Der Kaufmann von Köln
Der Kaufmann von Köln von Karina Kulbach-Fricke
LESEPROBE
Erstes Buch
1096 bis 1107
910
Es war noch früh, aber die Frühlingssonne schien an
diesemAprilmorgen im Jahre 1096 schon strahlend
auf Köln herab. Inden kleinen Gärten hinter den
Häusern blühtenaußer den letzten Schneeglöckchen jetzt
auch Krokusse,Veilchen und Primeln; die Luft schmeckte
köstlich undverheißungsvoll.
Constantin hattegroße Lust, zum Rhein hinunterzulaufen
und nachzusehen,welche Schiffe da lagen, und das sagte
er auch zuseiner Mutter, die hinter ihm aus der Haustür trat
und die EngeGasse hinabschaute. Rachel blickte ihn ernst
an.
»Mein Sohn«,sagte sie mit sanfter Stimme, »du weißt,
dass du in dieSchule gehen sollst. Willst du nicht lernen und
ein kluger Mannwerden wie dein Vater?«
»Das hat nochlange Zeit. Heute will ich zum Hafen und
sehen, was dieSchiffe mitgebracht haben«, trotzte der Knabe.
Die Mutterlächelte und strich ihm das Haar aus der Stirn.
»Und was ist mitRabbi Samuel? Er wäre sicher traurig,
wenn du nichtkommst. Und das Geld braucht er auch, das
Vater ihm zahlt,damit du bei ihm lernst. Also, keine Widerworte
mehr. Nun gehschon!«
Sie blicktehinter ihm her, wie er die Gasse hinabtrabte,
eine kleineGestalt, kleiner jedenfalls als seine christlichen
Altersgenossen.Sonst unterschied er sich nicht so sehr von
ihnen. Er hattenicht die üppigen dunklen Locken seiner
Mutter geerbtund auch nicht ihre schwarzen Augen, sondern
war braunhaarigund braunäugig wie sein Vater Alexander,
der eben aus demHaus trat.
Stolz undliebevoll schaute er auf seine schöne Frau, die er
alsDreizehnjährige heimgeführt hatte. Sie war jetzt schwanger
mit ihremvierten Kind. Drei Jahre nach Constantin hatten
sie einenzweiten Sohn, Löb, bekommen und wieder
drei Jahrespäter eine kleine Tochter, die sie Bejle nannten.
Dann war vorzwei Jahren eine Kinderseuche über Köln gekommen.
Damals hatte manwochenlang das Schreien und Weinen
verzweifelterMütter in der Stadt gehört, und täglich klingelte
dünn dasSterbeglöckchen, wenn die kleinen Särge auf
den Kirchhofgetragen wurden. Rachel hatte Tag und Nacht
am Bett deskleinen Löb gewacht. Nach einer Woche war er
gestorben,abgezehrt vom Fieber, erst fünf Jahre alt.
Die Elternhatten bitterlich an seinem Grab geweint. Als
sie vomjüdischen Friedhof zurückgekommen waren, hatte
Rachel bemerkt,dass ihre kleine Tochter Bejle, die gerade
laufen gelernthatte, stark fieberte. Das kleine Mädchen hatte
der Krankheitnur zwei Tage standgehalten, ehe es sterben
musste.
Zum zweiten Malhatte Rachel am Grab eines Kindes gestanden,
diesmal hattesie keine Tränen mehr gehabt. Sie hatte
nur nach ihremältesten Sohn Constantin gegriffen und
ihn hart an sichgerissen, sprachlos vor Angst, sie könnte
auch ihn nochverlieren. Aber Constantin blieb gesund.
Zärtlich strichAlexander jetzt über ihre schwarzen Locken
und blickte aufihr Gewand, unter dem sich ihr Leib
schon rundete.
»Was war das füreine Auseinandersetzung mit unserem
Sohn?«, fragteer seine Frau. Rachel lachte und lehnte sich in
seine Arme.
»Er wollte nichtin die Schul, sondern lieber zum Rhein
hinunter. Erstrebt nach Kaufmannschaft, nicht nach Wissenschaft.«
Alexander wühlteseine Nase in ihr Haar. »Hm, wie gut
du riechst!«,bemerkte er und drückte sie liebevoll an sich.
