Der letzte Sommer in Mayfair
Roman
Das bewegende Schicksal zweier englischer Adelsfamilien in einer Zeit großer Veränderungen
London, 1911: Im vornehmen Mayfair feiert Victoria Rotherfield ihren glanzvollen Debütantinnenball. Doch die Macht des Adels...
London, 1911: Im vornehmen Mayfair feiert Victoria Rotherfield ihren glanzvollen Debütantinnenball. Doch die Macht des Adels...
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Produktinformationen zu „Der letzte Sommer in Mayfair “
Das bewegende Schicksal zweier englischer Adelsfamilien in einer Zeit großer Veränderungen
London, 1911: Im vornehmen Mayfair feiert Victoria Rotherfield ihren glanzvollen Debütantinnenball. Doch die Macht des Adels bröckelt. Und dann verliebt sich Victorias Schwester auch noch in den Franzosen Pierre.
London, 1911: Im vornehmen Mayfair feiert Victoria Rotherfield ihren glanzvollen Debütantinnenball. Doch die Macht des Adels bröckelt. Und dann verliebt sich Victorias Schwester auch noch in den Franzosen Pierre.
Klappentext zu „Der letzte Sommer in Mayfair “
Das bewegende Schicksal zweier englischer Adelsfamilien in einer Zeit großer VeränderungenEngland 1911. Im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair laden Lord und Lady Rotherfield zum glanzvollen Debütantinnenball ihrer Tochter Victoria. Hinter den Kulissen jedoch brodelt es: Die Arbeiter rebellieren, der Hochadel verliert an Einfluss. Victorias Schwester Evangeline unterstützt die Sufragetten und landet im Gefängnis; und Edward, der jüngste Spross der Rotherfields, ist ein Frauenheld und begeisterter Wettkampf-Flieger. Ausgerechnet an seinen Konkurrenten, den Franzosen Pierre, verliert Evangeline ihr Herz. Wird ihre Liebe diese bewegten Zeiten und den aufziehenden Weltkrieg überstehen können?
Lese-Probe zu „Der letzte Sommer in Mayfair “
Der letzte Sommer in Mayfair von Theresa RévayErster Teil
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England, Rotherfield Hall, Juni 1911
Wenn Julian von einem seiner Ausritte durch den ausgedehnten Wald zurückkehrte, hielt er sich an der Weggabelung Hadrian's Heart immer rechts. Auch jetzt bog sein Pferd von allein ab und fiel dann in einen beherzten Galopp, wozu die leichte Neigung des Weges einlud. Der junge Mann erreichte das Herz des Anwesens, ohne sich von den zahlreichen Wegen verleiten zu lassen, die in die alte Römerstraße mündeten, die nach London führte und von dort weiter in Richtung Küste, wo man die Schiffe zum Kontinent erreichte.
Er stemmte die Stiefelspitzen fest in die Steigbügel und beugte den Kopf tief über den Hals des Pferdes. Die Mähne wehte ihm ins Gesicht, während er sich lachend bemühte, den Eifer seines Reittiers zu zähmen. Wie konnte man auf ein solches Prachttier nicht stolz sein? Die Kraft und die Großmut seiner Pferde, die Frucht einer sorgfältigen Zucht, wurden während der Parforcejagdsaison allseits bewundert. Mit amüsiertem und zugleich bestimmtem Ton wandte er sich an das Pferd wie an einen hitzigen Freund, doch die zurückgelegten Ohren und das störrische Maul zeigten ihm, dass es seinen eigenen Willen hatte. Zu spät bemerkte Julian den ihm entgegenkommenden Ast. Vergeblich versuchte er, ihm durch eine rasche Drehung des Oberkörpers auszuweichen, sodass die Zweige ihm gegen die Wange peitschten.
Auf dem höchsten Punkt des Hügels angekommen, tauchte der Hengst zwischen den letzten Bäumen hindurch in die offene Landschaft. Einem weniger geübten Reiter wäre angesichts des heißblütigen Temperaments des Pferdes angst und bang geworden. Julian indes fürchtete sich nicht. Jedenfalls nicht vor seinen Pferden. Er brauchte ein paar Minuten, um es zur Raison zu rufen, und gab ihm, als es endlich stehen blieb, leise vor sich hin pfeifend die Zügel hin. Seine zwei Windhunde brachen aus dem Unterholz hervor und legten sich in der Nähe ins trockene Gras.
