Der Kuss der Katze
Roman. Deutsche Erstveröffentlichung
Als Löwenbändigerin ist Iris McGillis der Star von Las Vegas. Ihre Verbindung zu den großen Raubkatzen ist wie Magie. Als Blue Perrineau sie kennen lernt, erkennt er sofort, dass Iris etwas Besonderes ist, denn einige seiner Freunde sind wie...
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Produktinformationen zu „Der Kuss der Katze “
Als Löwenbändigerin ist Iris McGillis der Star von Las Vegas. Ihre Verbindung zu den großen Raubkatzen ist wie Magie. Als Blue Perrineau sie kennen lernt, erkennt er sofort, dass Iris etwas Besonderes ist, denn einige seiner Freunde sind wie sie Gestaltwandler! Doch auch ein brutaler Organhändler ist auf Iris aufmerksam geworden - und plötzlich ist Blue der einzige, der zwischen ihr und einem schrecklichen Schicksal steht ...
Klappentext zu „Der Kuss der Katze “
Als Löwenbändigerin ist Iris McGillis der Star von Las Vegas. Ihre Verbindung zu den großen Raubkatzen ist wie Magie. Als Blue Perrineau sie kennen lernt, erkennt er sofort, dass Iris etwas Besonderes ist, denn einige seiner Freunde sind wie sie Gestaltwandler! Doch auch ein brutaler Organhändler ist auf Iris aufmerksam geworden - und plötzlich ist Blue der einzige, der zwischen ihr und einem schrecklichen Schicksal steht ...
Lese-Probe zu „Der Kuss der Katze “
Der Kuss der Katze Marjorie M. Liu Aus dem Englischen von Wolfgang Thon
BEOBACHTET
»Spionieren Sie immer Mädchen nach, wenn sie schlafen?«,
fragte Iris in die Dunkelheit hinein. Der Schatten bewegte sich auf den Zwinger zu.
»Tut mir leid.« Es war ein Mann. Er klang ruhig. »Aber ich
habe doch nur versucht zu helfen. Sie sollten lieber nicht hier sein.«
»Sie sind also mein Beschützer?« Iris legte den Kopf auf
die Seite. »Ich kann aber auf mich selbst aufpassen.«
Sie hatte den Eindruck, dass er lächelte. »Das soll wohl
heißen, Sie seien kugelsicher. Das ist eine sehr angenehme Gabe.«
»Ja«, antwortete sie und stand auf. »In dieser Hinsicht bin
ich äußerst bemerkenswert.«
Er war schlank, hatte breite Schultern und schmale Hüften,
trug Leinenkleidung, die nach einem exklusiven Schneider
aussah und sehr teuer wirkte. Zumindest hatte er einen
guten Geschmack. Er war ein Mann, der ganz offenbar auf
einen Abend in einem erstklassigen Yuppie-Nachtklub eingestellt
war, wo er in seiner großen eleganten Hand einen
Martini - geschüttelt, nicht gerührt - hielte.
Ein Liebhaber rechnet sich nicht die Chancen aus.
-Rumi (1207-1273)
1
Das Päckchen lag fast dreißig Minuten lang auf dem feuchten
Beton der Gasse in Jakarta, bevor jemand aus der Warung-
Imbissbude auch nur versuchte, es sich zu holen. Es war
kleiner als ein Lunchpaket, braun und vollkommen unauffällig.
Jemand hatte es neben einen Stapel mit schmutzigen
Pfannen gelegt, die niemand in dem Plastikzelt abwaschen
wollte. Die Leute gingen einfach darüber hinweg oder daran
vorbei. Jedenfalls ignorierten sie es. Alle - außer Blue. Und
genau das bereitete ihm großes Unbehagen.
... mehr
Die Regenzeit hatte eingesetzt; die Luft war stickig und
feucht, was die ohnehin schon drückende Hitze in den
überquellenden Slums der Hauptstadt von Indonesien
noch schlimmer machte. Statt kühler Schauer wehten nur
Vorhänge aus schmutzigem Wasser vom Himmel herab und
prasselten auf das blaue Zeltdach und die fest zugezogenen
Zeltwände dieses Wanderimbisses. Heute war er hier,
morgen verschwunden, dann stand er in einer anderen
Gasse, auf einem Parkplatz oder an einer Straßenecke. Die
Tische, an denen Blue und auch noch weitere Gäste saßen,
waren leicht zusammenzuklappen und auf dem dreirädrigen
Karren zu verladen, der sich hinter dem fahrbaren Ofen
im rückwärtigen Teil des Zeltes befand. Die Besitzerin war
eine korpulente Frau und dabei eine Nuance braunhäutiger
als Blue. Sie arbeitete mit Feuereifer an einem Hackbrett
und ließ ihr Beil in schnellen Bewegungen herabsausen.
Sicherlich war es besser, keine Messerstecherei mit ihr
anzufangen. Blue konnte sich gut vorstellen, wer dann gewänne.
Und er hütete sich auch, eine Beschwerde über das Essen
loszuwerden. Da war es doch viel einfacher, den Pappteller
mit Nasi Goreng, der da vor ihm stand, lediglich zu ignorieren.
Der Bratreis war natürlich zu fettig, die Hühnerstücke
wirkten entschieden zu roh. Blue verfügte zwar über einen
Magen aus Eisen, der im Augenblick auch hungrig knurrte,
aber er hatte keine Zeit, das dumme Risiko einzugehen, sich
über eine Toilette gebeugt die Seele auszukotzen. Falls er
hier überhaupt eine Toilette fände. Sein Hotel lag auf der
anderen Seite der Stadt, eine schöne, glitzernde Oase, die
jederzeit darauf wartete, dass er zurückkam. Kühle Luft, eine
kalte Dusche, kaltes Wasser in Flaschen ...
Hör damit auf. Konzentrier dich lieber auf das Spiel.
Schließlich bist du hier nicht in den Ferien.
Ganz richtig. Denn wenn Blue eine Pause gewollt hätte,
würde er jetzt auf irgendeinem Berg in Colorado sitzen,
auf einer Klippe vielleicht, und zusehen, wie die Sonne an
dem Horizont einer leeren, schweigenden Welt unterging,
statt ausgerechnet hier in Jakarta zu sein, umgeben von dreizehn
Millionen Menschen, die alle nur versuchten, in dieser
verarmten Stadt zu überleben, einer Stadt, die ständig am
Abgrund von religiösen und Rassenunruhen taumelte. Und
er würde doch nicht in einem schmutzigen Wanderimbiss
sitzen, schwitzend, dreckig und müde, sein Leben riskieren
- oder seine geistige Gesundheit -, nur um einen einzigen
Blick auf einen eher fruchtlosen Hinweis zu erhaschen:
die Hoffnung auf eine Verbindung, die ihn endlich auf die
Fährte jenes Mannes bringen konnte, der unbedingt sterben
musste.
Sicher, sicher. Und alles an einem einzigen Tag. Zu schade,
dass er ein Gewissen hatte. Und noch schlimmer war, dass er
auch noch in der Lage war, seinem Gewissen zu folgen. Ein
guter Mensch zu sein, das konnte einem das Leben verdammt
schwer machen - obwohl er sich wirklich nicht beschweren
durfte. Schließlich hatte er sich dieses Leben selbst ausgesucht.
Und als Agent von Dirk & Steele verfügte er auch noch
über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, dorthin zu kommen,
wohin andere nicht gehen konnten. Außerdem konnte
er auch ein verdammt großes Arschloch sein, wenn die bösen
Jungs die Oberhand zu gewinnen drohten. Dieses Privileg
würde er nicht einmal gegen die ganze Welt eintauschen.
Wie jetzt zum Beispiel, da er seinem Ziel so nahe war. Es
hatte Blue viel Geld und Geduld gekostet, sein derzeitiges
Netzwerk von Informanten aufzubauen; der Letzte hatte ihm
die ungefähre Zeit und das Datum einer Übergabe genannt
und dazu versprochen, dass es eine ganz besondere Lieferung
wäre, direkt in die Hände des großen bösen Mannes persönlich.
Plastik ... klapperte. Unmerklich neigte Blue den Kopf und
beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich eine Frau in das
Zelt duckte. Ihr Gesicht war vom Regen nass. Dieser Anblick
kam so unerwartet, dass es ihm fast den Atem verschlug.
Sie wirkte kühl, hatte lange Beine und trug ein schweißnasses
Tanktop, das ihre sehnigen Arme zeigte. Ihre glatte Haut
hatte einen Honigton, der fast ebenso warm schimmerte wie
ihr kurzes blondes Haar. Eine große Sonnenbrille verbarg
den größten Teil ihres Gesichts, das beeindruckend schmal
und scharf wirkte. Für Blues Geschmack allerdings ein bisschen
zu scharf und auch wesentlich zu hart, aber - was für
ein Körper! Sie fiel in dieser Umgebung auf, und genau das
stellte ein Problem dar.
