Der Komponist und seine Richterin
Ein mysteriöser Sektenselbstmord, ein uraltes ägyptisches Totengebet, ein Komponist mit beunruhigender Strahlkraft. Eine Richterin, die ihn nicht aus den Augen lässt... »Patricia Duncker ist eine gefährliche Schriftstellerin, sie verfügt über eine...
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Produktinformationen zu „Der Komponist und seine Richterin “
Ein mysteriöser Sektenselbstmord, ein uraltes ägyptisches Totengebet, ein Komponist mit beunruhigender Strahlkraft. Eine Richterin, die ihn nicht aus den Augen lässt... »Patricia Duncker ist eine gefährliche Schriftstellerin, sie verfügt über eine rücksichtslose Fantasie und eine verstörend hypnotische Sprache.« FAZ
Klappentext zu „Der Komponist und seine Richterin “
Auf einer Lichtung im tiefsten Jura stoßen Jäger auf eine Gruppe Toter - neun Erwachsene, sieben Kinder, zu einem Halbkreis angeordnet, im Neujahrsschnee des Jahres 2000. Keine Anzeichen äußerer Gewalt. Ein Bild unheimlichen Friedens.Kommissar André Schweigen erkennt das Muster eines Sektenselbstmords, dener fünf Jahre zuvor untersucht hat, gemeinsam mit der Richterin Dominique Carpentier, die auch jetzt sofort zur Stelle ist. Ein altes Buch, in Leder gebunden undmysteriösem Code geschrieben, bringt sie auf die Spur von Friedrich Grosz, einem berühmten Komponisten und Dirigenten. In diesem charismatischen, unbeugsamen Mann findet die Richterin ihren Widerpart. Ein Kräftemessen beginnt, in dessen Verlauf sich Dominique immer tiefer in die Geheimnisse der Sekte verstrickt und die Grenzen ihrer eigenen moralischen Haltung erschüttert werden. Patricia Duncker hat einen Roman von ungeheurer Sogkraft geschrieben, der uns quer durch Europa führt, die mächtige Bergwelt der Alpen, die Weinberge desLanguedoc, Montpellier, Lübeck, London. Verführerisch, doppelbödig, von großer lite -rarischer Entschiedenheit - Patricia Dunckers vielleicht bester Roman.
Auf einer Lichtung im tiefsten Jura stoßen Jäger auf eine Gruppe Toter - neun Erwachsene, sieben Kinder, zu einem Halbkreis angeordnet, im Neujahrsschnee des Jahres 2000. Keine Anzeichen äußerer Gewalt. Ein Bild unheimlichen Friedens.
Kommissar André Schweigen erkennt das Muster eines Sektenselbstmords, dener fünf Jahre zuvor untersucht hat, gemeinsam mit der Richterin Dominique Carpentier, die auch jetzt sofort zur Stelle ist. Ein altes Buch, in Leder gebunden undmysteriösem Code geschrieben, bringt sie auf die Spur von Friedrich Grosz, einem berühmten Komponisten und Dirigenten. In diesem charismatischen, unbeugsamen Mann findet die Richterin ihren Widerpart. Ein Kräftemessen beginnt, in dessen Verlauf sich Dominique immer tiefer in die Geheimnisse der Sekte verstrickt und die Grenzen ihrer eigenen moralischen Haltung erschüttert werden. Patricia Duncker hat einen Roman von ungeheurer Sogkraft geschrieben, der uns quer durch Europa führt, die mächtige Bergwelt der Alpen, die Weinberge desLanguedoc, Montpellier, Lübeck, London. Verführerisch, doppelbödig, von großer lite -rarischer Entschiedenheit - Patricia Dunckers vielleicht bester Roman.
Kommissar André Schweigen erkennt das Muster eines Sektenselbstmords, dener fünf Jahre zuvor untersucht hat, gemeinsam mit der Richterin Dominique Carpentier, die auch jetzt sofort zur Stelle ist. Ein altes Buch, in Leder gebunden undmysteriösem Code geschrieben, bringt sie auf die Spur von Friedrich Grosz, einem berühmten Komponisten und Dirigenten. In diesem charismatischen, unbeugsamen Mann findet die Richterin ihren Widerpart. Ein Kräftemessen beginnt, in dessen Verlauf sich Dominique immer tiefer in die Geheimnisse der Sekte verstrickt und die Grenzen ihrer eigenen moralischen Haltung erschüttert werden. Patricia Duncker hat einen Roman von ungeheurer Sogkraft geschrieben, der uns quer durch Europa führt, die mächtige Bergwelt der Alpen, die Weinberge desLanguedoc, Montpellier, Lübeck, London. Verführerisch, doppelbödig, von großer lite -rarischer Entschiedenheit - Patricia Dunckers vielleicht bester Roman.