Beim Anblick der hügeligen Landschaft mit dem elisabethanischen Herrenhaus, das zwischen Bäumen und heckengesäumten Weiden aufragte, kam Julian ein einzelnes Wort in den Sinn: Harmonie. Nichts störte den Blick. Rotherfield Hall war auf einer grünen Lichtung errichtet worden, und seine hellen, im Laufe der Zeit verwitterten Steinmauern spiegelten sich im Teich wider. Die Veränderungen, die im 18. Jahrhundert vorgenommen worden waren, hatten der Fassade klarere Konturen verliehen und das Renaissancebauwerk vergrößert, ohne seinen Charakter zu verändern. Es hatte sich sein kühnes Wesen und seine Spontaneität bewahrt, die charmante Asymmetrie einer Architektur, die das englische Wesen an sich verkörperte. Die Gärten des Guts waren weit über die Grenzen der Grafschaft hinaus berühmt. Vom sanften Grün der Büsche hoben sich die hellen Stämme der Birken und die rosa und lila Farbtöne der Klematis und Magnolien ab. Julian genoss es, mit den Augen dem Labyrinth der penibel geschnittenen Eibenhecken zu folgen, das seine Urgroßmutter entworfen hatte. Die Rotherfields hatten sich vierhundert Jahre zuvor in diesem Lehen niedergelassen. Ihre Wurzeln reichten weit zurück und waren unverwüstlich. Als Julian die Worte seines Großvaters in den Sinn kamen, lief ihm ein Schauder das Rückgrat hinab. »Unsere Stärke ist das Land, vergiss das nie«, hatte dieser mit eindringlicher Stimme gesagt. Damals hatte dieser Satz für ihn, den jüngeren Sohn, keine Bedeutung gehabt, da er nach dem Erstgeburtsrecht nichts davon erben würde. Der kleine Julian malte sich bereits seine Zukunft aus: Er wollte reisen, denn er teilte den Hang der Briten für Expeditionen in ferne Länder und für exotische Abenteuer. Sein Großvater nahm seinen älteren Bruder Arthur und ihn gern mit, wenn er seine zwölftausend Hektar großen Ländereien bereiste. Die Reise dauerte mehrere Tage und führte sie in verschiedene Grafschaften. Im Laufe der Jahre lernte Julian immer mehr zu lieben und zu schätzen, was ihm von frühester Kindheit an vertraut gewesen war. Die Beständigkeit hatte etwas Gutes. Eine Balance, die ihm zum Anker seines Lebens geworden war.
Der Kragen des weißen Hemdes offen, die Ärmel hochgekrempelt, spürte er, wie ihm die Sonne ins Gesicht und auf die Unterarme brannte. Seit einem Monat kletterten die Temperaturen unaufhörlich. Es schien, als sollten die Krönungsfeierlichkeiten von George V. unter einem mediterranen Himmel stattfinden. Kein Lüftchen wehte, nicht einmal die vertraute Salzbrise, die bisweilen von den South Downs heraufstrich. Im Gegenteil, Haus und Park lagen im flimmernden Hitzedunst. In der Ferne machte Julian ein paar menschliche Silhouetten aus. Rotherfield Hall war eine Welt für sich, ein kleiner Kosmos unterschiedlichster Menschen, deren Leben ineinander verwoben waren. Ganze Familien arbeiteten schon seit Generationen auf dem Gut. Julian liebte sein Land und fürchtete es zugleich, weil es ihm Pflichten auferlegte.
Eine weiße Staubwolke erhob sich über der Allee, die zum Herrenhaus führte. Er kniff die Augen vor der grellen Sonne zusammen. Zwischen den Eichen brauste ein Wagen dahin. Auch wenn sein Vater einen Teil der Pferdeställe in eine Garage umgebaut und einen französischen Chauffeur, der zugleich Mechaniker war, eingestellt hatte, waren Automobile in dieser Gegend noch so rar, dass man ihnen neugierig nachblickte. Außerdem hielten sich jetzt, in der Gesellschaftssaison, die meisten Gutsbesitzer in ihren Londoner Residenzen auf Wer mochte das also sein? Julian, der die Antwort ahnte, nahm die Zügel wieder auf und rief seine Hunde herbei. Sein Pferd setzte sich in schnellem Trab in Bewegung und ließ einen Schwarm himmelblauer Schmetterlinge auffliegen. Lysandra bellargus, dachte Julian - ein in seiner Kindheit wurzelnder Reflex. Damals hatte er davon geträumt, eines Tages Insektenforscher zu werden.