Es fiel ihm verdammt schwer, die Frau nicht anzustarren,
als sie an seinem Tisch vorüberging. Doch Blues Selbsterhaltungstrieb
verhinderte, dass er ihr mehr als nur einen kurzen
Blick zuwarf. Und dieser kurze Blick genügte, um seinen
ersten Eindruck zu revidieren. Aus der Ferne hatte er sie
auf etwa dreißig Jahre geschätzt; jetzt aber, aus der Nähe, bemerkte
er die Falten um den Mund der Blondine, ihre zähe,
gespannte Haut und auch die silbernen Strähnen, die sich
in ihrem Haar versteckten. Sie war vielleicht sogar um die
fünfzig. Aber das waren wirklich großartige ... fünfzig Jahre.
Sie setzte sich an einen Tisch in die Nähe des Wagens,
schob sich anmutig auf einen wenig vertrauenerweckenden
Plastikstuhl, der auf dem unebenen Beton der Gasse
wackelte. Sie trug eine weite Hose und Sandalen. Für eine
einfache Touristin bewegte sie sich viel zu selbstbewusst -
und dann: Ihre Kleidung schien diesem Lokal keineswegs
angemessen; Indonesien war überwiegend moslemisch, und
obwohl Jakarta behauptete, eine Metropole zu sein, ermutigte
man Frauen, Ausländerinnen und Einheimische, sich
doch ... schicklich zu kleiden.
Aber das schien diese Frau, die hier vor Blue saß, nicht
sonderlich zu kümmern. Doch nicht einer der Männer in
dem Warung schenkte ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
Das war merkwürdig. Außer ihm selbst war die
Frau an diesem Morgen der erste ausländische Mensch, den
Blue auf dieser Seite der Stadt gesehen hatte. In einer solchen
Gegend und bei ihrem Aussehen hätten die Leute sie
doch fast automatisch anstarren müssen. Vollkommen klar.
Verdammt, selbst er zog ja schon Blicke auf sich, und dabei
versuchte er doch sogar, sich anzupassen.
Also lebt sie hier. Die Leute scheinen an ihren Anblick gewöhnt zu sein.
Oder aber Blue war aus irgendeinem - wahrscheinlich
naheliegenden - Grund einfach nur paranoid.
Die Frau warf keinen Blick auf die Speisekarte, die man
mit Filzstift auf die Zeltbahn, die sich hinter ihr befand, geschrieben
hatte. Sie saß einfach nur da und trommelte mit
ihren Fingern auf den Tisch, sagte kein Wort und schien
auch nicht zu versuchen, Blickkontakt mit irgendjemandem
in dem Warung aufzunehmen. Und doch stellte kaum eine
Minute nach ihrem Eintreten die ältliche Besitzerin ein Glas
mit Teh Talua vor sie auf den Tisch. Die Flüssigkeit war von
geschlagenem Eigelb und Zucker ganz gelb. Die blonde Frau
bedankte sich weder, noch lächelte sie. Und sie zahlte auch
nicht. Sie nahm nur das Glas und leerte es mit einem einzigen Zug.
Ein schrecklich hagerer Junge huschte am rückwärtigen
Ende des Zeltes vorbei. Er trug nur Shorts, sonst nichts.
Auch er war tropfnass. Die Besitzerin, die inzwischen wieder
an ihr Hackbrett zurückgekehrt war, würdigte ihn keines
Blickes. Stattdessen sah sie zu der Blondine hinüber, die immer
noch mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Ihre unlackierten
Nägel klickten auf der Plastikoberfläche, als tippe
sie den Rhythmus zu einem Lied.
Ebenso wie die Blonde sagte auch der Junge kein Wort und
bestellte nichts. Er näherte sich den schmutzigen Pfannen,
vorsichtig und zögernd, und stieß dann mit der Fußspitze
gegen das braune Packpapier. Offenbar peilte er die Lage.
Blue reagierte nicht. Dafür gab es auch keinen Grund, jedenfalls
noch nicht. Nicht, solange er nicht ganz sicher war. Die
Jagd war bereits schwierig genug gewesen, auch ohne dass er
Fehler machte; Ungeduld oder Hast konnte er sich da nicht auch noch leisten.
Doch dann wurde er zum Handeln gezwungen. Der Junge
trat zu, das Paket flog in die Luft, und zwar so schnell, dass
seine Bewegungen fast verschwammen. Er fing es mit seiner
kleinen Hand auf und drehte sich dabei herum. Wie ein
Tänzer auf der Flucht. Gut, Kind, sehr gut, dachte Blue. Lauf.
Lauf so schnell du kannst. Geradewegs zu deinem Boss.
Genau dies tat der Junge. Jedenfalls zwei Sekunden lang.
Die ältliche Besitzerin des Warung hatte ihn bis zu diesem
Augenblick vollkommen ignoriert. Jetzt jedoch trat sie hinter
ihrem Arbeitsplatz hervor, schlug dem Jungen mit der
flachen Seite ihres Hackbeils gegen die Brust und verteilte
Knoblauch und Zwiebeln auf dem Boden, während sie ihn
aufhielt. Das Kind schrie auf, taumelte zurück ...
... und prallte gegen die blonde Frau, die von ihrem Stuhl
aufgesprungen und mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch
den engen Imbiss geschossen war, um den Jungen aufzufangen.
Er versuchte so entschieden, ihrer Berührung zu entgehen,
als würden ihre Hände brennen, aber sie hielt ihn fest.
Der Junge duckte sich, starrte in ihr hartes gebräuntes Gesicht
und verdrehte die Augen so sehr, dass das Weiße zu
sehen war. Dabei verzog er den Mund, als wolle er schreien oder weinen.
Die Lippen der Frau bewegten sich. Blue konnte nicht hören,
was sie sagte, aber nun ließ er das Päckchen in ihre ausgestreckte
Handfläche fallen und schüttelte sich. Das Spiel war vorbei.
Blue bereitete sich darauf vor zu reagieren, doch die Frau
tat dem Jungen nichts. Sie schob ihn einfach nur weg, auf
die flackernden Zeltplanen des Ausgangs zu. Und das dürre
Kind rannte, als wäre ihm der Tod auf den Fersen, und zwar
ein schrecklicher, übler Tod. Blue wusste nicht genau, ob er
damit vielleicht sogar recht hatte.
Doch er hütete sich, dem Jungen hinterherzusehen. Stattdessen
beobachtete er die Frau, betrachtete den Umriss ihres
Körpers mit ganz neuen Augen, als er nach Ausbuchtungen
unter ihrer Kleidung suchte, die nicht von Muskeln und
Knochen stammten. Die Frau bemerkte seinen Blick und
legte den Kopf auf die Seite. Dann lächelte sie. Ihr Lächeln
war genauso scharf wie ihr Gesicht, es zeigte nur eine Andeutung
ihrer Zähne. Blue zwang sich, seinen Blick nicht abzuwenden,
spürte jedoch Bewegung um sich herum: Männer
glitten lautlos von ihren Plätzen, entfernten sich von ihren
Tischen, ließen die Mahlzeiten ungegessen und verschwanden
wie Geister aus dem stickigen Schatten des Warung.
Zeit für die Abrechnung. Blue konnte es ihnen nicht verübeln,
dass sie keine Lust hatten zu bleiben. Er selbst wäre
auch gerne weggelaufen. Weit weg sogar, fort von dem Albtraum
dieses Ortes, der ihm bereits tief unter die Haut gedrungen
war, wie eine Tätowierung, wie ein schrecklicher
Stempel auf seiner Seele. All die Dinge, die er in dieser
Stadt gesehen hatte, und all das, was ihn hierhergeführt
hatte ...
Die Frau näherte sich ihm nicht, hob jedoch das kleine
braune Päckchen auf, das sie dann auf ihren Fingerspitzen
balancierte. Ihre Fingernägel waren außergewöhnlich lang.
»Also.« Ihre Stimme wirkte weicher als ihr Gesicht und
hatte einen melodiösen Akzent, den Blue nicht gleich einordnen
konnte. »Das haben Sie also für clever gehalten, ja?
Sie hier, der Sie diesen unbedeutenden kleinen Bengel verfolgen?«
»Ich denke schon«, antwortete Blue. Sie schienen jetzt
allein zu sein. Selbst die Besitzerin des Warung war verschwunden.
