doktor einem wilden Bedürfnis nachgab, meine Tochter durch die Luft flog und gegen die kalkweiße Wand knallte. Meine Frau bezweifelt meine Erinnerung an den Anblick unserer neugeborenen Tochter. Sie sagt, ich hätte nicht dort sein können. Aber sie stand damals unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln, und ich weiß, daß ich mich nicht irre. Vielleicht schlich ich vor dem Kreißsaal herum und erhaschte nur einen Blick durch die geöffnete Tür. Der Anblick meiner Tochter brachte mich damals zum Schweigen, und irgend etwas hat mir jetzt meine Stimme geraubt. Niemand kann mir erklären, wie das kommt.
Ich war schon bei einer ganzen Armee von Ärzten. Sie steckten Tuben in meine Kehle, sie machten Röntgenbilder von meinem Nacken und drückten da und dort, untersuchten und stellten endlose Fragen. Ich mußte die Antworten auf einen Block schreiben. Was essen Sie? Alles. Wieviel trinken Sie? Nicht viel. Rauchen Sie?
Das fragten alle, und ich sagte, daß ich das nicht tat. Haben Sie jemals geraucht? Sie klangen wie eine jener Senatsanhörungen, von denen man immer in der Zeitung liest. Sind Sie jetzt das und das, oder sind Sie es je gewesen? Nie, schrieb ich, obwohl ich als Jugendlicher gelegentlich Zigaretten probiert hatte. Ich mag den Geruch noch immer. Aus irgendwelchen Gründen finde ich ihn beruhigend. Aber das Vergnügen aus zweiter Hand reichte mir, ich hatte es mir nie angewöhnt. Das teilte ich ihnen nicht mit. Auch ohne diese unwesentlichen Details gab es genug aufzuschreiben.
Sie gingen über zu den Allergien. Sind Sie auf irgend etwas allergisch? Nicht daß ich wüßte, schrieb ich auf den Block. Und als Kind? Ist etwas bekannt über Allergien in der Kindheit? Nein, kritzelte ich. Nichts bekannt über die Kindheit. Die war konfisziert, verbrannt, aus der Existenz bombardiert. Sie war an einem geheimen Ort versteckt, so geheim, daß ich mich nicht an sie erinnerte. Doch das schrieb ich auch nicht auf.
"Kam der Verlust allmählich?" fragte mich Dr. Gabor nun. "Geschah es plötzlich, oder haben Sie gespürt, wie Ihre Stimme schwächer wurde?"
"Über Nacht", krächzte ich. "Buchstäblich. Ich ging mit Stimme schlafen und wachte ohne auf."
"Ist in jener Nacht etwas Außergewöhnliches passiert?" Ich schüttelte den Kopf. "Was ist mit Träumen?" "Ich träume nicht." Er starrte mich weiter an. "Nein, tue ich nicht", wiederholte ich. Er lehnte sich weiter in seinem Stuhl zurück und schaute mich über die lange, schmale Nase an, die ein Gesicht teilte, das so flach war wie die große ungarische Ebene. "Erzählen Sie mir von sich, Herr van Pels."
"Ich bin Bauunternehmer von Beruf", flüsterte ich. "Ich habe eine Frau und zwei Töchter, eine ist drei Jahre alt und eine achtzehn Monate. Ich lebe in Indian Hills. Das ist unser Projekt, meins und das meines Partners." Gabor schaute vom Block auf. "Das ist alles", krächzte ich.
"Wo wurden Sie geboren? Ich bemerke einen leichten Akzent."
Sie bemerken einen leichten Akzent, Doktor? Ausgerechnet Sie mit der singenden Sprechweise, die sich bewegt wie die ungarische Fahne im Wind. Ich habe bisher noch keinen Ihrer Landsleute getroffen, der sich von diesem Tonfall befreien konnte. Mein Akzent verrät weniger. Nicht richtig deutsch, fangen die Leute an, wenn sie versuchen, mich einzuschätzen. Ein Hauch Niederländisch, raten sie. Du hast britisches Englisch gelernt, kein amerikanisches, bemerkte meine Frau, als
ich zum ersten Mal mit ihr sprach. Sie behauptet, sie habe sich in meinen französischen Akzent verliebt, obwohl ich ihr immer sage, er ist nicht so gut, wie sie denkt.