Als er beim Herrenhaus ankam, war der Wagen längst außer Sichtweite. Einzig die Reifenspuren waren noch zu sehen, die er auf der gekiesten Einfahrt hinterlassen hatte und denen ein Gärtner mit einem Rechen zu Leibe rückte. Ein Pferdeknecht eilte herbei, um sich um Julians Pferd zu kümmern. Mit seinen Windhunden ihm auf den Fersen betrat Julian energisch das Vestibül. Seine gute Laune war verflogen. Mit großen Schritten durchquerte er den Salon, wo die orientalischen Teppiche das Geräusch seiner Stiefel erstickten. Ein Kammermädchen in seiner Morgenuniform, einem gemusterten Baumwollkleid, sah ihn erschrocken an, als er an ihr vorbeistürmte. Die Tür des kleinen Salons stand offen. Mit gereiztem Ton in der Stimme fragte er eine weitere Hausangestellte, die Blumen in einer Vase arrangierte, ob sie wisse, wo sein Vater sei, doch sie erwiderte, sie habe ihn seit dem Morgengebet in der Kapelle nicht mehr gesehen.
Er ging weiter in Richtung Rauchsalon. Als hätte er nur auf ihn gewartet, stand sein Vater über den Billardtisch gebeugt da. Er liebte es, zu solch ungewöhnlicher Stunde Billard zu spielen. Er behauptete, dass es ihn beruhige.
»Was hatte Manderley hier zu suchen?«, fragte Julian in scharfem Ton.
Lord Rotherfield richtete sich auf. Er vermied es, seinen Sohn anzusehen. »Guten Morgen, Julian. Wenn ich mich richtig erinnere, sind wir uns heute noch nicht begegnet.«
Der Ton seines Vaters verriet Julian, dass er nicht in bester Verfassung war. Sein Eindruck verstärkte sich noch, als er sah, wie dieser sich auf das Queue stützte. Normalerweise unterbrach sein Vater nie eine Partie, auch nicht, wenn er allein spielte.
»Guten Morgen, Papa. Ich habe Manderleys Wagen gesehen. Ich verstehe nicht. Du hast mir doch dein Wort gegeben.«
»Hast du dich beim Rasieren geschnitten?«
Julian fuhr sich mit der Hand an die Wange.
»Ach, das ist nur ein Kratzer. Von einem Zweig.«
»Treibt Samson auf deinen Ausritten immer noch seine Spielchen mit dir?«
»Ich bin nicht gekommen, um mit dir über Samson zu sprechen«, erwiderte Julian aufgebracht. »Warum weichst du meiner Frage aus? Du hast Manderley hergebeten, weil du dich entschlossen hast, Land zu verkaufen, obwohl du mir hoch und heilig versprochen hattest, es nicht zu tun. Ist es nicht so? Sei wenigstens so offen, es zuzugeben!«
Die beiden Männer sahen einander an. Der elegante graue Gehrock mit den Seidenrevers des Vaters stand in krassem Gegensatz zu dem hemdsärmeligen Aufzug seines Sohnes. Doch beide hatten die gleiche schlanke und große Statur, breite Schultern, eine aufrechte Haltung und lange Beine. Ihre ebenmäßigen Züge und ihr unbeirrter Blick spiegelten die Haltung von Männern wider, die in Gesellschaftsspielen genauso gewandt waren wie in Machtspielen.
Lord Rotherfield sah ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, an, aber ein ernster Zug lag um seinen Mund. »Ich mag es nicht, dass man in diesem Ton mit mir redet, Julian. Ich erwarte, dass du dich entschuldigst.«
Julian blickte an die Decke. Sein Vater vermittelte ihm mitunter das Gefühl, wie ein kleiner Junge in kurzen Hosen vor ihm zu stehen. »Gut, ich bitte dich um Verzeihung, aber ich habe ein Recht auf eine Erklärung.«
Lord Rotherfield kehrte in den kleinen Salon zurück, und Julian folgte ihm. Sein Vater wies die Hausangestellte an, ihm seinen Kaffee zu bringen, denn er wollte gleich darauf nach London aufbrechen. Das junge Mädchen knickste und schloss die Tür.