Ihr Beilchen jedoch lag auf der Oberfläche des
Arbeitstisches, gleich neben dem rechten Ellbogen der Frau.
Blue dachte an seine Pistole, die in ihrem Halfter auf seinem
Rücken steckte. Aber das konnte ihn nicht trösten.
Sollte es auch nicht. Vergiss die Pistole. Wenn du wolltest,
könntest du ihr Herz anhalten. Ein Gedanke, und schon ist sie tot.
Selbstverständlich würde er nicht einmal über eine solche Möglichkeit nachdenken.
Die Frau warf Blue das Päckchen zu. Er fing es mit einer
Hand auf, doch es war schwerer, als er erwartet hatte, und so
musste er nachfassen, damit es nicht auf den Boden fiel. Die
Frau lachte, tückisch sanft. »Haben Sie wirklich geglaubt«,
fragte sie, »wir würden nicht merken, dass sich jemand umhörte?
Glaubten Sie denn wirklich, wir hätten Sie zu unserem
Auftraggeber führen oder etwas Wichtiges an diesen
Ort bringen wollen? Obwohl wir doch wussten, dass Sie uns verfolgen?«
»Ich lasse offenbar nach«, erwiderte Blue und starrte in
ihre Sonnenbrille, während er sich bemühte, sich nichts anmerken
zu lassen. Das Päckchen legte er auf den Tisch. »Ich
war nicht immer so leicht zu durchschauen.«
»Schon möglich«, erwiderte die Frau. »Aber ich bin auch
ziemlich gut in meinem Job.«
»Sie beschützen ein ... Vieh! Sie wissen doch, was Santoso
tut und wie seine gesamte Familie ihr Vermögen zusammenrafft.«
»Fleisch.« Die Frau lächelte noch immer, aber jetzt wurde
ihr Lächeln etwas spröde. »Fleisch und Blut und der Verkauf
dieser Dinge. Ja, ich weiß das.«
Sie öffnete den Reißverschluss der Schultertasche an ihrer
Seite. Als sie den Kopf senkte, erhaschte Blue einen Blick
auf die Augen unter dem Rand der Sonnenbrille. Sie waren
groß und dunkel. Vielleicht waren sie schön, vielleicht auch
nicht. Das spielte jetzt keine Rolle.
»Vermutlich glauben Sie, dass Sie nach dem hier suchen.«
Die Frau holte eine kleine Blechdose aus ihrer Tasche. Sie
war etwas breiter als ihre Hand und fast genauso groß. An
einem Ende blinkte eine Digitalanzeige. Sie hielt die Blechdose
mit den Fingerspitzen, so wie sie vorher das braune
Päckchen gehalten hatte: als wäre dies ein Juwel oder eine
Seifenblase. Blue fragte sich unwillkürlich, wie kräftig ihre
Hände wohl sein mochten.
Kräftig genug, um dir Schmerzen zuzufügen, antwortete
er sich sogleich und senkte seine mentalen Schilde; nur einen
Spalt, ein kleines bisschen, ein winziger Riss in seinem Kopf ...
... durch den nun augenblicklich die Stadt drang, und
zwar in seinen Kopf hinein. Sie dröhnte, troff vor Macht
und rasierte ihm fast den Schädel, als ihn alle Stromquellen
innerhalb eines Umkreises von einer halben Meile für einen
winzigen kurzen und gleißenden Moment berührten. Es war
ein alter Schmerz, der ganz zu seiner Gabe gehörte: zu Blues
Fähigkeit, elektronische Geräte einfach durch die Kraft seiner
Gedanken kontrollieren zu können.
Er biss sich auf die Innenseite der Wangen und schmeckte
Blut; dies genügte, um zu verhindern, dass er von dem Ansturm
der Macht überwältigt wurde. Er surfte auf dem Feuer
von Jakartas elektronischer Seele und spürte das Brennen in
seinen summenden Knochen. Obwohl der Schmerz zu einem
dumpfen Pochen abebbte, sammelte sich kalter Schweiß
zwischen seinen Schulterblättern. Er fragte sich, wie lange er
das noch weiter so tun konnte, ohne den Verstand zu verlieren,
wie lange er gesund bleiben konnte, weil das Herz doch
ebenfalls auf elektronischer Basis arbeitete - und eines Tages
ganz sicher seinen Dienst versagte. Blick nicht zurück, mach
nur deinen Job, lebe für das Jetzt oder lebe lieber gar nicht!
Blue konzentrierte sich auf die Blechdose. Er durchdrang
die metallene Oberfläche mit seinen Gedanken, sank dorthin,
wo der Blick nicht hingelangen konnte, tastete die
Elektronik ab, den Strom, spürte das Summen der Hitze in
den Stromkreisen und Kabeln. Und da, sehr vertraut, fand
er auch die Pumpe, den Herzschlag. Er stellte sich vor, wie
die Flüssigkeit in dem Kanister schwappte, wie die hypothermische
Perfusion die chemische Lösung in die zentrale
Kammer pumpte, wie Blut! Und mein Gott, es war klein! Es
war das kleinste Gerät, das man auf dem freien Markt kaufen
konnte, und es war so leicht mit einer Bombe zu verwechseln.
Blue hatte erst einmal etwas Ähnliches gesehen: in einem
illegalen Operationszimmer in Kairo, wo ein kleiner Junge
sterbenselend auf einem Küchentisch lag, während irgendein
Schlachter mit einem medizinischen Abschluss beide
Nieren des Kindes entfernte. Und dort war ein Transport-
kanister - so einer wie dieser hier, oder eher sein größerer
Cousin - der erste und bislang einzige Hinweis gewesen, der
Blue dann auf eine Jagd um den Erdball geschickt hatte. Etwas
so ohne jeden Zweifel Geniales konnte nur von sehr wenigen
Menschen erfunden werden. Und einige Teile mussten
auch dazugekauft, Hersteller mussten engagiert und bezahlt werden.
Drei Monate einer Suche, die lange Überseereisen erforderte;
er hatte Telefone anzapfen und Überwachungen durchführen
müssen, er hatte Leute bestochen, damit sie von Angesicht
zu Angesicht mit ihm redeten. Es war Blues eigene,
private Mission gewesen, auf die er nur gegangen war, weil
er diese schreckliche Arroganz, diese unverhüllte Grausamkeit
nicht ertragen konnte. Er konnte nicht untätig danebenstehen,
da sie ihn doch so sehr an sein eigenes Fleisch und Blut erinnerte.
Seine Zähigkeit hatte sich am Ende ausgezahlt und ihn
direkt zu Santoso Rahardjo geführt, dem reichsten Mann in
Indonesien. Er war so reich, dass seiner Familie die Nationalbank
gehörte, und folglich auch die Regierung. Genau aus
diesem Grund war Blue - und zwar gegen den Wunsch seines
Bosses - ohne einen Partner hierhergekommen. Es wäre auch
viel zu gefährlich geworden, wenn mehr als ein Ausländer
anfinge, Fragen zu stellen. Das musste ganz gewiss Aufmerksamkeit
erregen.
Obwohl Blue es ja nun ganz offenkundig auch allein geschafft
hatte aufzufallen.
Warum also laufe ich noch frei herum? Es wäre doch so
einfach, die Polizei zu bestechen, damit sie mich verhaftet
und in irgendeine düstere Gefängniszelle wirft, wo mir irgendein
Insasse genau in dem Augenblick ein Messer in den
Leib rammt, in dem ich seine Zelle betrete. Damit wäre das
Problem gelöst. Keine weiteren Fragen würden gestellt werden,
jedenfalls nicht von mir.
Allerdings würden die anderen Agenten von Dirk & Steele
diese Angelegenheit ganz sicher persönlich nehmen. Sie
würden wie ein Schwarm aus der Apokalypse über dieses
Land herfallen, denn nicht einmal die Hölle verfügte über
solche Furien wie diese kanonenschwingenden Psis, die so
schnell stinksauer waren und nach Vergeltung gierten.
Meine Güte! Er liebte sein Leben!
»Ich glaube, dass ich nach dem da suche«, wiederholte
Blue, als ihn die Erinnerung an die weiche Stimme der Frau
von seiner mentalen Suche nach dem Kanister ablenkte.
»Sehr sorgfältige Wortwahl.«
Die Blondine lächelte und wirbelte den Kanister verblüffend
geschickt auf ihren Fingerspitzen wie einen Basketball
herum. Dann ging sie auf ihn zu, während sie noch weiter
damit spielte. Blue wehrte sich dagegen, sich von diesem herumwirbelnden
Blechkanister ablenken zu lassen, und konzentrierte
sich auf ihr Gesicht, auf ihre freie Hand, die locker
über ihrer offenen Tasche hing. Dann stand er langsam auf
und trat so zurück, dass der Tisch zwischen ihm und der
Frau stand. Ihr Lächeln wurde breiter.