Ich bin vielleicht besser in Französisch, Peter, aber du bist viel besser in Englisch. "Osnabrück", flüsterte ich. "Sie sind Deutscher." "Ich bin amerikanischer Staatsbürger." "Deutsch von Geburt, meine ich." "Mein Vater war Niederländer und sein Vater ebenso. Ich bin nur zufällig in Deutschland geboren." "Wann war das?"
"Am 8. November 1926", sagte ich, obwohl der 13. August 1946 der Wahrheit näher gekommen wäre. "Und wann kamen Sie hierher?" "Am 13. August 1946." "Sie waren während des Krieges also in Deutschland?" Niemand wird wissen, daß wir hier sind. Von außen kann man es nicht sehen. "Ich war in Europa." "Sind Sie Jude, Herr van Pels?" "Sind Sie es, Doktor?"
"Ich bin nicht wichtig. Es ist nur ein Mittel, das uns helfen soll, Sie zu verstehen." "Da ist nichts zu verstehen."
"Zu verstehen, warum Sie Ihre Stimme verloren haben. Sie haben gesagt, Sie wurden in Deutschland geboren, aber Sie waren während des Krieges irgendwo anders. Deshalb habe ich gefragt, ob Sie Jude sind." "Nein. Aber meine Frau ist Jüdin." Normalerweise erzähle ich das den Leuten nicht, aber da wir nun einmal darüber sprechen wollten, was ich während des Kriegs in Europa getan hatte, schien es mir angebracht zu sein. Dadurch konnten auch irgendwelche unterschwelligen Peinlichkeiten vermieden werden. Vor ein paar Monaten hat mich der Mann, mit dem ich bei der First-Mutual-Bank zu tun habe, gefragt, ob ich daran interessiert sei, dem Country Club beizutreten, aber danach erwähnte er das Thema nie mehr. Ich wäre keinesfalls beigetreten, doch die Tatsache, daß er seither außerstande ist, mir in die Augen zu sehen, wenn das Thema Golf aufkommt, ist schlecht fürs Geschäft.
"Dann waren Sie also in der Armee? Sie müssen...", er warf einen Blick auf den gelben Block, "...dreizehn gewesen sein, als der Krieg begann, und achtzehn, als er endete."
"Ich habe die meiste Zeit in Amsterdam verbracht."
Ich konnte sehen, wie er beim Schreiben nachdachte.
Was haben Sie in Amsterdam getan, Herr van Pels?
Juden zusammengetrieben, da Sie ja kein Angehöriger des auserwählten Volks sind, oder einfach nur niederländische Bürger verprügelt? Er war nicht der einzige, der sich wunderte. Soweit ich sehen konnte, war verdächtigt zu werden der Preis, den man dafür bezahlen mußte, kein Jude zu sein. Angesichts der jüngsten Geschichte gab es wohl keine andere Möglichkeit.
"Was ist mit Ihrer Familie? Ist Ihre Familie mit Ihnen in dieses Land gekommen?" Das amerikanische Konsulat
Rotterdam
Hiermit wird bestätigt, daß am 10. Februar 1939 Hermann, Auguste und Peter van Pels in die Warteliste für eine Emigration nach Amerika eingetragen wurden. "Meine Eltern sind tot."
Er schaute mich weiter an.
"Kriegsopfer." Das Wort war ein geheimnisvolles Flüstern in dem dämmrigen Raum. "Brüder oder Schwestern?" Es wird sein, als hättest du zwei Schwestern. Es wird sein, als hättest du zwei Freundinnen - in derselben Wohnung. Schau mal, Kerli, wie rot er wird. "Keine Brüder oder Schwestern." "Irgendwelche überlebenden Verwandten?" Wollte er eine Liste? Großvater Aaron verhaftet nach der Kristallnacht, tot, bevor wir untergetaucht waren. Tante Hetty in Auschwitz, Tante Klara in Sobibor. Ich schüttelte den Kopf.