»Setz dich doch«, sagte er zu seinem Sohn. »Mir wird schwindelig, wenn du die ganze Zeit vor mir auf und ab läufst.«
Durch das offene Fenster hörte man Vogelgezwitscher und das Geräusch der Gartenscheren der Gärtner - die beschwingten Laute der warmen Jahreszeit.
»Ich habe eingewilligt, Michael Manderley sechshundert Hektar zu verkaufen; er liegt mir schon seit einem Jahr damit in den Ohren. Der Kaufvertrag wird gerade aufgesetzt. Ich habe meine Meinung geändert, das ist wahr. Aber ich hatte dir nicht mein Wort gegeben.«
»Jedenfalls hast du mir diesen Eindruck vermittelt.«
»Du hast verstanden, was du verstehen wolltest, Julian. Ich hätte dich für scharfsichtiger gehalten.«
»Ich kann einfach nicht begreifen, dass dieser Mann der Besitzer von Whitcombe Place werden soll! Wo wir noch nicht einmal wissen, welche Schätze dieses Stück Land birgt. Schließlich liegen uns noch nicht die Ergebnisse der Untersuchungen vor, die die Experten vorgenommen haben.«
»Was hoffst du, dort zu finden? Gold? Oder Öl, um die Autos deiner lieben Mutter damit zu betreiben?«, fragte sein Vater ironisch. »Manderley hat diese Möglichkeit durchaus einkalkuliert. Sein Angebot liegt zehn Prozent über dem Marktpreis. Aber du schätzt ihn nicht, weil er einen Yorkshire-Akzent hat, weil er sein Vermögen in der Schneidwarenindustrie von Sheffield gemacht hat und weil er einen Landsitz braucht, bevor er sich einen Titel kaufen kann ... Doch sein Angebot war so gut, dass ich es einfach nicht ausschlagen konnte.«
»Ich schätze ihn deswegen nicht, weil er den Ruf eines ungehobelten Geschäftemachers hat.«
Sein Vater trat ans Fenster. Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte, ungebändigte Haar, eine Geste, die Julian vertraut war. Seine Haut war mit Altersflecken übersät. Julian fiel auf, dass seine Hand zitterte, und das verwirrte ihn. Eine Geste der Ratlosigkeit, in der keinerlei Scham lag. Und obwohl ihn das beunruhigte, ließ er nicht locker.
»Dieser Verkauf ist ein großer Irrtum. Großvater würde sich im Grab umdrehen. Eine Familie braucht ein solides Fundament, um fortzubestehen, und unser Fundament ist das Land«, sagte er ein wenig großspurig, ehe er verdrossen hinzufügte: »Davon abgesehen ist es ein wunderschönes Haus.«
»Dein Großvater war ein Nostalgiker. Er weigerte sich anzuerkennen, dass das Land nicht länger ein unveränderlicher Besitz ist. Stattdessen zog er es vor, die Uhr im Jahre 1884 anzuhalten, weil für ihn die Ausweitung des Wahlrechts der erste Schritt hin zum Untergang unseres Landes war. Aber die Welt entwickelt sich weiter. Allmählich frage ich mich, was aus unseresgleichen werden soll ...«
Damit spielte Lord Rotherfield auf die Bestrebungen David Lloyd Georges an, den er als seinen Erzfeind betrachtete und gegen den er einen erbitterten Kampf führte. Der aus Wales stammende Schatzkanzler war ein brillanter Redner und fest entschlossen, das Ende des Adelsstandes zu besiegeln, einer Klasse, die ihm verhasst war. Als er vor zwei Jahren seinen Haushalt präsentierte, wedelte er gleich mit mehreren roten Tüchern vor den Nasen der Grundbesitzer: Er hatte vor, die Abgaben auf Alkohol, Tabak, Motoren und Benzin ebenso zu erhöhen wie die Steuern auf Einkünfte aus Grundbesitz und Liegenschaften sowie die Erbschaftssteuern. »Steuern auf meinen Leichnam!«, hatte bereits der alte Earl of Rotherfield bei deren Einführung ein paar Jahre zuvor gesagt, um kurz darauf am selben Tag wie Königin Victoria das Zeitliche zu segnen. Sodass sich seine Enkel und Hausangestellten in dem Gefühl sonnten, als würde das ganze britische Empire und somit ein Viertel der Weltbevölkerung Trauer für ihn tragen. Den Adligen indes ging es an die Gurgel. »Und das alles, um die allgemeine Rentenversicherung zu finanzieren!«, riefen sie mit erstickter Stimme aus. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hatte das Oberhaus den Haushalt der Regierung abgelehnt und somit das Kriegsbeil ausgegraben. Mit den nächsten Wahlen änderte sich jedoch das Kräfteverhältnis. Der Premierminister wollte dem Oberhaus mithilfe eines neuen Gesetzes künftig einen Maulkorb anlegen. Diesem Parliament Act zufolge sollten die Lords nicht mehr das Recht haben, einen Haushalt abzulehnen, den das Unterhaus verabschiedet hatte, oder qua ihres Vetorechts die Entscheidung hinauszuzögern. »Das ist eine Revolution!«, hatte Julians Vater in Westminster verkündet. »Man will uns unseres uralten Rechts berauben. Und dann verlangt man auch noch, dass wir mit unserer eigenen Stimme unseren kollektiven Selbstmord besiegeln!«