»Sie benehmen sich, als wäre ich gefährlich«, sagte sie.
Der Kanister tanzte nach wie vor auf ihren Fingern und
drehte sich dabei so schnell, dass seine Umrisse verschwammen.
Blue fühlte die schwache Spannung zwischen ihrer
Haut und dem Stahl. Es war weder Magie noch Telekinese,
sondern einfach nur unfassbar gute Reflexe.
Blue erwiderte ihr Lächeln nicht. Schließlich blieb die
Frau am Rand des Tisches stehen und schob den Kanister
wieder in ihren Beutel. Sie schloss den Reißverschluss und
ließ ihre Hände dann seitwärts herunterhängen. Der schimmernde
Schweiß auf ihrer Haut ließ ihre harten Muskeln etwas
weicher erscheinen. Ein Windstoß fegte durch den Warung,
schüttelte die Plastikmarkise und presste ihr Tanktop
noch fester an ihren wunderbaren Körper. Blue beobachtete,
wie eine Strähne des silberfarbenen Haares ihre Mundwinkel berührte.
»Sie begehren mich«, sagte die Frau. »Das erkenne ich in Ihrem Blick.«
»Ich bin ein Mann«, erwiderte Blue. »Aber verwechseln
Sie Attraktion nicht mit Aktion. Oder mit Vertrauen.«
»Oh, keine Sorge.« Ihr Lächeln erlosch, und ihr Blick
zuckte zu dem braunen Päckchen hinüber, das nun zwischen
ihnen auf dem Tisch lag. Blue dehnte seine Konzentration
aus, vergrößerte den Spalt in seinem Schild und stellte nicht
besonders überrascht fest, dass unter dem einfachen Packpapier
ebenfalls ein Stromkreis summte. Er hatte ein weiteres
Transportgerät erwartet, bemerkte jedoch nach einem
Augenblick, dass sich dies hier etwas anders anfühlte. Es
war nicht so ... komplex wie der Kanister, der inzwischen in
der Tasche der Frau lag. Es war zwar weniger komplex, dafür
aber viel gefährlicher. Blue hielt den Atem an.
»Sie sehen es«, stellte die Frau fest, kniff die Augen zusammen
und trat zurück. »Ich wusste es. Betrachten Sie es
als mein Geschenk an Sie. Als meine Warnung.«
Blue beobachtete, wie sie sich langsam umdrehte, als wäre
die Luft um sie herum so zäh wie Teer, als würde sie förmlich
darum bitten, gefangen genommen zu werden. Obwohl
er ihr folgen wollte, obwohl er weglaufen und weder an die
Fragen und Antworten noch an dieses rätselhafte Lächeln
denken wollte, tat er es nicht. Stattdessen sah er zu, wie die
Frau aus dem Zelt trat, und schloss die Augen. Er schloss sie
fest und konzentrierte sich auf das Gerät, das da vor ihm lag.
Die Bombe war leicht zu entschärfen. Es gab keine Fernbedienung.
Das Einzige, was dazu nötig war, war eine Unterbrechung
des Stromkreises im Timer. Das hatte Blue in
seiner Zeit in der Navy mehr als tausend Mal gemacht. Es
hätte keine echte Aufgabe sein sollen, angesichts seiner Fähigkeiten,
was Elektronik betraf.
Nur fühlte sich diesmal trotzdem etwas falsch an.
Er öffnete seinen Geist noch weiter, schickte seine Sinne
aus, suchte nach einer anderen Spur, einem Flüstern gefährlicher
Stromkreise. Aber es befand sich zu viel um ihn
herum: Handys, Fernseher, Autos, Radios, Stromleitungen,
selbst menschliche Körper - sein Geist ertrank in den Empfindungen,
seine Knochen klapperten. Blue drehte sich herum
...
Er spürte die Explosion in seinem Kopf, bevor ihn die
Schockwelle traf und vom Boden hochriss. Er lernte, wie man flog.
Später erinnerte sich Blue daran, dass er geschrien hatte. Er
erinnerte sich an den Geruch von Rauch und Blut und an
das Weinen eines Kindes, irgendwo in der Nähe, als sei sein
Herz gebrochen. Oder gestohlen. Er erinnerte sich an Sirenen,
Schreie, an das Gefühl von Nadeln in seinen Armen.
Und an noch eine andere Stimme, eine Frauenstimme, leise
und sanft.
Und er erinnerte sich auch an Schuld.
Aber das alles kam erst viel später. Blue versank und verlor
die Kontrolle über sein Leben.
Die Welt veränderte sich. Blue spürte den Unterschied bereits,
noch während er bewusstlos in seinen Träumen gefangen
war. In diesen unendlich scheinenden Träumen, die
eine Folter für seine Seele bedeuteten. Unaufhörlich wälzten
sie sich in seinem Körper und versuchten, aus seiner Haut
herauszukriechen. Er wollte nicht in der Dunkelheit bleiben.
Er wollte auch gar nicht sehen, was ihm seine Erinnerungen
da beständig vor Augen führten. Doch um aufzuwachen
war er zu langsam. Es war ein so zäher Prozess, ein wilder
Kampf, bis er das Bewusstsein wiedererlangte.
Zuerst nahm er seine Haut wahr, da er eine Bewegung
darauf spürte, eine sanfte Bewegung, vielleicht ein warmer
Lufthauch. Dann hörte er das Rascheln von Blättern, roch
Blüten, Meersalz und Vanille. Zuerst glaubte er, die Düfte
und Empfindungen gehörten zu einem anderen Traum, aber
nur darum, weil sie ruhig und irgendwie fern wirkten, köstlich
einfach. Nichts Elektrisches berührte seinen Geist. Und
das war in diesem Zeitalter doch eher unnatürlich.
Blue öffnete die Augen. Ein weißer Himmel aus Segeltuch
erstreckte sich über ihm, über die blasse Oberfläche flackerten
Schatten. Er starrte hin und versuchte sich zu orientieren,
sich zu erinnern. Was ist das? Wo bin ich? Dann hörte er
das Rascheln von Papier.
Sein Blick glitt nach links, Bilder zuckten durch seinen
Geist. Flatternde blaue Segeltuchbahnen, wacklige Tische,
verschwitzte Menschen. Er sah auf einen langen Holztisch,
auf dem dicke weiße Kerzen standen und Rucksäcke lagen,
vollgestopft mit Wasserflaschen und Nahrungsmitteln. Erneut
hörte er Rascheln, diesmal das Rascheln von Kleidung,
und blickte von dem Tisch und den flackernden Kerzenflammen
auf ... eine Frau mit Sonnenbrille, einem scharfen Gesicht
mit ... Nein. Nicht sie war es. Aber blondes Haar hatte
sie, ja. Blondes Haar, das ein entzückendes rundes Gesicht
umrahmte, eines, das er kannte. Ein Lachen stieg Blue in den
Hals, obwohl er nur ein Krächzen herausbrachte.
»Dela«, sagte er. Delilah Reese. Künstlerin, Waffenschmiedin,
beste Freundin und obendrein eine fantastische Frau.
Was für ein Anblick für seine müden Augen. Sie hatte langes
Haar und trug eine dunkle weite Kleidung. Um ihre Unterarme
schlangen sich Lederbänder, in denen Stahl glitzerte. Wurfmesser.
Sie nahm eine Wasserflasche vom Tisch, bevor sie an sein
Bett trat, und hielt sie an seinen Mund. Blue wusste nicht
genau, ob er durstig war, aber als das Wasser seine Lippen
berührte, spürte er die Risse, schmeckte das Blut, bemerkte
seine trockene geschwollene Zunge und dann auch die
wunde Kehle. Er saugte wie ein Säugling an der Flasche und
trank das Wasser in großen, schmerzhaften Schlucken. Dela
schob ihm ihre Hand unter den Kopf und drückte ihn an
sich, während er die ganze Flasche leerte.
»Willst du mehr?«, fragte sie, als er den letzten Tropfen
ausgetrunken hatte. Blue sah an ihr vorbei auf die Moskitonetze,
die die Wände ersetzten. Dahinter war es dunkel.
»Nein.« Er wollte das Gesicht abzuwischen. Sein Arm
gehorchte ihm, gerade so. Er fühlte sich schwach. Und er
spürte Bartstoppeln - was ihn schockierte. »Was ist mit mir
passiert? Und warum bist du hier?« Schließlich sollten Dela
und ihre Familie gerade in Kalifornien sein, auf ihrer Ranch
in den Bergen, und nicht hier in Indonesien ...