"Tut mir leid", murmelte er, und ich konnte sehen, wie er nachdachte. Was immer ich im Krieg erlebt hatte - und darüber grübelte er noch -, es war kein Zuckerschlecken gewesen. Bequem, solche Redewendungen. Von Anfang an haben sie mich von den anderen Displaced Persons und Greenhorns unterschieden, von den Greenies, wie diejenigen, die seit einer Generation oder auch nur seit zehn Jahren hier waren, uns nannten. "Es muß schwierig gewesen sein", fuhr er fort. Schwierig. Ach, diese Worte, auf die wir kommen, um uns das Undenkbare vom Leib zu halten. Ja, Doktor, es war schwierig. Doch es war auch hilfreich, obwohl es eine Schande ist, das zu sagen. Wenn ich nicht allein gewesen wäre, säße ich jetzt nicht hier. Ich hatte einen Kameraden im D.-P.-Lager, einen Polen, der nicht seine ganze Familie in einem einzigen Augenblick oder eben im Laufe eines Jahres verloren hat. Seine Frau und drei seiner fünf Kinder hatten überlebt. Genaugenommen lernte ich ihn schon vor dem D.-P.-Lager kennen, als er noch dachte, er hätte sie alle verloren. Wir lebten damals draußen, Überlebende unterwegs, und nahmen uns das, was wir brauchten, da, wo wir es finden konnten.
Es reicht, Peter. Wir haben genug Spaß für eine Nacht gehabt. Außerdem, der alte Mann hat nichts. Er schläft im Stall mit seinen Tieren.
Doch dann erfuhr er, daß seine Frau und drei seiner fünf Kinder überlebt hatten. Im D.-P.-Lager bekamen sie noch ein Kind. Die Eile, sich in diesem Lager zu reproduzieren, war auffallend. Ich verstand es, aber ich kannte auch die Tatsachen des Lebens. Ich würde beim amerikanischen Konsulat in Rotterdam nicht den Fehler meines Vaters wiederholen. Ein junger, gesunder Mann ohne Anhang hatte die besten Aussichten, ein Visum zu bekommen. Hatte man dazu eine Frau, sank man sofort um ein paar Stufen. Hatte man dann noch vier Kinder, konnte man die Hoffnung fahrenlassen. Aber der Pole war Maschinenarbeiter, er hatte sich qualifiziert, trotz Frau und vier Kindern. Er schaffte es, seine ganze Familie bis zur medizinischen Prüfung zu bringen. Da konnte man nicht mehr tricksen. Und bei der medizinischen Prüfung war es auch, wo man die Flecken auf der Lunge seiner Frau fand. Ich konnte nicht begreifen, warum sie so überrascht waren. Das eigentlich Erstaunliche war doch, daß nicht jeder im Lager Flecken auf der Lunge oder Tuberkulose oder ein Dutzend anderer Krankheiten und Gebrechen hatte. Mein Körper verheimlichte die Erinnerung an jene Jahre, während der ich wie ein unerwünschtes Andenken auf einem Dachboden eingesperrt war und von verfaulten Kartoffeln und schimmeligen Bohnen lebte, obwohl meine Situation mir damals gar nicht so bewußt war. Aber die Frau des Polen hatte Flecken auf der Lunge. Sie sagte zu ihm, er solle ohne sie fahren. Wenn die Flecken verschwunden wären, würde sie ihm mit den Kindern folgen. Er sagte, kommt nicht in die Tüte. Er hatte seinen amerikanischen Slang seit Monaten perfektioniert. Kommt nicht in die Tüte, sagte er, sie würden als Familie gehen oder überhaupt nicht. Überhaupt nicht, darauf lief es hinaus. Während sie darauf warteten, daß die Flecken verschwanden, lösten die Behörden das Lager auf und repatriierten alle Insassen. Und dann ließ Onkel Joe Stalin seinen Vorhang fallen, und nun steckt der Pole mit seiner Frau und vier Kindern in einem kommunistischen Loch, falls sie überhaupt noch am Leben sind. Sehen Sie, Dr. Gabor, es hatte Vorteile, niemanden zu haben, obwohl es sich nicht gehört, so etwas zu sagen.
"Was war hier in diesem Land? Hatten Sie irgendwelche Verwandten, als Sie ankamen?"