Lese-Probe zu „Der Komponist und seine Richterin “
Der Komponist und seine Richterin von Patricia Duncker1
Jäger im Schnee
Die Leichen wurden am frühen Nachmittag des Neujahrstags gefunden. Jäger, die im Wald unterwegs waren, riefen ihre Hunde zusammen, zogen sich fröstelnd die Mützen über die Ohren und machten sich auf den Heimweg. In der Nacht waren etliche Zentimeter Schnee gefallen, und bei ihrem Aufbruch im Morgengrauen war ihnen die kalte, klare Luft schneidend in Gesicht und Lunge gefahren. In den unteren Hangregionen waren die Wege noch frei, doch weiter oben, über den Felsen, machten Matsch und Eis die Pfade unpassierbar. Die Jäger packten zwei erlegte Hasen ein und sahen Hirsche über die sturmgefällten Stämme hinweg durch das aufgerissene Grün brechen, beobachteten sie,
ließen sie aber ziehen. Entmutigt von der verwüsteten Landschaft und den blockierten Wegen, stapften sie jetzt durch den Schnee.
Jeder Versuch, freie Flächen zu überwinden, wurde durchkreuzt und vereitelt. Neujahr. Jemand schlug ein Gläschen Schnaps, heißen Kaffee und die Schokocremetorte der Gattin vor. Zur Feier von Neujahr. Ja, gehen wir heim. Sie riefen nach einem der Ihren, der abseits an einen gefrorenen Holzstoß pinkelte.
Der aber rührte sich nicht, drehte sich nicht um. Denn auf der Lichtung unter ihm hatte er etwas Seltsames entdeckt. Dieser Mann, der nur acht Kilometer entfernt von der weißen Fläche wohnte, auf der die Leichen lagen, hatte zuvor schon die Autos gesehen, fünf waren es und scharten sich kreuz und quer um das Ferienhaus, das Chalet, in dem die Gesellschaft vermutlich die letzte Nacht verbracht hatte. Er hatte die Nummernschilder registriert – kein einziges aus dem Département hier – und den Reichtum, von dem die Wagen zeugten: Geländewagen, allradgetriebene Land Cruisers, ein Renault Espace, ein funkelnder schwarzer Mercedes.
... mehr
Dicke Nobelkarossen aus Paris, Nancy, Lyon. Ein Wagen kam aus der Schweiz; er hatte das CH auf dem Kofferraum gesehen. Aber in diesem Moment, als der Jäger den Blick von seinem dampfenden Pinkelstrahl hob, brachte er die Gebilde dort unten im Schnee nicht mit den Wintertouristen in Verbindung. Unsicher spähte er hinunter. Waren das gefällte Baumstämme, schon zurechtgelegt für den Abtransport? Dass die kahlen Stellen in der Rinde wie Gesichter aussahen und die gesplitterten Stümpfe abgehauener Äste wie emporgewandte Handflächen, das war doch sicher nur Einbildung? Zwei seiner Freunde trotteten zu ihm herüber und folgten seinem Blick über die Felswand hinab zur Lichtung.
Sie wussten sofort, dass es Menschen waren, echte Menschen, die dort unten still und schön in einem symmetrischen Halbkreis im Schnee lagen, und dass sie tot waren, alle.
Wenn uns der Tod zuvorgekommen ist, besteht ja kein Grund zur Eile. Dennoch verfielen sie in Hast und kletterten mit geschultertem Gewehr, stumm und geschwind, mit den Handschuhen über Stein schrammend, die vereiste Rinne im Fels hinab.
Rasch! Wir müssen hinunter zu ihnen. Wir müssen Hilfe holen.
Die Hunde winselten und kläfften ihnen nach und machten sich dann, die Schnauzen witternd auf den verharschenden Schnee gesenkt, an den längeren, weniger steilen Abstieg zwischen den Bäumen. Erschrocken und gehetzt stolperten die Männer bergab, doch als sie dann keuchend und bestürzt, mit sich wölkendem Atem vor den stillen, gefrorenen, von frischem Schnee überstäubten Gestalten standen, verging ihnen jede Lust zu sprechen oder zu handeln. Sie hielten die Hunde zurück und verständigten sich flüsternd.