Dann machte erein ernstes Gesicht und fügte hinzu:
»Der Junge musslernen; ein Kaufmann wird er später,
jetzt soll ersteinmal ein richtiger Jude aus ihm werden. Wo
wären wir,hätten uns nicht unsere Rabbiner gelehrt, Generation
für Generation?Heute Abend werde ich ihn abfragen,
was er zuletztaus der Thora gelernt hat.«
Constantintrottete die Enge Gasse hinab. Es war noch ein
wenig frisch,und es fror ihn, sodass sich die kleinen Härchen
auf seinennackten Beinen aufstellten.
Fast wäre erüber ein kleines, mageres Schwein gefallen,
das ihm in dieFüße lief. Der Junge hielt einen Augenblick
inne undbeobachtete das Tier, das die Gasse nach Essensresten
absuchte. Esfand ein paar Kohlblätter und fraß sie. In einem
Winkel lag einKnochen, an dem noch ein paar Fleischfasern
hingen, dererregte seine besondere Aufmerksamkeit.
Da kam einjunger Hund, verjagte das Schwein und trabte
mit dem Knochendavon.
Constantin gingweiter und bog in Unter Goldschmied
ab, eine breite,schnurgerade Straße. Sie war gepflastert, sodass
man auch beiRegen und Schneematsch bequem über
sie fahren undgehen konnte, während man in den benachbarten
Gassen ohneBodenbelag ständig ausrutschte und tief
im Schlammversank.
UnterGoldschmied war eine der Hauptstraßen des ehemaligen
römischen Lagersgewesen und jetzt eine der wichtigsten
Handelsstraßenin Köln. Hier wohnten reiche christliche
Kaufleute nebenHandwerkern. Das Kind blieb kurz
stehen undschaute einem Tuchhändler zu, wie er gerade den
Laden öffnete,seinen Verkaufstisch heraustrug und dann
neue Stoffrollendarauf ausbreitete. Er lobte seine Ware in
den höchstenTönen, es waren warme wollene Stoffe, Leinen
von bester Güteund auch eine Rolle kostbarer blauer Seide.
Gerade wollteConstantin seinen Weg fortsetzen, als ein
schwer beladenerWagen vorbeirollte, den ein mächtiges
Pferd nur mitMühe ziehen konnte. Seine Fracht waren lange
Holzbalken, diezur nächsten Baustelle gefahren werden
sollten.Constantin drückte sich eng an die Hauswand, um
nicht von demgewichtigen Fuhrzeug erfasst zu werden.
Hinter ihmöffnete sich eine schmale Pforte im Hoftor,
und eine Frautrat heraus, zum Kirchgang gekleidet. Constantin
kannte sie vomSehen. Es war Blithildis, die Frau des
reichenKaufmanns Wolbero.
Zwischen ihrenFüßen schoss, ehe sie es verhindern
konnte, einjunges Hündchen heraus. Fast wäre es unter die
Räder geraten,da griff Constantin blitzschnell zu und zerrte
das Tier zusich. Die Frau hatte einen lauten Schrei ausgestoßen,
als sie dasUnheil kommen sah, nun lachte sie befreit
auf.
»Was für einGlück, dass du gerade da warst! Ich hätte
Sanna nichtrechtzeitig erwischt!«
Sie drückteConstantin dankbar einen Kuss auf die Stirn,
was das Kindetwas verlegen machte.
»FrauBlithildis, es war nicht der Rede wert.«
»O doch, ich bindir sehr dankbar. Komm herein, ich will
dir einen Apfelschenken.«
Er würde zu spätzur Schule kommen, aber Constantin
war neugierig,wie es in dem schönen Haus der reichen
Christin wohlaussehen mochte, und so folgte er ihr ohne
weiterenWiderspruch.
»Immer versuchtdieses dumme Hündchen, auf die Straße
zu laufen. Sieist einfach hinausgewischt, als ich die Tür öffnete.