Er hatte die Bürgschaftspapiere unterschrieben und das Geld für die Überfahrt geschickt, aber er hatte nicht gefragt, wann ich ankam, und ich hatte ihm nicht geschrieben, um es ihm mitzuteilen. Ich konnte mich an den Bruder meines Vaters kaum erinnern, den Bruder, der in der Liste des amerikanischen Konsulats in Rotterdam höher gestanden hatte. Onkel war ein weiteres Wort ohne Bedeutung. Ich schüttelte den Kopf."Es muß schwierig gewesen sein." Er wiederholte die Formulierung, die für eine Welt außerhalb seiner Vorstellungskraft so nützlich war, doch diesmal irrte er sich. Vor Amerika war es schwierig, wenn man es beschönigend ausdrücken will. Amerika war tatsächlich ein Zuckerschlecken. "Ich war glücklich, hier zu sein." "Erzählen Sie mir davon."
Pst. Sag nichts. Bewege dich nicht. Es könnte uns jemand hören.
ERSTES BUCH 1952
EINS
Es ist zu allen Zeiten gefordert, leise zu sprechen. Erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch.
Anne Frank, Tagebuch, 17. November 1942
Der Name des Arztes war Gabor. Wie diese ungarischen Schwestern mit all ihren Juwelen und ihren Ehemännern, sagte ich zu meiner Frau. Zsa Zsa, Eva, und wie die dritte heißt, vergesse ich immer. Ich versuchte, einen Witz daraus zu machen. Ich versuchte, kein Spielverderber zu sein. Sie werden nirgendwo hinkommen, wenn Sie so empfindlich sind, hatte man mich gewarnt, obwohl das nun schon Jahre her war.
Ich war nicht kampflustig. Ich hätte nicht entgegenkommender sein können, als Dr. Gabor mir die Tür zwischen dem Wartezimmer und dem Sprechzimmer aufhielt. Mit einem Nicken seines kleinen, mit ölig glänzenden schwarzen Haaren bedeckten Kopfs forderte er mich auf, an ihm vorbeizugehen. Ich betrat das Zimmer.
Die Jalousien waren gegen den sonnenglühenden Nachmittag dicht geschlossen. Schatten verschluckten die Ecken des Raums. Unter dem Fenster murmelte eine Klimaanlage unbestimmte Drohungen. An einer Wand duckte sich ein schwarzes Ledersofa. Ich umrundete es in einem weiten Bogen und nahm auf dem Stuhl diesseits des Schreibtischs Platz. Dr. Gabor trat hinter den Tisch und setzte sich in den mächtigen Stuhl mir gegenüber. Er war kein großer Mann, einen Kopf kleiner als ich und dreißig Pfund leichter, schätzte ich. Ich stellte mir vor, daß seine Füße unter dem Tisch etliche Zentimeter über dem Boden baumelten, munter und hilflos. Ich könnte ihn leicht überwältigen.
Er griff nach einem gelben Block und zog einen der Stifte, die in einer etruskischen Vase steckten, heraus. Der Tisch war überladen wie ein Pfandhaus mit dem Werkzeug seines Berufs: das Papier und den Stift, die er zur Hand genommen hatte, ein Telefon, ein halbes Dutzend Bücher mit den Buchrücken zu ihm, eine Uhr, ebenfalls mit dem Zifferblatt zu ihm. Dann gab es noch einige Kuriositäten, aber vielleicht gehörten sie auch zum Gewerbe: eine Reproduktion von Rodins Bürger von Calais - seltsam, daß er sich angesichts seines Berufs nicht für den Kuß entschieden hatte -, einige präkolumbianische Köpfe mit ausgehöhlten Augen und aufgerissenen Mündern, zwei afrikanische Statuen, eine mit einem vorgewölbten Bauch und hängenden Brüsten wie Auberginen, die andere mit einem Penis wie ein Maschinengewehr. Dr. Gabor hatte die Figur gegen mich gerichtet. Ich wollte ihm sagen, daß dies nicht das Problem sei; es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich Angst, es könnte es werden, aber jetzt nicht mehr.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und schaute mich durch seine Drahtgestellbrille an. Er hatte den weiten, hohlen Blick einer Eule. Er war nicht beruhigend. Die anderen Ärzte hatten mir gesagt, er sei meine letzte Hoffnung, dieser ungarische Herr in seinem taillierten Zweireiher, der nach langen Nachmittagen in Boulevard-Cafes und trägen Stunden mit jenen blonden Damen aussah, die seinen Namen trugen. Der Anzug konnte kein Zufall sein. Kleidung ist die einfachste Tarnung. Ich hatte mich wie ein Amerikaner oder wenigestens wie ein G.I. angezogen, bevor ich an jenem Morgen im August die Gangway hinuntergegangen war. Vielleicht war das der Punkt. Dr. Gabor, der länger hier war als ich, seit einigen Jahren vor dem Krieg, wie den gerahmten Zeugnissen an der Wand zu entnehmen war, zeigte seine Verbindung zur Alten Welt, aber vielleicht widerstand er auch nur den Vulgaritäten der Neuen. Ich war sicher, daß er sie als Vulgaritäten ansah.