»Appelle les pompiers. Et les flics. Ruf eine Ambulanz. Und die Polizei. Qu’est-ce que tu attends? Worauf wartest du? Los, mach, ruf an.«
Die Hände des Jägers, die viele Male getötet hatten und das Gewehr immer sicher hielten, glitten jetzt fahrig über die Tasten des Mobiltelefons. Argwöhnisch und zweifelnd umkreiste sein Hund die Leichen.
Aber die Verbindung zum Netz war unzuverlässig, sie kam und ging. Wie viele? Wo? Ich hör Sie nicht mehr. Geben Sie Ihren genauen Standort durch. Der Jäger gestikulierte ratlos zu seinen Freunden hinüber, und jetzt hatten alle eine Meinung.
So finden Sie am leichtesten her. Dieses ist der richtige Weg.
Mais non, passe-moi le portable! Sie alle kannten den Wald wie den Körper einer Geliebten, hatten seine Geheimnisse berührt und erkundet. Sie waren jeden Weg zu jeder Jahreszeit gegangen; sie kannten die Dickichte, den verborgenen Spalt, in dem leise das Wasser plätscherte, die tiefen Tümpel. Sie witterten die Düfte des Waldes mit einer Nase, die so fein und instinktsicher war wie die ihrer Hunde. Sie kannten jeden Laut, jede Fährte, erschnupperten die Erde so genau wie die Geschöpfe, die sie jagten:
Moos, Wasser, Angst. Sie konnten stundenlang stillhalten und ihre Beute beobachten, konnten geradezu zärtlich, mit derselben leidenschaftlichen Konzentration wie ein Bräutigam, der auf die erste Regung der schlafenden Liebsten wartet, den Abschuss planen. Jetzt drängten sie sich fassungslos und verunsichert am Rand der Lichtung zusammen und beratschlagten, und nicht aus Respekt vor den steifgefrorenen Toten senkten sie die Stimme, sondern aus Vorsicht, falls sie etwa doch hören konnten.
Am Ende wurde beschlossen, dass einer von ihnen so weit absteigen sollte, bis sein Telefon einen klaren Empfang hätte; er sollte die Hunde mitnehmen und an der Weggabelung, wo die Asphaltstraße endete und ihre geparkten Geländewagen die Schnauzen in den Wald steckten, auf das Eintreffen von Polizei und Ambulanz warten. Von dort könnte er ihnen den Weg weisen, den Polizisten und Sanitätern, der ganzen notwendigen Prozession, die Hilfe verhieß, wo keine mehr nötig war. Als er in das schwindende, diesige Licht davonstapfte, rückten die anderen noch enger zusammen. Bange Wächter über das Geschehen, das auf der Lichtung am Rand der Schlucht stattgefunden hatte, betrachteten sie nicht die Leichen, sondern blickten hinaus auf die verschneiten Kuppen und die vom Sturm geschlagenen Schneisen im Wald. Aus den ferneren Tälern stieg Nebel auf; das weiße, ins Bläuliche spielende Licht verschleierte den Horizont.
Der beste Teil des Tages war vorüber.
Sie begannen die Toten zu zählen.
Die Leichen, dicht aneinandergedrängt, bildeten ein Muster.
Neun Erwachsene lagen unter einem weichen Teppich aus Schnee, der sie teilweise freigab, ausgestreckt auf dem Rücken, zur Ruhe gekommen in einem stillen, liegenden Bogen. Die Arme waren angewinkelt, die Hände erhoben, die Handflächen himmelwärts gewandt, als hätten sie alle im Tanz eine komplexe Bewegung ausgeführt und wären mitten darin gestorben.
Die Jäger sahen nicht allzu genau hin, sondern hielten gebannt Abstand. Sie waren den Tod ja gewöhnt, Tod und Sterben begleiteten sie durch den Wald, waren ihre täglichen Gefährten und bargen keine Geheimnisse. Dies allerdings war ein Ereignis anderen Ausmaßes. Diese blicklosen, weit aufgerissenen schwarzen Augen, die in den Winterhimmel starrten, die weiß bereiften Wimpern und Brauen: Nicht Scheu war es, die sie zurückweichen ließ, sondern der verstörende Anblick der Kinderleichen.