Es sei denn, er selbst war gar nicht mehr in ... Indonesien.
Erneut schickte Blue seinen Geist aus, konnte jedoch
nichts wahrnehmen. Es gab keinerlei elektrische Geräte,
keine Kabel, keine Batterien oder Maschinen. Die Stille bereitete
ihm Unbehagen. Er hatte das Gefühl, in einem riesigen
Nichts gefangen zu sein, so als wäre sein Kopf von einer
schallschluckenden Glocke umhüllt. Unter anderen Umständen
wäre dieses Gefühl großartig und entspannend gewesen,
aber dies hier war keineswegs der richtige Augenblick für Überraschungen.
Dela lächelte traurig. »Erinnerst du dich an irgendetwas, Blue?«
»Ich ...« Er hielt inne. »Ja. Ja, ich erinnere mich schon.«
Die Erinnerung überflutete ihn wie ein Brei aus Klängen
und Schmerz. Er schloss die Augen und unterdrückte einen
Brechreiz. Er kämpfte dagegen an, und nach einer Weile
spürte er die Wärme von Delas Körper, während sie sich
über ihn beugte und seine Hand berührte.
»Wie viele Menschen sind bei der Explosion gestorben?«,
erkundigte er sich.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2010
bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Marjorie M. Liu
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
By arrangement with Dorchester Publishing Co., Inc.
Dieses Werk wurde vermittelt durch
Interpill Media GmbH, Hamburg
UH • Redaktion: Joern Rauser
Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-442-37531-8
www.blanvalet.de
Die Regenzeit hatte eingesetzt; die Luft war stickig und
feucht, was die ohnehin schon drückende Hitze in den
überquellenden Slums der Hauptstadt von Indonesien
noch schlimmer machte. Statt kühler Schauer wehten nur
Vorhänge aus schmutzigem Wasser vom Himmel herab und
prasselten auf das blaue Zeltdach und die fest zugezogenen
Zeltwände dieses Wanderimbisses. Heute war er hier,
morgen verschwunden, dann stand er in einer anderen
Gasse, auf einem Parkplatz oder an einer Straßenecke. Die
Tische, an denen Blue und auch noch weitere Gäste saßen,
waren leicht zusammenzuklappen und auf dem dreirädrigen
Karren zu verladen, der sich hinter dem fahrbaren Ofen
im rückwärtigen Teil des Zeltes befand. Die Besitzerin war
eine korpulente Frau und dabei eine Nuance braunhäutiger
als Blue. Sie arbeitete mit Feuereifer an einem Hackbrett
und ließ ihr Beil in schnellen Bewegungen herabsausen.
Sicherlich war es besser, keine Messerstecherei mit ihr
anzufangen. Blue konnte sich gut vorstellen, wer dann gewänne.
Und er hütete sich auch, eine Beschwerde über das Essen
loszuwerden. Da war es doch viel einfacher, den Pappteller
mit Nasi Goreng, der da vor ihm stand, lediglich zu ignorieren.
Der Bratreis war natürlich zu fettig, die Hühnerstücke
wirkten entschieden zu roh. Blue verfügte zwar über einen
Magen aus Eisen, der im Augenblick auch hungrig knurrte,
aber er hatte keine Zeit, das dumme Risiko einzugehen, sich
über eine Toilette gebeugt die Seele auszukotzen. Falls er
hier überhaupt eine Toilette fände. Sein Hotel lag auf der
anderen Seite der Stadt, eine schöne, glitzernde Oase, die
jederzeit darauf wartete, dass er zurückkam. Kühle Luft, eine
kalte Dusche, kaltes Wasser in Flaschen ...
Hör damit auf. Konzentrier dich lieber auf das Spiel.
Schließlich bist du hier nicht in den Ferien.
Ganz richtig. Denn wenn Blue eine Pause gewollt hätte,
würde er jetzt auf irgendeinem Berg in Colorado sitzen,
auf einer Klippe vielleicht, und zusehen, wie die Sonne an
dem Horizont einer leeren, schweigenden Welt unterging,
statt ausgerechnet hier in Jakarta zu sein, umgeben von dreizehn
Millionen Menschen, die alle nur versuchten, in dieser
verarmten Stadt zu überleben, einer Stadt, die ständig am
Abgrund von religiösen und Rassenunruhen taumelte. Und
er würde doch nicht in einem schmutzigen Wanderimbiss
sitzen, schwitzend, dreckig und müde, sein Leben riskieren
- oder seine geistige Gesundheit -, nur um einen einzigen
Blick auf einen eher fruchtlosen Hinweis zu erhaschen:
die Hoffnung auf eine Verbindung, die ihn endlich auf die
Fährte jenes Mannes bringen konnte, der unbedingt sterben
musste.
Sicher, sicher. Und alles an einem einzigen Tag. Zu schade,
dass er ein Gewissen hatte. Und noch schlimmer war, dass er
auch noch in der Lage war, seinem Gewissen zu folgen. Ein
guter Mensch zu sein, das konnte einem das Leben verdammt
schwer machen - obwohl er sich wirklich nicht beschweren
durfte. Schließlich hatte er sich dieses Leben selbst ausgesucht.
Und als Agent von Dirk & Steele verfügte er auch noch
über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, dorthin zu kommen,
wohin andere nicht gehen konnten. Außerdem konnte
er auch ein verdammt großes Arschloch sein, wenn die bösen
Jungs die Oberhand zu gewinnen drohten. Dieses Privileg
würde er nicht einmal gegen die ganze Welt eintauschen.
Wie jetzt zum Beispiel, da er seinem Ziel so nahe war. Es
hatte Blue viel Geld und Geduld gekostet, sein derzeitiges
Netzwerk von Informanten aufzubauen; der Letzte hatte ihm
die ungefähre Zeit und das Datum einer Übergabe genannt
und dazu versprochen, dass es eine ganz besondere Lieferung
wäre, direkt in die Hände des großen bösen Mannes persönlich.
Plastik ... klapperte. Unmerklich neigte Blue den Kopf und
beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich eine Frau in das
Zelt duckte. Ihr Gesicht war vom Regen nass. Dieser Anblick
kam so unerwartet, dass es ihm fast den Atem verschlug.
Sie wirkte kühl, hatte lange Beine und trug ein schweißnasses
Tanktop, das ihre sehnigen Arme zeigte. Ihre glatte Haut
hatte einen Honigton, der fast ebenso warm schimmerte wie
ihr kurzes blondes Haar. Eine große Sonnenbrille verbarg
den größten Teil ihres Gesichts, das beeindruckend schmal
und scharf wirkte. Für Blues Geschmack allerdings ein bisschen
zu scharf und auch wesentlich zu hart, aber - was für
ein Körper! Sie fiel in dieser Umgebung auf, und genau das
stellte ein Problem dar.
Es fiel ihm verdammt schwer, die Frau nicht anzustarren,
als sie an seinem Tisch vorüberging. Doch Blues Selbsterhaltungstrieb
verhinderte, dass er ihr mehr als nur einen kurzen
Blick zuwarf. Und dieser kurze Blick genügte, um seinen
ersten Eindruck zu revidieren. Aus der Ferne hatte er sie
auf etwa dreißig Jahre geschätzt; jetzt aber, aus der Nähe, bemerkte
er die Falten um den Mund der Blondine, ihre zähe,
gespannte Haut und auch die silbernen Strähnen, die sich
in ihrem Haar versteckten. Sie war vielleicht sogar um die
fünfzig. Aber das waren wirklich großartige ... fünfzig Jahre.
Sie setzte sich an einen Tisch in die Nähe des Wagens,
schob sich anmutig auf einen wenig vertrauenerweckenden
Plastikstuhl, der auf dem unebenen Beton der Gasse
wackelte. Sie trug eine weite Hose und Sandalen. Für eine
einfache Touristin bewegte sie sich viel zu selbstbewusst -
und dann: Ihre Kleidung schien diesem Lokal keineswegs
angemessen; Indonesien war überwiegend moslemisch, und
obwohl Jakarta behauptete, eine Metropole zu sein, ermutigte
man Frauen, Ausländerinnen und Einheimische, sich
doch ... schicklich zu kleiden.
Aber das schien diese Frau, die hier vor Blue saß, nicht
sonderlich zu kümmern. Doch nicht einer der Männer in
dem Warung schenkte ihr auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
Das war merkwürdig. Außer ihm selbst war die
Frau an diesem Morgen der erste ausländische Mensch, den
Blue auf dieser Seite der Stadt gesehen hatte. In einer solchen
Gegend und bei ihrem Aussehen hätten die Leute sie
doch fast automatisch anstarren müssen. Vollkommen klar.