"So, Herr van Pels", sagte er und wippte ein bißchen in seinem großen Lederstuhl, "Sie haben also Ihre Stimme verloren."
Ihr habt eure Handschuhe verloren, ihr unartigen Kätzchen, liest meine Frau unserer Tochter vor.
Ich nickte, obwohl ich damals noch flüstern konnte. Drei Wochen später konnte ich nicht einmal mehr das. Ich war in der Lage, meinen Mund aufzumachen und Worte zu formen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Nun gelang es mir, ein klägliches Wimmern auszustoßen, schwach wie das eines Babys. Nein, ein Baby kann schreien. Man sollte nur meine Tochter gehört haben, wie sie brüllte, als der Arzt sie ins Leben zog. Ihr Schrei hallte in der ganzen Welt wider. Ich hatte meinen Mund zu einem lauten Jubel geöffnet, doch ihr Anblick, wie sie an ihren schleimig-glitschigen Füßen festgehalten und geschwenkt wurde, roh und blutig wie ein Stück Fleisch, erstickte den Laut in meiner Kehle. Ich stellte mir vor, wie sie auf den Boden fiel und über das gemusterte Linoleum rutschte. Ich stellte mir vor, wie der Doktor einem wilden Bedürfnis nachgab, meine Tochter durch die Luft flog und gegen die kalkweiße Wand knallte. Meine Frau bezweifelt meine Erinnerung an den Anblick unserer neugeborenen Tochter. Sie sagt, ich hätte nicht dort sein können. Aber sie stand damals unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln, und ich weiß, daß ich mich nicht irre. Vielleicht schlich ich vor dem Kreißsaal herum und erhaschte nur einen Blick durch die geöffnete Tür. Der Anblick meiner Tochter brachte mich damals zum Schweigen, und irgend etwas hat mir jetzt meine Stimme geraubt. Niemand kann mir erklären, wie das kommt.
Ich war schon bei einer ganzen Armee von Ärzten. Sie steckten Tuben in meine Kehle, sie machten Röntgenbilder von meinem Nacken und drückten da und dort, untersuchten und stellten endlose Fragen. Ich mußte die Antworten auf einen Block schreiben. Was essen Sie? Alles. Wieviel trinken Sie? Nicht viel. Rauchen Sie?
Das fragten alle, und ich sagte, daß ich das nicht tat. Haben Sie jemals geraucht? Sie klangen wie eine jener Senatsanhörungen, von denen man immer in der Zeitung liest. Sind Sie jetzt das und das, oder sind Sie es je gewesen? Nie, schrieb ich, obwohl ich als Jugendlicher gelegentlich Zigaretten probiert hatte. Ich mag den Geruch noch immer. Aus irgendwelchen Gründen finde ich ihn beruhigend. Aber das Vergnügen aus zweiter Hand reichte mir, ich hatte es mir nie angewöhnt. Das teilte ich ihnen nicht mit. Auch ohne diese unwesentlichen Details gab es genug aufzuschreiben.
Sie gingen über zu den Allergien. Sind Sie auf irgend etwas allergisch? Nicht daß ich wüßte, schrieb ich auf den Block. Und als Kind? Ist etwas bekannt über Allergien in der Kindheit? Nein, kritzelte ich. Nichts bekannt über die Kindheit. Die war konfisziert, verbrannt, aus der Existenz bombardiert. Sie war an einem geheimen Ort versteckt, so geheim, daß ich mich nicht an sie erinnerte. Doch das schrieb ich auch nicht auf.
"Kam der Verlust allmählich?" fragte mich Dr. Gabor nun. "Geschah es plötzlich, oder haben Sie gespürt, wie Ihre Stimme schwächer wurde?"