Die Kinder bildeten eine eigene, kleinere Gruppe, die sich an die Füße der Erwachsenen schmiegte wie treue Hunde auf steinernen Heldengräbern. Die eingerollten Gestalten trugen Schlafanzüge unter ihren Wintermänteln und waren fest in Decken gewickelt, die Finger unsichtbar in Handschuhen und Fäustlingen. Zwei von ihnen hielten halb zerkaute Plüschbären im Arm, einen Panda, einen kleinen grauen Koala. Das jüngste Kind sah winzig aus, es konnte kaum älter als eins sein. Wer ermordet Kleinkinder und legt sie dann mit so viel zärtlicher Sorge zu Füßen ihrer Eltern nieder? Der Wald ächzte und flüsterte unter dem heraufziehenden Frost. Als das Licht zwischen den Fichten versank, hörten die Jäger das Gebrumm von Dieselmotoren, dann näherten sich von links endlich Stimmen und das Knirschen schwerer Stiefel, die durch die verharschte Schneekruste brachen.
Dunkle Gestalten, schwer beladen mit Gerät, mit Bogenlichtern, Kameras und grauen Plastiksärgen auf Schlitten, kamen langsam zwischen den Bäumen zu ihnen herauf.
Der mit der Ermittlung betraute Kommissar wühlte in den Taschen seines Kapuzenmantels. Noch war es hell genug, um die Spuren zu erkennen, die sich um den Halbkreis der Leichen zogen. Schließlich hatte er gefunden, was er suchte, zückte einen Block und begann mit einer Zeichnung.
»Vous n’avez rien touché? Haben Sie die Leichen bestimmt nicht angefasst?«, fragte er die Jäger. Klagte sie an, ohne sie auch nur anzusehen.
»Wir waren nicht mal in der Nähe.«
»Wessen Spuren sind das dann?«
Drei Sorten Vertiefungen im Schnee bildeten den äußeren Umkreis. Die frischesten Spuren stammten von den Hunden.
»Hirsche. Das ist die Fährte von Hirschen.«
Die Hirsche waren tatsächlich sehr nahe gekommen. Offenbar hatten sie direkt über den Leichen gestanden und sich dann behutsam zurückgezogen, waren wieder im schattigen Grün verschwunden. Die ältesten Spuren waren schon wieder halb verschneit.
Neben einer Leiche war ein Durcheinander von Abdrücken zu entdecken. Dieser Tote lag im Herzen des Halbkreises, und jetzt sahen sie auch, dass es eine Frau war, erkannten ein Frauengesicht, bleich und wie erschrocken über die Plötzlichkeit ihres Todes; der Mund stand einen Spalt offen und ließ eine weiße Zunge dahinter erkennen. Jung war sie nicht, doch es waren markante Linien und kühne Flächen, aus denen ihr Gesicht sich zusammensetzte, und es war umwallt von dunklem Haar, das sich aus der pelzbesetzten Kapuze ihres Mantels gelöst hatte. Der Kommissar starrte sie lange an, dann behauchte er seine Finger und fuhr fort, den Schauplatz zu zeichnen, während seine weiß gekleideten Handlanger, die alle eher verblüfft als schockiert wirkten, um den Fundort samt Spuren einen Kreis absteckten.
Die Kinder sah sich niemand so genau an.
»Von der Richterin noch immer nichts?«, fragte der Kommissar unwirsch. »Es ist jetzt über eine Stunde her, dass ich sie verständigt habe.«
Die Jäger fühlten sich ausmanövriert. Wessen Entdeckung war das denn? Aber niemand fragte sie nach ihrer Meinung. Wieso waren sie keine Verdächtigen? Man hatte doch im Fernsehen genügend Tatorte gesehen, um zu wissen, dass einer, der einen Leichenfund meldet, in der Regel den Mord auch begangen hat, außer im Fall ermordeter Gattinnen, in dem stets der Ehemann, egal, ob an- oder abwesend, der Einzige mit einem Motiv ist. Sie aber standen hier, bis an die Zähne bewaffnet und mit genügend Munition versorgt, um sämtliche Bewohner des Waldes zu massakrieren, und noch hatte niemand sie auch nur nach einem Alibi gefragt. Die Jäger kannten sich schließlich hier aus. Sie waren geübt im Erkennen von Zeichen, auch geringen Zeichen wie einem abgebrochenen Ast, einem geknickten Zweig, einer Trübung im Wasser. Sie beobachteten die weißen Gespenstergestalten der Kriminaltechniker, die rasch arbeiteten, die Leichen vermaßen und der Reihe nach die Gesichter fotografierten, so dass ihr Blitzlicht als jähe grellweiße Flamme den Schnee peitschte. Und den Zuschauern ging plötzlich auf, was den Gesichtern dieser Leute fehlte. Niemand war zurückgeschreckt und am Rand des Kreises stehen geblieben wie die Jäger. Gebeugt vom Gewicht ihrer Ausrüstung marschierten sie voran wie Eroberer. Sie hatten das Richtige mitgebracht. Sie waren vorbereitet auf den Anblick dieser seltsamen Versammlung von Toten, die, auf einem Felsplateau im Wald zu genau diesem Muster gelegt, der Welt entronnen waren. Sie hatten alle gewusst, was sie erwartete. Sie hatten derlei schon gesehen.
