Der Lauf der Sonne
Mit dem ersten Tag des neuen Jahres, Punkt Mitternacht, begeben sich sechs Menschen - scheinbar unabhängig voneinander - auf einen Weg, der ein ganzes Jahr dauern und das Schicksal jedes Einzelnen verändern und erfüllen wird: Rebecca, die werdende Mutter;...
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Produktinformationen zu „Der Lauf der Sonne “
Mit dem ersten Tag des neuen Jahres, Punkt Mitternacht, begeben sich sechs Menschen - scheinbar unabhängig voneinander - auf einen Weg, der ein ganzes Jahr dauern und das Schicksal jedes Einzelnen verändern und erfüllen wird: Rebecca, die werdende Mutter; der unter Gedächtnisverlust leidende Sam; der konservative Politiker Roderick; Jack, der LKW-Fahrer; Martha, die Einbrecherin; Ben, das behinderte Kind, und Solo, sein allein erziehender Vater ...
Lese-Probe zu „Der Lauf der Sonne “
SchwerelosHeute ist Sylvester, und wir sind irgendwo hinter dem Mond.
Vor sechs Tagen hat Jack mich und die sterbende Frau in seinem Laster durch den Regen hierher zu diesem alten Bauernhaus aus Feldsteinen gefahren. Wir haben uns unter dicke Lagen stockfleckiger Decken schlafen gelegt, als könne ihr schieres Gewicht uns aufwärmen. Unser flacher Atem bildete Wölkchen in der Luft. Mäuse trippelten auf dem Dachboden über unseren Köpfen, während wir schliefen, und Regen fiel auf die Schindeln.
Am nächsten Morgen kümmerte Jack sich um die Tiere, die wir mitgebracht hatten, und als ich vom Putzfimmel gepackt wurde, war die alte Frau oben, alleine und still.
Ich fand Räucherstäbchen, zündete sie an und ließ sie die klammen Zimmer ausräuchern. Der Rauch von Sandelholz und Moschus stieg mir in die Nase. Patschuli. Es gab keine Zentralheizung. Jack hatte den Holzofen im Wohnzimmer angeheizt: ein beruhigendes gedämpftes Fauchen hinter den Glastüren, heiße gelbe Flammen. Ich zündete die Calor-Gasöfchen in der Küche an und ließ alle Gasstellen auf dem Herd brennen. Darüber begann die Luft zu schmelzen.
Ich schob die Gasöfchen von einem Zimmer ins andere, ohne bei all dieser Schaffe meinen aufgeblähten Bauch zu beachten. Dabei war deine bevorstehende Geburt nicht zu übersehen.
Ich klebte mit ihrem eigenen Wachs kleine Kerzen-Wälder auf die Fensterbänke, was auch ein Grund dafür gewesen sein mag, dass wir die folgenden Tage so viel flüsterten, und zündete Sturmlaternen an. Der Paraffingeruch war unangenehm, aber gemütlich. Eine schwer fassbare Nostalgie.
Du hattest schon wochenlang getreten, immer heftiger, und dann hast du angefangen, deine Position zu verändern, dich festzusetzen und tiefer zu rutschen. Deine Tritte wurden zu Stößen und Püffen von Knien, Ellbogen. Testwehen packten mich wie kurze Darmkrämpfe: kleine Hinweise meines Mutterschoßes: Ich bin fast so weit. Du hast dich gebremst, als die Wehen anrollten, hast deine Energie gezügelt und all deine
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winzige Kraft zusammengenommen. Hast mich nur noch sanft daran erinnert, dass du da warst, meinem Gedächtnis mit deinen Ellbogen und Knien auf die Sprünge geholfen.
Aber während meiner Putzerei hast du dich ruhig verhalten, wenn ich mit dem altersschwachen Schrubber über die unebenen Teppiche ging. Wahrscheinlich geschlafen. Ich machte mit Besen und Kehrichtschaufel Jagd auf Mäusedreck. Fegte Spinnweben von der Decke und aus den Zimmerecken. Solange ich in Bewegung war, herrschte in mir Ruhe.