"Über Nacht", krächzte ich. "Buchstäblich. Ich ging mit Stimme schlafen und wachte ohne auf."
"Ist in jener Nacht etwas Außergewöhnliches passiert?" Ich schüttelte den Kopf. "Was ist mit Träumen?" "Ich träume nicht." Er starrte mich weiter an. "Nein, tue ich nicht", wiederholte ich. Er lehnte sich weiter in seinem Stuhl zurück und schaute mich über die lange, schmale Nase an, die ein Gesicht teilte, das so flach war wie die große ungarische Ebene. "Erzählen Sie mir von sich, Herr van Pels."
"Ich bin Bauunternehmer von Beruf", flüsterte ich. "Ich habe eine Frau und zwei Töchter, eine ist drei Jahre alt und eine achtzehn Monate. Ich lebe in Indian Hills. Das ist unser Projekt, meins und das meines Partners." Gabor schaute vom Block auf. "Das ist alles", krächzte ich.
"Wo wurden Sie geboren? Ich bemerke einen leichten Akzent."
Sie bemerken einen leichten Akzent, Doktor? Ausgerechnet Sie mit der singenden Sprechweise, die sich bewegt wie die ungarische Fahne im Wind. Ich habe bisher noch keinen Ihrer Landsleute getroffen, der sich von diesem Tonfall befreien konnte. Mein Akzent verrät weniger. Nicht richtig deutsch, fangen die Leute an, wenn sie versuchen, mich einzuschätzen. Ein Hauch Niederländisch, raten sie. Du hast britisches Englisch gelernt, kein amerikanisches, bemerkte meine Frau, als
ich zum ersten Mal mit ihr sprach. Sie behauptet, sie habe sich in meinen französischen Akzent verliebt, obwohl ich ihr immer sage, er ist nicht so gut, wie sie denkt.
Ich bin vielleicht besser in Französisch, Peter, aber du bist viel besser in Englisch. "Osnabrück", flüsterte ich. "Sie sind Deutscher." "Ich bin amerikanischer Staatsbürger." "Deutsch von Geburt, meine ich." "Mein Vater war Niederländer und sein Vater ebenso. Ich bin nur zufällig in Deutschland geboren." "Wann war das?"
"Am 8. November 1926", sagte ich, obwohl der 13. August 1946 der Wahrheit näher gekommen wäre. "Und wann kamen Sie hierher?" "Am 13. August 1946." "Sie waren während des Krieges also in Deutschland?" Niemand wird wissen, daß wir hier sind. Von außen kann man es nicht sehen. "Ich war in Europa." "Sind Sie Jude, Herr van Pels?" "Sind Sie es, Doktor?"
"Ich bin nicht wichtig. Es ist nur ein Mittel, das uns helfen soll, Sie zu verstehen." "Da ist nichts zu verstehen."
"Zu verstehen, warum Sie Ihre Stimme verloren haben. Sie haben gesagt, Sie wurden in Deutschland geboren, aber Sie waren während des Krieges irgendwo anders. Deshalb habe ich gefragt, ob Sie Jude sind." "Nein. Aber meine Frau ist Jüdin." Normalerweise erzähle ich das den Leuten nicht, aber da wir nun einmal darüber sprechen wollten, was ich während des Kriegs in Europa getan hatte, schien es mir angebracht zu sein. Dadurch konnten auch irgendwelche unterschwelligen Peinlichkeiten vermieden werden. Vor ein paar Monaten hat mich der Mann, mit dem ich bei der First-Mutual-Bank zu tun habe, gefragt, ob ich daran interessiert sei, dem Country Club beizutreten, aber danach erwähnte er das Thema nie mehr. Ich wäre keinesfalls beigetreten, doch die Tatsache, daß er seither außerstande ist, mir in die Augen zu sehen, wenn das Thema Golf aufkommt, ist schlecht fürs Geschäft.
"Dann waren Sie also in der Armee? Sie müssen...", er warf einen Blick auf den gelben Block, "...dreizehn gewesen sein, als der Krieg begann, und achtzehn, als er endete."
"Ich habe die meiste Zeit in Amsterdam verbracht."
Ich konnte sehen, wie er beim Schreiben nachdachte.
Was haben Sie in Amsterdam getan, Herr van Pels?
