Der lange Weg
Der langeWeg von Joseph Boyden
LESEPROBE
RÜCKKEHR
Ekiiwaniwahk
Seitvielen tagen halte ich mich im Wald in der Nähe der Stadt versteckt, komme nurheraus, wenn ich das Signal höre, um nach ihm Ausschau zu halten. Diese Stadtist hässlich, viel größer noch als Moose Factory. Es ist eine Stadt, in der ichnoch nie war und in die ich nie wieder kommen werde. Mehr wemistikoshiw,als ich sehen möchte, laufen in ihren komischen Kleidern auf den staubigenStraßen herum, angezogen wie für kaltes Wetter, obwohl die Sonne hoch am Himmelsteht und es sommerlich heiß ist. Tagsüber verstecke ich mich gut, aber wenndieses Geräusch an meine Ohren dringt, bleibt mir nichts anderes übrig, alsherauszukommen und mich unter sie zu mischen. Sie starren mich an, zeigen aufmich und reden, als hätten sie noch nie eine von meiner Art gesehen. In ihrenAugen muss ich eine dürre, wilde Alte sein, ein indianisches Tier direkt ausder Wildnis. Bald werden meine Vorräte nur noch für unsere Heimreise reichen,deshalb habe ich angefangen, rings um mein Lager Fallen aufzustellen. Aber dieKaninchen haben offenbar genauso viel Angst vor diesem Ort wie ich. Wo das Dingzum Stehen kommt, befindet sich eine einfache hölzerne Plattform mit einemkleinen Unterstand, der bei einem Wetterumschwung Schutz bietet. Die Straßedorthin ist staubbedeckt. Automobile so wie jenes, das Old Man Ferguson in MooseFactory fährt, brausen jeden zweiten Tag um die gleiche Zeit dorthin. Ich habegesehen, wie sie etwas, das wie Laternenöl riecht, auf die Straße gossen, aberder Staub steigt trotzdem weiter auf, überzieht das Innere meiner Nase undreizt meine Augen. Wenigstens kann ich mich in dem Staub ein bisschenverstecken, so dass mich nicht so viele von ihnen sehen können. An der Stelle,zu der ich immer gehe, ist alles rußig, so dass ich jeden Tag, wenn ich wiederohne ihn von dort zurückkehre, das Bedürfnis habe zu baden. Ich schlafe nachtsnicht mehr, vor lauter Sorge, dass die Nachricht nicht gestimmt hat, dass erniemals kommen wird und ich hier warten werde, bis ich sterbe. Auch heute höreich wieder das Signal. Auch heute warte ich wieder, bis die anderen dort sind,bevor ich mich zu ihnen geselle. Die Alten nennen es den Eisenschlitten. Wennich sehe, wie dieses Ding sich nähert und mit gellendem Pfiff Qualmwolken indie Sommerhitze speit, kann ich keinerlei Ähnlichkeit mit einem Schlittenerkennen. Beängstigender als die Menge um mich herum sind das eine helle Auge,das im Sonnenlicht leuchtet, und die eiserne Nase, die an den Gleisenschnüffelt. Zu viele Menschen. Ich bin noch nie unter so vielen wemistikoshiwzugleich gewesen. Sie laufen herum, drängeln, reden, rufen. Ich schaue aufdie Fichten jenseits des Bahngleises. Rußgeschwärzt und gebeugt ergeben siesich in ihr Schicksal. Ich trete in den Schatten des Unterstandes zurück undbeobachte, wie die Leute vor mir sich aufrichten, als das Ding näher kommt, unddann an das Gleis herantreten statt davon weg, wie ich es erwartet hätte. DieFrauen hier sehen ganz anders aus als ich, sie tragen lange Kleider aus zu vielStoff und große Hüte. Sie halten sich gebogene Stoffschilde über den Kopf. DieMänner haben schwarze, braune oder graue Anzüge an, und die Schuhe an ihrenFüßen glänzen, und zwar so sehr, dass ich mich frage, von welchem Tier diesesLeder wohl stammt. Auch die Männer tragen Hüte. Mitten im Sommer tragen dieseLeute Hüte. Ich verstehe bei den wemistikoshiw vieles nicht. Das Dingpfeift, als schriee ein riesiger Adler, jetzt so nah, dass ich mir die Ohrenzuhalten muss. Ich bin viele Tage lang allein gegen die Strömung des großen Flusseshierher gepaddelt. Gedankenleer. Mein einziger lebender Verwandter ist an einemfernen Ort gestorben, und ich bin hier, um seinen Freund Elijah in Empfang zunehmen. Elijah Whiskeyjack ist der Mensch, der für mich einem Verwandten am nächstenkommt, und ich werde ihn nach Hause paddeln. Joseph Netmaker hat mir den Briefgebracht. Der Winter legte sich gerade über das Land. Joseph kam aufSchneeschuhen aus der Stadt zu mir heraus. «Das ist für dich, Niska», sagte er.