Die Holzbalken des alten Bauernhauses ächzten und knarrten wie die Knochen einer alten Frau, und die dicken Steinmauern tauten langsam auf. Aus dem Winterschlaf geweckte Insekten kamen zum Vorschein. Eine Spinne huschte beschwipst über den Spülstein, den ich scheuerte. Ich hörte das halbherzige Gebrumm einer Fliege mit noch kaum geladenen Batterien, dann sah ich sie torkelnd umherfliegen, als suche sie nach einem sicheren Ort für eine Bruchlandung. Ein Weberknecht galoppierte über eine Wand und hob dabei ängstlich die Beine: Bloß keines auf einen zu kalten Fleck setzen. Und dann, als ich ein Fenster lederte, erschien ein Schmetterling mit schwarzen, roten und orangenen Flügeln und flappte gegen die Scheibe.
Es war wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film. Insekten erwachten auf einem öden Planeten, auf dem sie in kürzester Zeit zu Grunde gehen würden. Entsetzen in Miniaturform.
"Was machst du, Liebes?", kam Jacks furchtsame Stimme. "Du sollst doch keine schweren Sachen heben und dich so strecken." Über sein fettes Gesicht konnte manchmal ein Ausdruck von Panik huschen wie über das eines Kindes. Oder Sorge. "Komm, ich helf dir. Lass mich das machen."
"Ist doch okay", sagte ich. Vermutlich sah ich wütend aus. "Ich fühle mich sehr wohl."
Damals in Brixton, an langweiligen Sonntagen, wenn Juice und Davey aus der Wohnung waren, überkam mich ab und zu ein Anfall von Frühjahrs-Putzwut. Alle Schiebefenster hoch, Musik laut stellen, und dann Badezimmer scheuern, Küche schrubben, Flecken kratzen, Staub saugen, Staub wischen, abledern, polieren, alles mit chemischen Frischedüften auf Hochglanz bringen, schwarze Mülltüten aus Mülleimern ziehen, frische reinstecken, das überflüssige Zeug zu Barnardo's Second-Hand-Laden auf der Brixton Road schleppen.
Abends ließ ich mich dann fallen, badete ausgiebig und setzte mich allein mit einem Glas trockenem Riesling und meinen goldgelben Virginia Rollies hin, pickte an Oliven und Chips und ließ meine Blicke über die aufgeräumte Umgebung schweifen, mein Zuhause. Es waren seltene Augenblicke von Selbstgenügsamkeit.
Die jetzige Putzwut fiel also nicht völlig aus dem Rahmen. Ebenso wenig der Moment drei Tage später, als Jack und die anderen, die mittlerweile angekommen waren, in der Sieben-Uhr-Morgens-Dunkelheit die knarrende Treppe runterkamen. Backdüfte aus dem Herd hatten sie aus ihrem Schlaf gelockt, und da war ich in der Küche mit meinen Brotlaiben und einem Blech voller Himbeer-Törtchen. Ich hatte lediglich das Gefühl, meinen Teil der Arbeit zu tun. Ich spielte die Hausfrau und servierte Tee, Honig und schmelzende Butter auf Toast in der winterlichen Dunkelheit. Dann zog ich mich auf mein Zimmer zurück.
Du weißt, dass es passieren wird, und willst es ja auch, aber zugleich kommst du um vor Angst und hoffst, es würde nie geschehen. Zur selben Stunde am nächsten Tag saß ich auf der Toilette, meine Blase war gesprungen, Fruchtwasser und Urin verliefen auf dem alten Linoleum. Ich dachte nur, wie gern ich jetzt eine Zigarette hätte, und starrte schniefend auf den Fußboden. Da war nichts zu machen, sie würden mir einfach helfen müssen, diese Leute. Irgendwie absurd, wie es dazu gekommen war - ich hier, jetzt und mit ihnen. Mit Fremden. Wo waren all die Leute, die ich kannte? Mein Leben war drunter und drüber geraten und wie ein Kleidungsstück von rechts nach links gewendet. Alles - nicht nur mein Körper - hatte sich verändert.