Juden zusammengetrieben, da Sie ja kein Angehöriger des auserwählten Volks sind, oder einfach nur niederländische Bürger verprügelt? Er war nicht der einzige, der sich wunderte. Soweit ich sehen konnte, war verdächtigt zu werden der Preis, den man dafür bezahlen mußte, kein Jude zu sein. Angesichts der jüngsten Geschichte gab es wohl keine andere Möglichkeit.
"Was ist mit Ihrer Familie? Ist Ihre Familie mit Ihnen in dieses Land gekommen?" Das amerikanische Konsulat
Rotterdam
Hiermit wird bestätigt, daß am 10. Februar 1939 Hermann, Auguste und Peter van Pels in die Warteliste für eine Emigration nach Amerika eingetragen wurden. "Meine Eltern sind tot."
Er schaute mich weiter an.
"Kriegsopfer." Das Wort war ein geheimnisvolles Flüstern in dem dämmrigen Raum. "Brüder oder Schwestern?" Es wird sein, als hättest du zwei Schwestern. Es wird sein, als hättest du zwei Freundinnen - in derselben Wohnung. Schau mal, Kerli, wie rot er wird. "Keine Brüder oder Schwestern." "Irgendwelche überlebenden Verwandten?" Wollte er eine Liste? Großvater Aaron verhaftet nach der Kristallnacht, tot, bevor wir untergetaucht waren. Tante Hetty in Auschwitz, Tante Klara in Sobibor. Ich schüttelte den Kopf.
"Tut mir leid", murmelte er, und ich konnte sehen, wie er nachdachte. Was immer ich im Krieg erlebt hatte - und darüber grübelte er noch -, es war kein Zuckerschlecken gewesen. Bequem, solche Redewendungen. Von Anfang an haben sie mich von den anderen Displaced Persons und Greenhorns unterschieden, von den Greenies, wie diejenigen, die seit einer Generation oder auch nur seit zehn Jahren hier waren, uns nannten. "Es muß schwierig gewesen sein", fuhr er fort. Schwierig. Ach, diese Worte, auf die wir kommen, um uns das Undenkbare vom Leib zu halten. Ja, Doktor, es war schwierig. Doch es war auch hilfreich, obwohl es eine Schande ist, das zu sagen. Wenn ich nicht allein gewesen wäre, säße ich jetzt nicht hier. Ich hatte einen Kameraden im D.-P.-Lager, einen Polen, der nicht seine ganze Familie in einem einzigen Augenblick oder eben im Laufe eines Jahres verloren hat. Seine Frau und drei seiner fünf Kinder hatten überlebt. Genaugenommen lernte ich ihn schon vor dem D.-P.-Lager kennen, als er noch dachte, er hätte sie alle verloren. Wir lebten damals draußen, Überlebende unterwegs, und nahmen uns das, was wir brauchten, da, wo wir es finden konnten.
Es reicht, Peter. Wir haben genug Spaß für eine Nacht gehabt. Außerdem, der alte Mann hat nichts. Er schläft im Stall mit seinen Tieren.
Doch dann erfuhr er, daß seine Frau und drei seiner fünf Kinder überlebt hatten. Im D.-P.-Lager bekamen sie noch ein Kind. Die Eile, sich in diesem Lager zu reproduzieren, war auffallend. Ich verstand es, aber ich kannte auch die Tatsachen des Lebens. Ich würde beim amerikanischen Konsulat in Rotterdam nicht den Fehler meines Vaters wiederholen. Ein junger, gesunder Mann ohne Anhang hatte die besten Aussichten, ein Visum zu bekommen. Hatte man dazu eine Frau, sank man sofort um ein paar Stufen. Hatte man dann noch vier Kinder, konnte man die Hoffnung fahrenlassen. Aber der Pole war Maschinenarbeiter, er hatte sich qualifiziert, trotz Frau und vier Kindern. Er schaffte es, seine ganze Familie bis zur medizinischen Prüfung zu bringen. Da konnte man nicht mehr tricksen. Und bei der medizinischen Prüfung war es auch, wo man die Flecken auf der Lunge seiner Frau fand. Ich konnte nicht begreifen, warum sie so überrascht waren. Das eigentlich Erstaunliche war doch, daß nicht jeder im Lager Flecken auf der Lunge oder Tuberkulose oder ein Dutzend anderer Krankheiten und Gebrechen hatte. Mein Körper verheimlichte die Erinnerung an jene Jahre, während der ich wie ein