Verdammt, selbst er zog ja schon Blicke auf sich, und dabei
versuchte er doch sogar, sich anzupassen.
Also lebt sie hier. Die Leute scheinen an ihren Anblick gewöhnt zu sein.
Oder aber Blue war aus irgendeinem - wahrscheinlich
naheliegenden - Grund einfach nur paranoid.
Die Frau warf keinen Blick auf die Speisekarte, die man
mit Filzstift auf die Zeltbahn, die sich hinter ihr befand, geschrieben
hatte. Sie saß einfach nur da und trommelte mit
ihren Fingern auf den Tisch, sagte kein Wort und schien
auch nicht zu versuchen, Blickkontakt mit irgendjemandem
in dem Warung aufzunehmen. Und doch stellte kaum eine
Minute nach ihrem Eintreten die ältliche Besitzerin ein Glas
mit Teh Talua vor sie auf den Tisch. Die Flüssigkeit war von
geschlagenem Eigelb und Zucker ganz gelb. Die blonde Frau
bedankte sich weder, noch lächelte sie. Und sie zahlte auch
nicht. Sie nahm nur das Glas und leerte es mit einem einzigen Zug.
Ein schrecklich hagerer Junge huschte am rückwärtigen
Ende des Zeltes vorbei. Er trug nur Shorts, sonst nichts.
Auch er war tropfnass. Die Besitzerin, die inzwischen wieder
an ihr Hackbrett zurückgekehrt war, würdigte ihn keines
Blickes. Stattdessen sah sie zu der Blondine hinüber, die immer
noch mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Ihre unlackierten
Nägel klickten auf der Plastikoberfläche, als tippe
sie den Rhythmus zu einem Lied.
Ebenso wie die Blonde sagte auch der Junge kein Wort und
bestellte nichts. Er näherte sich den schmutzigen Pfannen,
vorsichtig und zögernd, und stieß dann mit der Fußspitze
gegen das braune Packpapier. Offenbar peilte er die Lage.
Blue reagierte nicht. Dafür gab es auch keinen Grund, jedenfalls
noch nicht. Nicht, solange er nicht ganz sicher war. Die
Jagd war bereits schwierig genug gewesen, auch ohne dass er
Fehler machte; Ungeduld oder Hast konnte er sich da nicht auch noch leisten.
Doch dann wurde er zum Handeln gezwungen. Der Junge
trat zu, das Paket flog in die Luft, und zwar so schnell, dass
seine Bewegungen fast verschwammen. Er fing es mit seiner
kleinen Hand auf und drehte sich dabei herum. Wie ein
Tänzer auf der Flucht. Gut, Kind, sehr gut, dachte Blue. Lauf.
Lauf so schnell du kannst. Geradewegs zu deinem Boss.
Genau dies tat der Junge. Jedenfalls zwei Sekunden lang.
Die ältliche Besitzerin des Warung hatte ihn bis zu diesem
Augenblick vollkommen ignoriert. Jetzt jedoch trat sie hinter
ihrem Arbeitsplatz hervor, schlug dem Jungen mit der
flachen Seite ihres Hackbeils gegen die Brust und verteilte
Knoblauch und Zwiebeln auf dem Boden, während sie ihn
aufhielt. Das Kind schrie auf, taumelte zurück ...
... und prallte gegen die blonde Frau, die von ihrem Stuhl
aufgesprungen und mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch
den engen Imbiss geschossen war, um den Jungen aufzufangen.
Er versuchte so entschieden, ihrer Berührung zu entgehen,
als würden ihre Hände brennen, aber sie hielt ihn fest.
Der Junge duckte sich, starrte in ihr hartes gebräuntes Gesicht
und verdrehte die Augen so sehr, dass das Weiße zu
sehen war. Dabei verzog er den Mund, als wolle er schreien oder weinen.
Die Lippen der Frau bewegten sich. Blue konnte nicht hören,
was sie sagte, aber nun ließ er das Päckchen in ihre ausgestreckte
Handfläche fallen und schüttelte sich. Das Spiel war vorbei.
Blue bereitete sich darauf vor zu reagieren, doch die Frau
tat dem Jungen nichts. Sie schob ihn einfach nur weg, auf
die flackernden Zeltplanen des Ausgangs zu. Und das dürre
Kind rannte, als wäre ihm der Tod auf den Fersen, und zwar
ein schrecklicher, übler Tod. Blue wusste nicht genau, ob er
damit vielleicht sogar recht hatte.
Doch er hütete sich, dem Jungen hinterherzusehen. Stattdessen
beobachtete er die Frau, betrachtete den Umriss ihres
Körpers mit ganz neuen Augen, als er nach Ausbuchtungen
unter ihrer Kleidung suchte, die nicht von Muskeln und
Knochen stammten. Die Frau bemerkte seinen Blick und
legte den Kopf auf die Seite. Dann lächelte sie. Ihr Lächeln
war genauso scharf wie ihr Gesicht, es zeigte nur eine Andeutung
ihrer Zähne. Blue zwang sich, seinen Blick nicht abzuwenden,
spürte jedoch Bewegung um sich herum: Männer
glitten lautlos von ihren Plätzen, entfernten sich von ihren
Tischen, ließen die Mahlzeiten ungegessen und verschwanden
wie Geister aus dem stickigen Schatten des Warung.
Zeit für die Abrechnung. Blue konnte es ihnen nicht verübeln,
dass sie keine Lust hatten zu bleiben. Er selbst wäre
auch gerne weggelaufen. Weit weg sogar, fort von dem Albtraum
dieses Ortes, der ihm bereits tief unter die Haut gedrungen
war, wie eine Tätowierung, wie ein schrecklicher
Stempel auf seiner Seele. All die Dinge, die er in dieser
Stadt gesehen hatte, und all das, was ihn hierhergeführt
hatte ...
Die Frau näherte sich ihm nicht, hob jedoch das kleine
braune Päckchen auf, das sie dann auf ihren Fingerspitzen
balancierte. Ihre Fingernägel waren außergewöhnlich lang.
»Also.« Ihre Stimme wirkte weicher als ihr Gesicht und
hatte einen melodiösen Akzent, den Blue nicht gleich einordnen
konnte. »Das haben Sie also für clever gehalten, ja?
Sie hier, der Sie diesen unbedeutenden kleinen Bengel verfolgen?«
»Ich denke schon«, antwortete Blue. Sie schienen jetzt
allein zu sein. Selbst die Besitzerin des Warung war verschwunden.
Ihr Beilchen jedoch lag auf der Oberfläche des
Arbeitstisches, gleich neben dem rechten Ellbogen der Frau.
Blue dachte an seine Pistole, die in ihrem Halfter auf seinem
Rücken steckte. Aber das konnte ihn nicht trösten.
Sollte es auch nicht. Vergiss die Pistole. Wenn du wolltest,
könntest du ihr Herz anhalten. Ein Gedanke, und schon ist sie tot.
Selbstverständlich würde er nicht einmal über eine solche Möglichkeit nachdenken.
Die Frau warf Blue das Päckchen zu. Er fing es mit einer
Hand auf, doch es war schwerer, als er erwartet hatte, und so
musste er nachfassen, damit es nicht auf den Boden fiel. Die
Frau lachte, tückisch sanft. »Haben Sie wirklich geglaubt«,
fragte sie, »wir würden nicht merken, dass sich jemand umhörte?
Glaubten Sie denn wirklich, wir hätten Sie zu unserem
Auftraggeber führen oder etwas Wichtiges an diesen
Ort bringen wollen? Obwohl wir doch wussten, dass Sie uns verfolgen?«
»Ich lasse offenbar nach«, erwiderte Blue und starrte in
ihre Sonnenbrille, während er sich bemühte, sich nichts anmerken
zu lassen. Das Päckchen legte er auf den Tisch. »Ich
war nicht immer so leicht zu durchschauen.«
»Schon möglich«, erwiderte die Frau. »Aber ich bin auch
ziemlich gut in meinem Job.«
»Sie beschützen ein ... Vieh! Sie wissen doch, was Santoso
tut und wie seine gesamte Familie ihr Vermögen zusammenrafft.«
»Fleisch.« Die Frau lächelte noch immer, aber jetzt wurde
ihr Lächeln etwas spröde. »Fleisch und Blut und der Verkauf
dieser Dinge. Ja, ich weiß das.«
Sie öffnete den Reißverschluss der Schultertasche an ihrer
Seite. Als sie den Kopf senkte, erhaschte Blue einen Blick
auf die Augen unter dem Rand der Sonnenbrille. Sie waren
groß und dunkel. Vielleicht waren sie schön, vielleicht auch
nicht. Das spielte jetzt keine Rolle.