Wie waren wir hierher gekommen? Durch irgendein karmisches Chaos, ein sinnloses Zusammenspiel von Ursache und Wirkung. Oder nicht? Eine unlogische Kette von Augenblicken, die uns hierher, ins unabänderliche Jetzt versetzt hatte. Oder, wenn dir das lieber ist, die brüchige Architektur unserer bedeutungslosen, miteinander verflochtenen Geschichten, während ... Ja, was? Der letzten zwölf Monate? Vor einem Jahr kannte ich keinen von ihnen. Und ginge es nicht um dich, mein ungeborener Sohn, würde es auch keine Rolle spielen.
Aber das tut es. Denn in diesem Moment setzte die erste Wehe ein.
1
E steht für etliches
Mitternacht.
DONG
Big Ben schlägt
DONG
im Radio.
ZEHN!
Leute rufen
NEUN
Ein Kreis von Händen
ACHTMr. Bone
Aber während meiner Putzerei hast du dich ruhig verhalten, wenn ich mit dem altersschwachen Schrubber über die unebenen Teppiche ging. Wahrscheinlich geschlafen. Ich machte mit Besen und Kehrichtschaufel Jagd auf Mäusedreck. Fegte Spinnweben von der Decke und aus den Zimmerecken. Solange ich in Bewegung war, herrschte in mir Ruhe.
Die Holzbalken des alten Bauernhauses ächzten und knarrten wie die Knochen einer alten Frau, und die dicken Steinmauern tauten langsam auf. Aus dem Winterschlaf geweckte Insekten kamen zum Vorschein. Eine Spinne huschte beschwipst über den Spülstein, den ich scheuerte. Ich hörte das halbherzige Gebrumm einer Fliege mit noch kaum geladenen Batterien, dann sah ich sie torkelnd umherfliegen, als suche sie nach einem sicheren Ort für eine Bruchlandung. Ein Weberknecht galoppierte über eine Wand und hob dabei ängstlich die Beine: Bloß keines auf einen zu kalten Fleck setzen. Und dann, als ich ein Fenster lederte, erschien ein Schmetterling mit schwarzen, roten und orangenen Flügeln und flappte gegen die Scheibe.
Es war wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film. Insekten erwachten auf einem öden Planeten, auf dem sie in kürzester Zeit zu Grunde gehen würden. Entsetzen in Miniaturform.
"Was machst du, Liebes?", kam Jacks furchtsame Stimme. "Du sollst doch keine schweren Sachen heben und dich so strecken." Über sein fettes Gesicht konnte manchmal ein Ausdruck von Panik huschen wie über das eines Kindes. Oder Sorge. "Komm, ich helf dir. Lass mich das machen."
"Ist doch okay", sagte ich. Vermutlich sah ich wütend aus. "Ich fühle mich sehr wohl."
Damals in Brixton, an langweiligen Sonntagen, wenn Juice und Davey aus der Wohnung waren, überkam mich ab und zu ein Anfall von Frühjahrs-Putzwut. Alle Schiebefenster hoch, Musik laut stellen, und dann Badezimmer scheuern, Küche schrubben, Flecken kratzen, Staub saugen, Staub wischen, abledern, polieren, alles mit chemischen Frischedüften auf Hochglanz bringen, schwarze Mülltüten aus Mülleimern ziehen, frische reinstecken, das überflüssige Zeug zu Barnardo's Second-Hand-Laden auf der Brixton Road schleppen.
Abends ließ ich mich dann fallen, badete ausgiebig und setzte mich allein mit einem Glas trockenem Riesling und meinen goldgelben Virginia Rollies hin, pickte an Oliven und Chips und ließ meine Blicke über die aufgeräumte Umgebung schweifen, mein Zuhause. Es waren seltene Augenblicke von Selbstgenügsamkeit.