unerwünschtes Andenken auf einem Dachboden eingesperrt war und von verfaulten Kartoffeln und schimmeligen Bohnen lebte, obwohl meine Situation mir damals gar nicht so bewußt war. Aber die Frau des Polen hatte Flecken auf der Lunge. Sie sagte zu ihm, er solle ohne sie fahren. Wenn die Flecken verschwunden wären, würde sie ihm mit den Kindern folgen. Er sagte, kommt nicht in die Tüte. Er hatte seinen amerikanischen Slang seit Monaten perfektioniert. Kommt nicht in die Tüte, sagte er, sie würden als Familie gehen oder überhaupt nicht. Überhaupt nicht, darauf lief es hinaus. Während sie darauf warteten, daß die Flecken verschwanden, lösten die Behörden das Lager auf und repatriierten alle Insassen. Und dann ließ Onkel Joe Stalin seinen Vorhang fallen, und nun steckt der Pole mit seiner Frau und vier Kindern in einem kommunistischen Loch, falls sie überhaupt noch am Leben sind. Sehen Sie, Dr. Gabor, es hatte Vorteile, niemanden zu haben, obwohl es sich nicht gehört, so etwas zu sagen.
"Was war hier in diesem Land? Hatten Sie irgendwelche Verwandten, als Sie ankamen?"
Er hatte die Bürgschaftspapiere unterschrieben und das Geld für die Überfahrt geschickt, aber er hatte nicht gefragt, wann ich ankam, und ich hatte ihm nicht geschrieben, um es ihm mitzuteilen. Ich konnte mich an den Bruder meines Vaters kaum erinnern, den Bruder, der in der Liste des amerikanischen Konsulats in Rotterdam höher gestanden hatte. Onkel war ein weiteres Wort ohne Bedeutung. Ich schüttelte den Kopf."Es muß schwierig gewesen sein." Er wiederholte die Formulierung, die für eine Welt außerhalb seiner Vorstellungskraft so nützlich war, doch diesmal irrte er sich. Vor Amerika war es schwierig, wenn man es beschönigend ausdrücken will. Amerika war tatsächlich ein Zuckerschlecken. "Ich war glücklich, hier zu sein." "Erzählen Sie mir davon."
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Autoren-Porträt von Ellen Feldman
Mirjam Pressler wurde 1940 in Darmstadt geboren - ein uneheliches Kind jüdischer Abstammung, das bei Pflegeeltern aufwuchs. In Frankfurt besuchte sie die Hochschule für Bildende Künste. Sie hat drei inzwischen erwachsene Töchter und fünf Enkelkinder. Die Liste der Berufe, die sie ausgeübt hat, ist lang. Ihre ersten Bücher schrieb sie nachts, neben Beruf, Familie und Haushalt.Gleich für ihre ersten Roman bekam sie den Oldenburger Jugendbuchpreis. Seit vielen Jahren schreibt sie hauptberuflich für und über Kinder und ihre Probleme. Für ihre eigenen Bücher und die Übersetzungen aus dem Hebräischen und dem niederländisch-flämischen Sprachraum hat Mirjam Pressler viele Preise und Auszeichnungen erhalten, 1998 wurde sie mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille für Verdienste um die deutsche Sprache und 2004 mit dem Deutschen Bücherpreis für ihr literarisches Lebenswerk. 2013 erhielt sie die Buber-Rosenzweig-Medaille.
Mirjam Pressler lebt in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ellen Feldman
- 2005, 307 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pressler, Mirjam
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421058784
- ISBN-13: 9783421058782
Rezension zu „Der Junge, der Anne Frank liebte “
"Mich hat dieses Buch augenblicklich in seinen Bann geschlagen. Ellen Feldmans Der Junge, der Anne Frank liebte ist die Geschichte eines jungen Mannes, der den Zweiten Weltkrieg überlebt und in den USA ein neues Leben sucht. Seine Spannung und seinen Sog gewinnt das gut recherchierte und wunderbar erzählte Buch aus der Balance von realen und fiktiven Ereignissen. Eine großartige Romanidee." Mirjam Pressler
Kommentar zu "Der Junge, der Anne Frank liebte"
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