»Voilà. Vous pouvez disposer. Kommen Sie morgen früh um neun ins Präsidium, um Ihre Aussage zu unterschreiben. Dieser Beamte hier wird Ihre Namen, Adressen und Telefonnummern notieren. Vor dem Ende der Woche werden wir Sie noch mal befragen. Ausweise? Danke. Und bitte: Stillschweigen gegenüber der Presse. Das ist klar, oder? Kein Wort zu den Medien.«
Sie waren entlassen.
Dabei waren diese Männer die ersten Zeugen der Geschehnisse im Wald, die Ersten, die sich fragten, was es mit diesem unfertigen Kreis auf sich hatte, mit den Kinderleichen. Sie waren die Ersten, die diskutierten, ob die Mitglieder der Versammlung ermordet worden waren oder selbst den Tod gesucht hatten, die Ersten, die sich überlegten, warum der Kreis unvollendet geblieben war und warum man die Kinder so sorgfältig in den eigens geschaffenen Raum zu Füßen der Erwachsenen gelegt hatte, der Männer und Frauen, die ihnen erst das Leben geschenkt und sie dann, da waren die Jäger sich sicher, hatten sterben sehen. Auf den allmählich zufrierenden Wegen, auf denen die Profilsohlen ihrer Stiefel klare Abdrücke im Schlamm unter der gefrorenen Kruste hinterließen, vorbei an dem jetzt mit gelbem Polizei band abgeriegelten Chalet, in dem es von Möbel rückenden und in Koffern wühlenden Gendarmen und Männern in dunklem Zivil wimmelte, stiegen die Jäger bergab. Die Autos standen mit aufgerissenen Türen und wurden in grellem, leise knisterndem Scheinwerferlicht von weiß behandschuhten Männern untersucht, als wären auch die Fahrzeuge Leichen, die Geheimnisse zu verraten hatten. Im Haus waren alle Türen und Fenster der heimtückischen Kälte geöffnet.
Die Jäger entfernten sich unauffällig, und ihr Atem war ein weiß schimmerndes Gewölk im Halblicht, als sie, die Gewehre fest in der Hand, den mit Kettensägen Wege verbreiternden Polizisten weiträumig auswichen und über umgestürzte Stämme hinweg quer durch den Wald talwärts gingen. Das gedämpfte Jaulen ihrer eingesperrten Hunde hörten sie schon lange, bevor zwischen den Baumstämmen ihre Fahrzeuge auftauchten. Ein großer dunkler Wagen quälte sich mit durchdrehenden Reifen an ihnen vorbei durch den Matsch. Sie traten zurück, nickten der Frau, die darin saß, kurz zu. Sie begegnete ihrem Blick mit ausdruckslosem Starren, und die Jäger fürchteten schon, sie sei eine Angehörige, eine, die herbeizitiert worden war, eine, die schon Bescheid wusste. Jetzt hallte der Wald wider von Stimmen und dem Gelärm der Maschinen. Die Jäger machten sich davon.
Übersetzung: Barbara schaden
© Berlin Verlag
Sie wussten sofort, dass es Menschen waren, echte Menschen, die dort unten still und schön in einem symmetrischen Halbkreis im Schnee lagen, und dass sie tot waren, alle.
Wenn uns der Tod zuvorgekommen ist, besteht ja kein Grund zur Eile. Dennoch verfielen sie in Hast und kletterten mit geschultertem Gewehr, stumm und geschwind, mit den Handschuhen über Stein schrammend, die vereiste Rinne im Fels hinab.
Rasch! Wir müssen hinunter zu ihnen. Wir müssen Hilfe holen.
Die Hunde winselten und kläfften ihnen nach und machten sich dann, die Schnauzen witternd auf den verharschenden Schnee gesenkt, an den längeren, weniger steilen Abstieg zwischen den Bäumen. Erschrocken und gehetzt stolperten die Männer bergab, doch als sie dann keuchend und bestürzt, mit sich wölkendem Atem vor den stillen, gefrorenen, von frischem Schnee überstäubten Gestalten standen, verging ihnen jede Lust zu sprechen oder zu handeln. Sie hielten die Hunde zurück und verständigten sich flüsternd.