»Vermutlich glauben Sie, dass Sie nach dem hier suchen.«
Die Frau holte eine kleine Blechdose aus ihrer Tasche. Sie
war etwas breiter als ihre Hand und fast genauso groß. An
einem Ende blinkte eine Digitalanzeige. Sie hielt die Blechdose
mit den Fingerspitzen, so wie sie vorher das braune
Päckchen gehalten hatte: als wäre dies ein Juwel oder eine
Seifenblase. Blue fragte sich unwillkürlich, wie kräftig ihre
Hände wohl sein mochten.
Kräftig genug, um dir Schmerzen zuzufügen, antwortete
er sich sogleich und senkte seine mentalen Schilde; nur einen
Spalt, ein kleines bisschen, ein winziger Riss in seinem Kopf ...
... durch den nun augenblicklich die Stadt drang, und
zwar in seinen Kopf hinein. Sie dröhnte, troff vor Macht
und rasierte ihm fast den Schädel, als ihn alle Stromquellen
innerhalb eines Umkreises von einer halben Meile für einen
winzigen kurzen und gleißenden Moment berührten. Es war
ein alter Schmerz, der ganz zu seiner Gabe gehörte: zu Blues
Fähigkeit, elektronische Geräte einfach durch die Kraft seiner
Gedanken kontrollieren zu können.
Er biss sich auf die Innenseite der Wangen und schmeckte
Blut; dies genügte, um zu verhindern, dass er von dem Ansturm
der Macht überwältigt wurde. Er surfte auf dem Feuer
von Jakartas elektronischer Seele und spürte das Brennen in
seinen summenden Knochen. Obwohl der Schmerz zu einem
dumpfen Pochen abebbte, sammelte sich kalter Schweiß
zwischen seinen Schulterblättern. Er fragte sich, wie lange er
das noch weiter so tun konnte, ohne den Verstand zu verlieren,
wie lange er gesund bleiben konnte, weil das Herz doch
ebenfalls auf elektronischer Basis arbeitete - und eines Tages
ganz sicher seinen Dienst versagte. Blick nicht zurück, mach
nur deinen Job, lebe für das Jetzt oder lebe lieber gar nicht!
Blue konzentrierte sich auf die Blechdose. Er durchdrang
die metallene Oberfläche mit seinen Gedanken, sank dorthin,
wo der Blick nicht hingelangen konnte, tastete die
Elektronik ab, den Strom, spürte das Summen der Hitze in
den Stromkreisen und Kabeln. Und da, sehr vertraut, fand
er auch die Pumpe, den Herzschlag. Er stellte sich vor, wie
die Flüssigkeit in dem Kanister schwappte, wie die hypothermische
Perfusion die chemische Lösung in die zentrale
Kammer pumpte, wie Blut! Und mein Gott, es war klein! Es
war das kleinste Gerät, das man auf dem freien Markt kaufen
konnte, und es war so leicht mit einer Bombe zu verwechseln.
Blue hatte erst einmal etwas Ähnliches gesehen: in einem
illegalen Operationszimmer in Kairo, wo ein kleiner Junge
sterbenselend auf einem Küchentisch lag, während irgendein
Schlachter mit einem medizinischen Abschluss beide
Nieren des Kindes entfernte. Und dort war ein Transport-
kanister - so einer wie dieser hier, oder eher sein größerer
Cousin - der erste und bislang einzige Hinweis gewesen, der
Blue dann auf eine Jagd um den Erdball geschickt hatte. Etwas
so ohne jeden Zweifel Geniales konnte nur von sehr wenigen
Menschen erfunden werden. Und einige Teile mussten
auch dazugekauft, Hersteller mussten engagiert und bezahlt werden.
Drei Monate einer Suche, die lange Überseereisen erforderte;
er hatte Telefone anzapfen und Überwachungen durchführen
müssen, er hatte Leute bestochen, damit sie von Angesicht
zu Angesicht mit ihm redeten. Es war Blues eigene,
private Mission gewesen, auf die er nur gegangen war, weil
er diese schreckliche Arroganz, diese unverhüllte Grausamkeit
nicht ertragen konnte. Er konnte nicht untätig danebenstehen,
da sie ihn doch so sehr an sein eigenes Fleisch und Blut erinnerte.
Seine Zähigkeit hatte sich am Ende ausgezahlt und ihn
direkt zu Santoso Rahardjo geführt, dem reichsten Mann in
Indonesien. Er war so reich, dass seiner Familie die Nationalbank
gehörte, und folglich auch die Regierung. Genau aus
diesem Grund war Blue - und zwar gegen den Wunsch seines
Bosses - ohne einen Partner hierhergekommen. Es wäre auch
viel zu gefährlich geworden, wenn mehr als ein Ausländer
anfinge, Fragen zu stellen. Das musste ganz gewiss Aufmerksamkeit
erregen.
Obwohl Blue es ja nun ganz offenkundig auch allein geschafft
hatte aufzufallen.
Warum also laufe ich noch frei herum? Es wäre doch so
einfach, die Polizei zu bestechen, damit sie mich verhaftet
und in irgendeine düstere Gefängniszelle wirft, wo mir irgendein
Insasse genau in dem Augenblick ein Messer in den
Leib rammt, in dem ich seine Zelle betrete. Damit wäre das
Problem gelöst. Keine weiteren Fragen würden gestellt werden,
jedenfalls nicht von mir.
Allerdings würden die anderen Agenten von Dirk & Steele
diese Angelegenheit ganz sicher persönlich nehmen. Sie
würden wie ein Schwarm aus der Apokalypse über dieses
Land herfallen, denn nicht einmal die Hölle verfügte über
solche Furien wie diese kanonenschwingenden Psis, die so
schnell stinksauer waren und nach Vergeltung gierten.
Meine Güte! Er liebte sein Leben!
»Ich glaube, dass ich nach dem da suche«, wiederholte
Blue, als ihn die Erinnerung an die weiche Stimme der Frau
von seiner mentalen Suche nach dem Kanister ablenkte.
»Sehr sorgfältige Wortwahl.«
Die Blondine lächelte und wirbelte den Kanister verblüffend
geschickt auf ihren Fingerspitzen wie einen Basketball
herum. Dann ging sie auf ihn zu, während sie noch weiter
damit spielte. Blue wehrte sich dagegen, sich von diesem herumwirbelnden
Blechkanister ablenken zu lassen, und konzentrierte
sich auf ihr Gesicht, auf ihre freie Hand, die locker
über ihrer offenen Tasche hing. Dann stand er langsam auf
und trat so zurück, dass der Tisch zwischen ihm und der
Frau stand. Ihr Lächeln wurde breiter.
»Sie benehmen sich, als wäre ich gefährlich«, sagte sie.
Der Kanister tanzte nach wie vor auf ihren Fingern und
drehte sich dabei so schnell, dass seine Umrisse verschwammen.
Blue fühlte die schwache Spannung zwischen ihrer
Haut und dem Stahl. Es war weder Magie noch Telekinese,
sondern einfach nur unfassbar gute Reflexe.
Blue erwiderte ihr Lächeln nicht. Schließlich blieb die
Frau am Rand des Tisches stehen und schob den Kanister
wieder in ihren Beutel. Sie schloss den Reißverschluss und
ließ ihre Hände dann seitwärts herunterhängen. Der schimmernde
Schweiß auf ihrer Haut ließ ihre harten Muskeln etwas
weicher erscheinen. Ein Windstoß fegte durch den Warung,
schüttelte die Plastikmarkise und presste ihr Tanktop
noch fester an ihren wunderbaren Körper. Blue beobachtete,
wie eine Strähne des silberfarbenen Haares ihre Mundwinkel berührte.
»Sie begehren mich«, sagte die Frau. »Das erkenne ich in Ihrem Blick.«
»Ich bin ein Mann«, erwiderte Blue. »Aber verwechseln
Sie Attraktion nicht mit Aktion. Oder mit Vertrauen.«
»Oh, keine Sorge.« Ihr Lächeln erlosch, und ihr Blick
zuckte zu dem braunen Päckchen hinüber, das nun zwischen
ihnen auf dem Tisch lag. Blue dehnte seine Konzentration
aus, vergrößerte den Spalt in seinem Schild und stellte nicht
besonders überrascht fest, dass unter dem einfachen Packpapier
ebenfalls ein Stromkreis summte. Er hatte ein weiteres
Transportgerät erwartet, bemerkte jedoch nach einem
Augenblick, dass sich dies hier etwas anders anfühlte. Es
war nicht so ... komplex wie der Kanister, der inzwischen in
der Tasche der Frau lag. Es war zwar weniger komplex, dafür
aber viel gefährlicher. Blue hielt den Atem an.