Die jetzige Putzwut fiel also nicht völlig aus dem Rahmen. Ebenso wenig der Moment drei Tage später, als Jack und die anderen, die mittlerweile angekommen waren, in der Sieben-Uhr-Morgens-Dunkelheit die knarrende Treppe runterkamen. Backdüfte aus dem Herd hatten sie aus ihrem Schlaf gelockt, und da war ich in der Küche mit meinen Brotlaiben und einem Blech voller Himbeer-Törtchen. Ich hatte lediglich das Gefühl, meinen Teil der Arbeit zu tun. Ich spielte die Hausfrau und servierte Tee, Honig und schmelzende Butter auf Toast in der winterlichen Dunkelheit. Dann zog ich mich auf mein Zimmer zurück.
Du weißt, dass es passieren wird, und willst es ja auch, aber zugleich kommst du um vor Angst und hoffst, es würde nie geschehen. Zur selben Stunde am nächsten Tag saß ich auf der Toilette, meine Blase war gesprungen, Fruchtwasser und Urin verliefen auf dem alten Linoleum. Ich dachte nur, wie gern ich jetzt eine Zigarette hätte, und starrte schniefend auf den Fußboden. Da war nichts zu machen, sie würden mir einfach helfen müssen, diese Leute. Irgendwie absurd, wie es dazu gekommen war - ich hier, jetzt und mit ihnen. Mit Fremden. Wo waren all die Leute, die ich kannte? Mein Leben war drunter und drüber geraten und wie ein Kleidungsstück von rechts nach links gewendet. Alles - nicht nur mein Körper - hatte sich verändert.
Wie waren wir hierher gekommen? Durch irgendein karmisches Chaos, ein sinnloses Zusammenspiel von Ursache und Wirkung. Oder nicht? Eine unlogische Kette von Augenblicken, die uns hierher, ins unabänderliche Jetzt versetzt hatte. Oder, wenn dir das lieber ist, die brüchige Architektur unserer bedeutungslosen, miteinander verflochtenen Geschichten, während ... Ja, was? Der letzten zwölf Monate? Vor einem Jahr kannte ich keinen von ihnen. Und ginge es nicht um dich, mein ungeborener Sohn, würde es auch keine Rolle spielen.
Aber das tut es. Denn in diesem Moment setzte die erste Wehe ein.
1
E steht für etliches
Mitternacht.
DONG
Big Ben schlägt
DONG
im Radio.
ZEHN!
Leute rufen
NEUN
Ein Kreis von Händen
ACHTMr. Bone
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Autoren-Porträt von Tim Pears
Tim Pears, Jahrgang 1956, kam auf dem Umweg über viele Gelegenheitsjobs und eine kurze Ausbildung an der National Film und Television School zumSchreiben. Heute gilt er als einer der bedeutendsten britischen Schriftsteller. Die BBC verfilmte Land der Fülle in einer zehnteiligen Serie. Tim Pears' Werk wurde mit einer Reihe von Preisen in Großbritannien und den USA ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Oxford.Michael Kleeberg wurde am 24. August 1959 in Stuttgart geboren. Er verbrachte seine Jugend in Böblingen und Hamburg und studierte Politologie und Visuelle Kommunikation in Hamburg. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam ging er 1986 nach Paris, wo er bis 1994 Mitinhaber einer Werbeagentur war. Von 1996 bis 2000 lebte er als freier Schriftsteller in Burgund, seitdem in Berlin. 1996 erhielt er den "Anna-Seghers-Preis", 2000 den "Lion-Feuchtwanger-Preis" und 2008 den "Irmgard-Heilmann-Preis". Außerdem war er 2008 Mainzer Stadtschreiber. 2015 wurde Michael Kleeberg mit dem "Friedrich-Hölderlin-Preis" der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet und 2016 mit dem "Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung".
Bibliographische Angaben
- Autor: Tim Pears
- 2002, Maße: 11,6 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442357853
- ISBN-13: 9783442357857
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