«Es ist von dem kanadischen Boss, ihrem hookimaw.» Sobald ich denbraunen Umschlag und die englischen Wörter darauf sah, wusste ich, was erenthielt. Ich setzte mich neben das Feuer und stocherte mit einem Stock darinherum, während Joseph vorlas, erst in seinem holprigen Englisch, dann für michin unserer Sprache. « Vorgangsnummer 6711. Bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dassder Private First Class Xavier Bird, Infanterie, laut offizieller Meldung am 3.November 1918 auf dem Feld seinen Verletzungen erlegen ist. Director ofRecords. » Ich wartete auf mehr, doch das war alles. Als Joseph ging, war ichallein. Viele Monde später, als sich das Wintereis zurückzog und es schwierigwar, sich fortzubewegen, kam Joseph mit einem weiteren Brief. Er erklärte, esgehe darin um Elijah, und Old Man Ferguson habe ihm den Brief mit der Bittegegeben, ihn mir zu bringen, da ich einer Verwandten Elijahs noch am nächstenkäme. In dem Brief stand, Elijah sei verwundet worden und habe nur noch einBein, er habe versucht, einen anderen Soldaten zu retten, und eineTapferkeitsmedaille bekommen. Er sei zwar noch schwach, aber so weit genesen,dass er reisen könne, und werde voraussichtlich in demselben Ort ankommen, vondem aus Xavier und er vor so langer Zeit aufgebrochen waren. Ich ließ mir von Josepherklären, wie der Kalender der wemistikoshiw funktioniert, in welchemMonat ich dort sein sollte, und traf sorgfältige Vorbereitungen für meine Fahrtmit dem Kanu zu der Stadt, in der Elijah ankommen würde. Ich brach im Frühsommerauf und paddelte den Fluss entlang. Es war mühsam. Ich bin nicht mehr dieJüngste, doch ich reiste mit leichtem Gepäck. Joseph wollte mitkommen, aber ichsagte nein. Ich fuhr allein. Ich beobachte, wie das Ungetüm zum Stehen kommtund einen langen Seufzer ausstößt, als wäre es sehr müde von seiner langenReise, während von den Seiten Rauch nach oben quillt. Menschen winken aus denFenstern, und die Menschen draußen winken zurück, so wie ich es schon seitTagen erlebe. Dann steigen die neu angekommenen Männer, Frauen und Kinder aus,in die Umarmung anderer. Ich sehe ein paar Soldaten und suche nach ElijahsGesicht mit seinem listigen Grinsen. Die Menge zerstreut sich, und wieder istkein indianischer Soldat mit nur einem Bein dabei. Ich drehe mich gerade um undwill gehen, da entdecke ich durch eines der Fenster die Silhouette einesMannes. Er schleppt sich durch den Gang, auf Krücken, in Uniform, eine kleineTasche über der Schulter. Ich trete aus dem Schatten der Wand. Er trägt einenHut, genau wie die wemistikoshiw, doch es ist ein Hut ihrer Armee, undich kann sein Gesicht nicht erkennen, da er nach unten schaut, während erlangsam auf seinen Krücken die Stufen hinuntersteigt. Ein alter Mann, denke ich.Und so mager. Das kann nicht der Elijah sein, den ich kenne. Sein einesHosenbein ist hochgesteckt, hängt leer ein Stückchen herunter. Als er dieStufen hinabgestiegen ist, entferne ich mich langsam, denn ich denke, er ist esnicht. Er blickt auf, und ich sehe sein Gesicht, schmal und bleich, hoheWangenknochen, Ohren, die unter seinem Hut abstehen. Ich taumle, das Blutweicht mir aus dem Gesicht. Der Geist meines Neffen Xavier schaut mich an. Ersieht mich im selben Moment, und ich beobachte, wie seine Augen nur ganzallmählich erkennen, was sie sehen, doch als sie es tun, beginnt er, sich aufseinen Krücken vor und zurück zu wiegen. Er fällt zu Boden. Ich eile zu ihm,knie mich neben ihn, greife nach seinen warmen Händen. Er ist kein Geist. Ichdrücke ihn an mich. Sein Herz schlägt schwach. Mir wird schlagartig bewusst, dasser sehr krank ist. «Neffe», flüstere ich. «Du bist zu Hause. Du bist zu Hause.»Ich umarme ihn, und als er die Augen öffnet, schaue ich hinein. Sie sindglasig. Selbst im Schatten der Bahnstation sind seine Pupillen Nadelspitzen. «Manhat mir gesagt, du wärst tot, Tantchen», flüstert er. «Und mir hat man gesagt, duwärst tot», sage ich. Wir bleiben eine Weile auf dem Boden sitzen, beide zuschwach, um aufzustehen. Wir blicken einander an und weinen. Mehrere wemistikoshiwbleiben stehen und gaffen. Ich helfe Xavier auf, damit wir hier wegkommen,zum Fluss hinunter, wo er Wasser trinken und ich ihn besser beschützen kann. Wirbleiben nicht lang in der Stadt. Sie macht mich nervös. Überall dieseAutomobile. Wir müssen die staubige Straße überqueren, auf der sie fahren,damit wir zum Fluss gelangen können, wo mein Kanu liegt. Neffe geht langsam aufseinen Krücken, mit gesenktem Blick. Die Leute starren uns an. Früher, bevor erweggegangen ist, hätte er ihr Gaffen erwidert, und Elijah ebenso, sie hättensich nicht von ihnen einschüchtern lassen. Was ist mit Elijah? Wenn ihnenhinsichtlich Xaviers Tod ein Fehler unterlaufen ist, dann vielleicht auch inBezug auf Elijah. Ich möchte danach fragen, werde jedoch warten, bis er bereitist zu sprechen. (...)
© AlbrechtKnaus Verlag
Übersetzung: BettinaMünch und Kathrin Razum
- Autor: Joseph Boyden
- 2006, 2. Aufl., 445 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Münch, Bettina; Razum, Kathrin
- Übersetzer: Bettina Münch, Kathrin Razum
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813502708
- ISBN-13: 9783813502701
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