Lord Rotherfield war kein bornierter Reaktionär. Er war sogar einer der wenigen unter den Konservativen gewesen, der den Krieg gegen die Buren in Südafrika angeprangert hatte. Woraufhin ihm im Carlton Club einige seiner Freunde den Rücken gekehrt hatten. Dennoch war er überzeugt, dass die Aristokratie dem Land mehr nutzte als schadete und für dessen Entwicklung unverzichtbar war.
Julian waren die aufgeladenen politischen Spannungen, die seit Monaten das Land erregten, nicht fremd. Er selbst war Mitglied des Unterhauses, eine Station, die jeder Erbe, der eines Tages unter den Lords im Oberhaus Platz nehmen wollte, einmal durchlaufen musste. Obwohl er auf Anhieb gewählt worden war, war sein Wahlergebnis nicht annähernd so glänzend gewesen wie das seiner Vorgänger aus seiner Familie. Das Vertrauen gegenüber dem Viscount Bradbourne - so lautete Julians Adelstitel - war zwar an den Urnen erneuert worden, aber zum ersten Mal war es dem Rotherfield'schen Erben nicht blind ausgesprochen worden.
Stevens, der Butler, betrat hinter einem jungen Diener mit einer silbernen Kaffeekanne in der Hand den Salon.
»Mr Johnson ist angekommen, Eure Lordschaft.«
»Wer? Ach ja, den hatte ich ganz vergessen. Der große Inspekteur!«, sagte Lord Rotherfield spöttisch. »Lassen Sie ihn auf keinen Fall allein. Diesem Besessenen traue ich nicht über den Weg. Barstow soll ihm bloß nicht von der Seite weichen!« Mit Letzterem meinte er den Gutsverwalter.
Julian stellte seine Tasse zurück. Der Kaffee war ihm wie immer nicht stark genug.
»Und wer ist das?«
»Du weißt doch, dass der Waliser eine umfassende Neubewertung der Liegenschaften verlangt hat. Aber das sind wir ja gewohnt, nicht wahr? William der Eroberer hat mit seinem Domesday Book einen Präzedenzfall geschaffen. Auch er hat die Zählung der Morgen einschließlich des letzten Stück Viehs angeordnet, um berechnen zu können, um wie viel er die Steuern erhöhen muss ... Ich sollte Barstow vielleicht sagen, er soll ihm die Aufstellung auf Latein geben.«
Auch wenn er sich zu einem Scherz hatte hinreißen lassen, war Lord Rotherfield nach wie vor irritiert. Er schätzte es gar nicht, dass Julian von ihm verlangt hatte, sich zu rechtfertigen, aber seit den Hänseleien, die er in den Internatsjahren erlebt hatte und deren er sich noch schmerzhaft erinnerte, auch wenn es ein halbes Jahrhundert her war, hatte er gelernt, sich in Schweigen zu üben. Das Schweigen war eine wirksame Waffe. Sie erlaubte es einem, den Gesprächspartner im Ungewissen darüber zu lassen, ob es eher der Verachtung oder Gleichgültigkeit geschuldet war. Im Übrigen ließ sie einen selbst ein wenig gleichgültiger werden. Dachte Julian etwa, er würde sich leichten Herzens von einem Teil ihres Besitzes trennen? Wusste er nicht, dass sein Hauptanliegen war, das Familienerbe - das Land, die Pachteinnahmen, die Kohlevorkommen in Yorkshire, die Londoner Immobilien, seine Aktien, seine Kunstsammlung - möglichst unversehrt an ihn zu übergeben? Oder am liebsten in einem besseren Zustand, als er es übernommen hatte? Doch seit nunmehr dreißig Jahren war genau dies zu einem Ding der Unmöglichkeit für Familien wie die ihre geworden, die die Fortsetzung der Generationenkette als ihre höchste Pflicht ansahen - die Lebenden reichten nicht nur ihren Vorfahren die Hand, sondern auch ihren Nachkommen, die noch nicht einmal geboren waren. Und genau das beunruhigte seine Frau: Mit seinen achtundzwanzig Jahren schien es Julian mit dem Heiraten noch immer nicht eilig zu haben.