»Appelle les pompiers. Et les flics. Ruf eine Ambulanz. Und die Polizei. Qu’est-ce que tu attends? Worauf wartest du? Los, mach, ruf an.«
Die Hände des Jägers, die viele Male getötet hatten und das Gewehr immer sicher hielten, glitten jetzt fahrig über die Tasten des Mobiltelefons. Argwöhnisch und zweifelnd umkreiste sein Hund die Leichen.
Aber die Verbindung zum Netz war unzuverlässig, sie kam und ging. Wie viele? Wo? Ich hör Sie nicht mehr. Geben Sie Ihren genauen Standort durch. Der Jäger gestikulierte ratlos zu seinen Freunden hinüber, und jetzt hatten alle eine Meinung.
So finden Sie am leichtesten her. Dieses ist der richtige Weg.
Mais non, passe-moi le portable! Sie alle kannten den Wald wie den Körper einer Geliebten, hatten seine Geheimnisse berührt und erkundet. Sie waren jeden Weg zu jeder Jahreszeit gegangen; sie kannten die Dickichte, den verborgenen Spalt, in dem leise das Wasser plätscherte, die tiefen Tümpel. Sie witterten die Düfte des Waldes mit einer Nase, die so fein und instinktsicher war wie die ihrer Hunde. Sie kannten jeden Laut, jede Fährte, erschnupperten die Erde so genau wie die Geschöpfe, die sie jagten:
Moos, Wasser, Angst. Sie konnten stundenlang stillhalten und ihre Beute beobachten, konnten geradezu zärtlich, mit derselben leidenschaftlichen Konzentration wie ein Bräutigam, der auf die erste Regung der schlafenden Liebsten wartet, den Abschuss planen. Jetzt drängten sie sich fassungslos und verunsichert am Rand der Lichtung zusammen und beratschlagten, und nicht aus Respekt vor den steifgefrorenen Toten senkten sie die Stimme, sondern aus Vorsicht, falls sie etwa doch hören konnten.
Am Ende wurde beschlossen, dass einer von ihnen so weit absteigen sollte, bis sein Telefon einen klaren Empfang hätte; er sollte die Hunde mitnehmen und an der Weggabelung, wo die Asphaltstraße endete und ihre geparkten Geländewagen die Schnauzen in den Wald steckten, auf das Eintreffen von Polizei und Ambulanz warten. Von dort könnte er ihnen den Weg weisen, den Polizisten und Sanitätern, der ganzen notwendigen Prozession, die Hilfe verhieß, wo keine mehr nötig war. Als er in das schwindende, diesige Licht davonstapfte, rückten die anderen noch enger zusammen. Bange Wächter über das Geschehen, das auf der Lichtung am Rand der Schlucht stattgefunden hatte, betrachteten sie nicht die Leichen, sondern blickten hinaus auf die verschneiten Kuppen und die vom Sturm geschlagenen Schneisen im Wald. Aus den ferneren Tälern stieg Nebel auf; das weiße, ins Bläuliche spielende Licht verschleierte den Horizont.
Der beste Teil des Tages war vorüber.
Sie begannen die Toten zu zählen.
Die Leichen, dicht aneinandergedrängt, bildeten ein Muster.
Neun Erwachsene lagen unter einem weichen Teppich aus Schnee, der sie teilweise freigab, ausgestreckt auf dem Rücken, zur Ruhe gekommen in einem stillen, liegenden Bogen. Die Arme waren angewinkelt, die Hände erhoben, die Handflächen himmelwärts gewandt, als hätten sie alle im Tanz eine komplexe Bewegung ausgeführt und wären mitten darin gestorben.
Die Jäger sahen nicht allzu genau hin, sondern hielten gebannt Abstand. Sie waren den Tod ja gewöhnt, Tod und Sterben begleiteten sie durch den Wald, waren ihre täglichen Gefährten und bargen keine Geheimnisse. Dies allerdings war ein Ereignis anderen Ausmaßes. Diese blicklosen, weit aufgerissenen schwarzen Augen, die in den Winterhimmel starrten, die weiß bereiften Wimpern und Brauen: Nicht Scheu war es, die sie zurückweichen ließ, sondern der verstörende Anblick der Kinderleichen.