Los, Sanna, abin den Hof!«
Blithildis gabdem Tierchen einen kleinen Klaps, setzte es
auf den Bodenund schloss die Hofpforte. Sie nahm Constantin
an der Hand undging mit ihm über den Hof. Rechts
von ihnen lagder Stall, dahinter der Garten. Ein Apfelbaum
stand in vollerBlüte, wie weiße Schneeflocken bedeckten
die Apfelblütenden Boden zu seinen Füßen. Sie gingen an
der Küchevorbei, wo die Mägde geräuschvoll wirkten, und
durch einenschmalen Gang, der an dem Lager- und Verkaufsraum
ihres GattenWolbero vorbeiführte. Über eine
steile Stiegeführte ihr Weg in das obere Stockwerk zur großen
Wohnstube.Constantin betrachtete das große Bett in
der Ecke, dieSchlafstatt des Kaufmanns und seiner Frau. An
der Wand standenbreite Bänke, auf einer lagen die Strohsäcke
gestapelt, aufdenen nachts die Söhne des Hauses und
das Gesindeschliefen. Constantin bestaunte die beiden
schweren Truhen,den mächtigen Tisch und den geschnitzten
Stuhl desHausherrn. Ein hölzernes Bild an der Wand erschreckte
ihn, denn eszeigte einen Mann, der mit schmerzerfülltem
Gesicht an einemKreuz hing. Große Nägel hielten
seine Hände undFüße an den Balken fest.
»Was ist das fürein Mann, Frau Blithildis?«
Die Hausfrauwandte den Kopf.
»Mein Junge, dasist ein Kruzifix. Unser Heiland hängt
am Kreuz, um dieMenschen zu erlösen.« Sie strich dem
Jungen über denKopf. »Du kennst das wohl nicht? Ich weiß
schon, dugehörst zu den Juden in der Engen Gasse. Ich
kann dir einandermal davon erzählen, wenn du willst. Jetzt
wollten wir dochden Apfel holen.«
Und sie griff inden aus Weidenruten geflochtenen Korb
in der Ecke undsuchte den schönsten Apfel heraus, der sich
zu dieserJahreszeit noch finden ließ. Sie reichte ihn dem
Kind, das soforthineinbiss, und sagte freundlich:
»Ich wolltegerade zur Kirche gehen. Wenn dein Weg in
die gleicheRichtung führt, könnten wir wohl ein Stück zusammen
gehen.«
Der Jungebegleitete sie gern. Ihm gefiel die hoch gewachsene
Frau, derenschönes goldblondes Haar sich durch die
Frauenhaubenicht bändigen ließ, sondern an mehreren Stel-
len vorwitzighervorschaute. Ihre Gestalt war üppig, sie war
fleißig undrasch in ihren Bewegungen, sodass der dicke
Schlüsselbund anihrem Gürtel ständig klingelte.
Blithildis freutesich an dem aufgeweckten, höflichen
kleinenBurschen, der fröhlich plaudernd neben ihr herlief,
und lud ihn ein,sie einmal wieder zu besuchen. Vor dem
Kirchportalwinkte sie ihm nach und trat dann in den halbdunklen,
strengen,feierlichen Raum, der nach Weihrauch
und Kerzenduftete.
Der Gottesdiensthatte noch nicht begonnen. Blithildis
kniete in derNische vor einem geschnitzten Bild der Gottesmutter
nieder undflehte sie um die Erfüllung ihres ständigen
Wunsches an.
An Gottvaterwandte sie sich nicht, weil sie ihm im tiefsten
Grund ihresHerzens grollte, dass er den Tod ihres Kindes
zugelassenhatte. Auch bei Jesus glaubte sie nicht genügend
Verständnis fürihren Herzenswunsch zu finden. Nur
von Frau zu Frauam Marienaltar äußerte sie ihre Bitten immer
wieder; manchmalauch etwas vorwurfsvoll, denn da
sie selbst immergern bereit war, anderen einen Wunsch zu
erfüllen, sahsie nicht recht ein, warum man sie seit Jahren
vergeblichflehen ließ. (...)
© GoldmannVerlag
- Autor: Karina Kulbach-fricke
- 2006, 445 Seiten, Maße: 11,6 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442462169
- ISBN-13: 9783442462162
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