»Sie sehen es«, stellte die Frau fest, kniff die Augen zusammen
und trat zurück. »Ich wusste es. Betrachten Sie es
als mein Geschenk an Sie. Als meine Warnung.«
Blue beobachtete, wie sie sich langsam umdrehte, als wäre
die Luft um sie herum so zäh wie Teer, als würde sie förmlich
darum bitten, gefangen genommen zu werden. Obwohl
er ihr folgen wollte, obwohl er weglaufen und weder an die
Fragen und Antworten noch an dieses rätselhafte Lächeln
denken wollte, tat er es nicht. Stattdessen sah er zu, wie die
Frau aus dem Zelt trat, und schloss die Augen. Er schloss sie
fest und konzentrierte sich auf das Gerät, das da vor ihm lag.
Die Bombe war leicht zu entschärfen. Es gab keine Fernbedienung.
Das Einzige, was dazu nötig war, war eine Unterbrechung
des Stromkreises im Timer. Das hatte Blue in
seiner Zeit in der Navy mehr als tausend Mal gemacht. Es
hätte keine echte Aufgabe sein sollen, angesichts seiner Fähigkeiten,
was Elektronik betraf.
Nur fühlte sich diesmal trotzdem etwas falsch an.
Er öffnete seinen Geist noch weiter, schickte seine Sinne
aus, suchte nach einer anderen Spur, einem Flüstern gefährlicher
Stromkreise. Aber es befand sich zu viel um ihn
herum: Handys, Fernseher, Autos, Radios, Stromleitungen,
selbst menschliche Körper - sein Geist ertrank in den Empfindungen,
seine Knochen klapperten. Blue drehte sich herum
...
Er spürte die Explosion in seinem Kopf, bevor ihn die
Schockwelle traf und vom Boden hochriss. Er lernte, wie man flog.
Später erinnerte sich Blue daran, dass er geschrien hatte. Er
erinnerte sich an den Geruch von Rauch und Blut und an
das Weinen eines Kindes, irgendwo in der Nähe, als sei sein
Herz gebrochen. Oder gestohlen. Er erinnerte sich an Sirenen,
Schreie, an das Gefühl von Nadeln in seinen Armen.
Und an noch eine andere Stimme, eine Frauenstimme, leise
und sanft.
Und er erinnerte sich auch an Schuld.
Aber das alles kam erst viel später. Blue versank und verlor
die Kontrolle über sein Leben.
Die Welt veränderte sich. Blue spürte den Unterschied bereits,
noch während er bewusstlos in seinen Träumen gefangen
war. In diesen unendlich scheinenden Träumen, die
eine Folter für seine Seele bedeuteten. Unaufhörlich wälzten
sie sich in seinem Körper und versuchten, aus seiner Haut
herauszukriechen. Er wollte nicht in der Dunkelheit bleiben.
Er wollte auch gar nicht sehen, was ihm seine Erinnerungen
da beständig vor Augen führten. Doch um aufzuwachen
war er zu langsam. Es war ein so zäher Prozess, ein wilder
Kampf, bis er das Bewusstsein wiedererlangte.
Zuerst nahm er seine Haut wahr, da er eine Bewegung
darauf spürte, eine sanfte Bewegung, vielleicht ein warmer
Lufthauch. Dann hörte er das Rascheln von Blättern, roch
Blüten, Meersalz und Vanille. Zuerst glaubte er, die Düfte
und Empfindungen gehörten zu einem anderen Traum, aber
nur darum, weil sie ruhig und irgendwie fern wirkten, köstlich
einfach. Nichts Elektrisches berührte seinen Geist. Und
das war in diesem Zeitalter doch eher unnatürlich.
Blue öffnete die Augen. Ein weißer Himmel aus Segeltuch
erstreckte sich über ihm, über die blasse Oberfläche flackerten
Schatten. Er starrte hin und versuchte sich zu orientieren,
sich zu erinnern. Was ist das? Wo bin ich? Dann hörte er
das Rascheln von Papier.
Sein Blick glitt nach links, Bilder zuckten durch seinen
Geist. Flatternde blaue Segeltuchbahnen, wacklige Tische,
verschwitzte Menschen. Er sah auf einen langen Holztisch,
auf dem dicke weiße Kerzen standen und Rucksäcke lagen,
vollgestopft mit Wasserflaschen und Nahrungsmitteln. Erneut
hörte er Rascheln, diesmal das Rascheln von Kleidung,
und blickte von dem Tisch und den flackernden Kerzenflammen
auf ... eine Frau mit Sonnenbrille, einem scharfen Gesicht
mit ... Nein. Nicht sie war es. Aber blondes Haar hatte
sie, ja. Blondes Haar, das ein entzückendes rundes Gesicht
umrahmte, eines, das er kannte. Ein Lachen stieg Blue in den
Hals, obwohl er nur ein Krächzen herausbrachte.
»Dela«, sagte er. Delilah Reese. Künstlerin, Waffenschmiedin,
beste Freundin und obendrein eine fantastische Frau.
Was für ein Anblick für seine müden Augen. Sie hatte langes
Haar und trug eine dunkle weite Kleidung. Um ihre Unterarme
schlangen sich Lederbänder, in denen Stahl glitzerte. Wurfmesser.
Sie nahm eine Wasserflasche vom Tisch, bevor sie an sein
Bett trat, und hielt sie an seinen Mund. Blue wusste nicht
genau, ob er durstig war, aber als das Wasser seine Lippen
berührte, spürte er die Risse, schmeckte das Blut, bemerkte
seine trockene geschwollene Zunge und dann auch die
wunde Kehle. Er saugte wie ein Säugling an der Flasche und
trank das Wasser in großen, schmerzhaften Schlucken. Dela
schob ihm ihre Hand unter den Kopf und drückte ihn an
sich, während er die ganze Flasche leerte.
»Willst du mehr?«, fragte sie, als er den letzten Tropfen
ausgetrunken hatte. Blue sah an ihr vorbei auf die Moskitonetze,
die die Wände ersetzten. Dahinter war es dunkel.
»Nein.« Er wollte das Gesicht abzuwischen. Sein Arm
gehorchte ihm, gerade so. Er fühlte sich schwach. Und er
spürte Bartstoppeln - was ihn schockierte. »Was ist mit mir
passiert? Und warum bist du hier?« Schließlich sollten Dela
und ihre Familie gerade in Kalifornien sein, auf ihrer Ranch
in den Bergen, und nicht hier in Indonesien ...
Es sei denn, er selbst war gar nicht mehr in ... Indonesien.
Erneut schickte Blue seinen Geist aus, konnte jedoch
nichts wahrnehmen. Es gab keinerlei elektrische Geräte,
keine Kabel, keine Batterien oder Maschinen. Die Stille bereitete
ihm Unbehagen. Er hatte das Gefühl, in einem riesigen
Nichts gefangen zu sein, so als wäre sein Kopf von einer
schallschluckenden Glocke umhüllt. Unter anderen Umständen
wäre dieses Gefühl großartig und entspannend gewesen,
aber dies hier war keineswegs der richtige Augenblick für Überraschungen.
Dela lächelte traurig. »Erinnerst du dich an irgendetwas, Blue?«
»Ich ...« Er hielt inne. »Ja. Ja, ich erinnere mich schon.«
Die Erinnerung überflutete ihn wie ein Brei aus Klängen
und Schmerz. Er schloss die Augen und unterdrückte einen
Brechreiz. Er kämpfte dagegen an, und nach einer Weile
spürte er die Wärme von Delas Körper, während sie sich
über ihn beugte und seine Hand berührte.
»Wie viele Menschen sind bei der Explosion gestorben?«,
erkundigte er sich.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2010
bei Blanvalet, einem Unternehmen
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Marjorie M. Liu
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
By arrangement with Dorchester Publishing Co., Inc.
Dieses Werk wurde vermittelt durch
Interpill Media GmbH, Hamburg
UH • Redaktion: Joern Rauser
Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-442-37531-8
www.blanvalet.de
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Autoren-Porträt von Marjorie M. Liu
Marjorie M. Liu ist eine außergewöhnlich optimistische junge Frau, die fest daran glaubt, allem im Leben mit einem Lächeln begegnen zu können. In ihrer Freizeit betreibt sie einen Taxiservice für Pudel.Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marjorie M. Liu
- 2010, 478 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Thon, Wolfgang
- Übersetzer: Wolfgang Thon
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442375312
- ISBN-13: 9783442375318
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