Die Kinder bildeten eine eigene, kleinere Gruppe, die sich an die Füße der Erwachsenen schmiegte wie treue Hunde auf steinernen Heldengräbern. Die eingerollten Gestalten trugen Schlafanzüge unter ihren Wintermänteln und waren fest in Decken gewickelt, die Finger unsichtbar in Handschuhen und Fäustlingen. Zwei von ihnen hielten halb zerkaute Plüschbären im Arm, einen Panda, einen kleinen grauen Koala. Das jüngste Kind sah winzig aus, es konnte kaum älter als eins sein. Wer ermordet Kleinkinder und legt sie dann mit so viel zärtlicher Sorge zu Füßen ihrer Eltern nieder? Der Wald ächzte und flüsterte unter dem heraufziehenden Frost. Als das Licht zwischen den Fichten versank, hörten die Jäger das Gebrumm von Dieselmotoren, dann näherten sich von links endlich Stimmen und das Knirschen schwerer Stiefel, die durch die verharschte Schneekruste brachen.
Dunkle Gestalten, schwer beladen mit Gerät, mit Bogenlichtern, Kameras und grauen Plastiksärgen auf Schlitten, kamen langsam zwischen den Bäumen zu ihnen herauf.
Der mit der Ermittlung betraute Kommissar wühlte in den Taschen seines Kapuzenmantels. Noch war es hell genug, um die Spuren zu erkennen, die sich um den Halbkreis der Leichen zogen. Schließlich hatte er gefunden, was er suchte, zückte einen Block und begann mit einer Zeichnung.
»Vous n’avez rien touché? Haben Sie die Leichen bestimmt nicht angefasst?«, fragte er die Jäger. Klagte sie an, ohne sie auch nur anzusehen.
»Wir waren nicht mal in der Nähe.«
»Wessen Spuren sind das dann?«
Drei Sorten Vertiefungen im Schnee bildeten den äußeren Umkreis. Die frischesten Spuren stammten von den Hunden.
»Hirsche. Das ist die Fährte von Hirschen.«
Die Hirsche waren tatsächlich sehr nahe gekommen. Offenbar hatten sie direkt über den Leichen gestanden und sich dann behutsam zurückgezogen, waren wieder im schattigen Grün verschwunden. Die ältesten Spuren waren schon wieder halb verschneit.
Neben einer Leiche war ein Durcheinander von Abdrücken zu entdecken. Dieser Tote lag im Herzen des Halbkreises, und jetzt sahen sie auch, dass es eine Frau war, erkannten ein Frauengesicht, bleich und wie erschrocken über die Plötzlichkeit ihres Todes; der Mund stand einen Spalt offen und ließ eine weiße Zunge dahinter erkennen. Jung war sie nicht, doch es waren markante Linien und kühne Flächen, aus denen ihr Gesicht sich zusammensetzte, und es war umwallt von dunklem Haar, das sich aus der pelzbesetzten Kapuze ihres Mantels gelöst hatte. Der Kommissar starrte sie lange an, dann behauchte er seine Finger und fuhr fort, den Schauplatz zu zeichnen, während seine weiß gekleideten Handlanger, die alle eher verblüfft als schockiert wirkten, um den Fundort samt Spuren einen Kreis absteckten.
Die Kinder sah sich niemand so genau an.
»Von der Richterin noch immer nichts?«, fragte der Kommissar unwirsch. »Es ist jetzt über eine Stunde her, dass ich sie verständigt habe.«
Die Jäger fühlten sich ausmanövriert. Wessen Entdeckung war das denn? Aber niemand fragte sie nach ihrer Meinung. Wieso waren sie keine Verdächtigen? Man hatte doch im Fernsehen genügend Tatorte gesehen, um zu wissen, dass einer, der einen Leichenfund meldet, in der Regel den Mord auch begangen hat, außer im Fall ermordeter Gattinnen, in dem stets der Ehemann, egal, ob an- oder abwesend, der Einzige mit einem Motiv ist. Sie aber standen hier, bis an die Zähne bewaffnet und mit genügend Munition versorgt, um sämtliche Bewohner des Waldes zu massakrieren, und noch hatte niemand sie auch nur nach einem Alibi gefragt. Die Jäger kannten sich schließlich hier aus. Sie waren geübt im Erkennen von Zeichen, auch geringen Zeichen wie einem abgebrochenen Ast, einem geknickten Zweig, einer Trübung im Wasser. Sie beobachteten die weißen Gespenstergestalten der Kriminaltechniker, die rasch arbeiteten, die Leichen vermaßen und der Reihe nach die Gesichter fotografierten, so dass ihr Blitzlicht als jähe grellweiße Flamme den Schnee peitschte. Und den Zuschauern ging plötzlich auf, was den Gesichtern dieser Leute fehlte. Niemand war zurückgeschreckt und am Rand des Kreises stehen geblieben wie die Jäger. Gebeugt vom Gewicht ihrer Ausrüstung marschierten sie voran wie Eroberer. Sie hatten das Richtige mitgebracht. Sie waren vorbereitet auf den Anblick dieser seltsamen Versammlung von Toten, die, auf einem Felsplateau im Wald zu genau diesem Muster gelegt, der Welt entronnen waren. Sie hatten alle gewusst, was sie erwartete. Sie hatten derlei schon gesehen.
»Voilà. Vous pouvez disposer. Kommen Sie morgen früh um neun ins Präsidium, um Ihre Aussage zu unterschreiben. Dieser Beamte hier wird Ihre Namen, Adressen und Telefonnummern notieren. Vor dem Ende der Woche werden wir Sie noch mal befragen. Ausweise? Danke. Und bitte: Stillschweigen gegenüber der Presse. Das ist klar, oder? Kein Wort zu den Medien.«
Sie waren entlassen.
Dabei waren diese Männer die ersten Zeugen der Geschehnisse im Wald, die Ersten, die sich fragten, was es mit diesem unfertigen Kreis auf sich hatte, mit den Kinderleichen. Sie waren die Ersten, die diskutierten, ob die Mitglieder der Versammlung ermordet worden waren oder selbst den Tod gesucht hatten, die Ersten, die sich überlegten, warum der Kreis unvollendet geblieben war und warum man die Kinder so sorgfältig in den eigens geschaffenen Raum zu Füßen der Erwachsenen gelegt hatte, der Männer und Frauen, die ihnen erst das Leben geschenkt und sie dann, da waren die Jäger sich sicher, hatten sterben sehen. Auf den allmählich zufrierenden Wegen, auf denen die Profilsohlen ihrer Stiefel klare Abdrücke im Schlamm unter der gefrorenen Kruste hinterließen, vorbei an dem jetzt mit gelbem Polizei band abgeriegelten Chalet, in dem es von Möbel rückenden und in Koffern wühlenden Gendarmen und Männern in dunklem Zivil wimmelte, stiegen die Jäger bergab. Die Autos standen mit aufgerissenen Türen und wurden in grellem, leise knisterndem Scheinwerferlicht von weiß behandschuhten Männern untersucht, als wären auch die Fahrzeuge Leichen, die Geheimnisse zu verraten hatten. Im Haus waren alle Türen und Fenster der heimtückischen Kälte geöffnet.
Die Jäger entfernten sich unauffällig, und ihr Atem war ein weiß schimmerndes Gewölk im Halblicht, als sie, die Gewehre fest in der Hand, den mit Kettensägen Wege verbreiternden Polizisten weiträumig auswichen und über umgestürzte Stämme hinweg quer durch den Wald talwärts gingen. Das gedämpfte Jaulen ihrer eingesperrten Hunde hörten sie schon lange, bevor zwischen den Baumstämmen ihre Fahrzeuge auftauchten. Ein großer dunkler Wagen quälte sich mit durchdrehenden Reifen an ihnen vorbei durch den Matsch. Sie traten zurück, nickten der Frau, die darin saß, kurz zu. Sie begegnete ihrem Blick mit ausdruckslosem Starren, und die Jäger fürchteten schon, sie sei eine Angehörige, eine, die herbeizitiert worden war, eine, die schon Bescheid wusste. Jetzt hallte der Wald wider von Stimmen und dem Gelärm der Maschinen. Die Jäger machten sich davon.
Übersetzung: Barbara schaden
© Berlin Verlag
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Autoren-Porträt von Patricia Duncker
Patricia Duncker, geb. in Jamaika, siedelte mit dreizehn Jahren nach England über, studierte Philosophie und Literaturwissenschaften. Sie lehrt an der University of Wales und lebt in London und in Südfrankreich.Barbara Schaden, Jahrgang 1959, studierte Romanistik und Turkolgoie in Wien und München. Nach ein paar Jahren in der Filmbranche und im Verlagslektorat seit 1992 freiberufliche Übersetzerin, u.a. von Patricia Duncker, Margaret Atwood, Nadine Gordimer, Jean-Claude Guillebrand, MaurizioMaggiani, Fleur Jaeggy, Kazuo Ishiguro und Cindy Dyson.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Duncker
- 2010, 320 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schaden, Barbara
- Übersetzer: Barbara Schaden
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827009154
- ISBN-13: 9783827009159
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