»Es gibt andere Mittel, um an Geld zu kommen«, sagte Julian mit bockiger Miene. »Zum Beispiel, indem man anfängt zu sparen. Der Ball für Victoria wird ein Vermögen kosten. Man hätte auch ein weniger prunkvolles Fest organisieren können. Wir sollten diesem mondänen Affentheater nicht mehr so viel Bedeutung beimessen.«
»Du machst wohl Witze?«, erwiderte sein Vater empört. »Deine Schwestern haben beide ein Recht, auf würdige Weise in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Was hättest du denn lieber? Ein Gartenfest mit Kresse-Sandwiches? Vicky würde uns die Augen auskratzen, wenn wir ihr damit kämen. Selbst Evie hätte das nicht verstanden, die einen Anspruch darauf hatte, dass wir alles uns Mögliche tun.«
»Und was macht sie jetzt daraus ...?«, erwiderte Julian missmutig.
»Ich wusste nicht, dass du so kleinlich bist, Julian«, sagte Lord Rotherfield empört. »Glücklicherweise sind wir noch in der Lage, unseren Stand zu wahren! Manchmal verstehe ich dich nicht, Julian. Woher hast du bloß diese hirnrissigen Ideen? Ich wage nicht, mir vorzustellen, was deine Mutter sagen würde, wenn sie dich so reden hörte.«
»Mama wäre wütend, wenn ihr eine Gelegenheit entginge, ihre Prunksucht zur Schau zu stellen. Sie war schon immer deine Achillesferse. Wenn es darum geht, ihre Wünsche zu erfüllen, hast du noch nie irgendwelche Kosten gescheut.«
Julian war verbittert. Er hob den Blick zu ihrem Porträt. Venetia, Lady Rotherfield, war eines der beliebtesten Modelle von John Singer Sargent gewesen, dem Porträtmaler, den die Adeligen beweihräucherten. Seine Mutter war eine der wenigen gewesen, die er um die Erlaubnis gebeten hatte, sie zu malen. Damals war sie gerade einmal achtzehn und frisch verheiratet gewesen. In einem feinen Abendkleid und mit zerzausten blonden Haaren lag sie in herrlich aufreizender Pose auf einer Chaiselongue. Ein einzelner roter Schuh mit hohem Absatz, der auf dem Teppich verloren wirkte, erinnerte an die epikureische Sorglosigkeit eines Fragonard. Sargent war bekannt für seine Schamlosigkeit und seine Kunst, das zwischen schimmerndem Taft und Seide verborgene Temperament seiner Modelle zu entblößen. Nicht wenige fürchteten diese Scharfsicht. Julian zweifelte nicht daran, dass beide die Sitzungen genossen hatten. Seine Mutter und der Maler teilten ein gewisses Maß an Unverfrorenheit.
Mochte sich sein Vater auch noch so gegen den Vorwurf verwahren, zu nachgiebig zu sein, ließ er ihr alle Launen durchgehen. Als wäre er nie aus dem Staunen darüber herausgekommen, dass sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Ihn, den Erben einer von Pflichten eingeengten alten Adelsfamilie, die Tradition und Beständigkeit hochhielt, während sie einer jener schillernden, freigeistigen und liberalen Familien entstammte, deren Mitglieder sich durch sprachliche Brillanz, persönliche Ausstrahlung und Originalität auszeichneten. Man konnte nicht mit ihr zusammenleben und sich ihrer starken Persönlichkeit entziehen. Diese spiegelte sich auch in ihren Wohnsitzen wider. Sie liebte Pastellfarben, den französischen Stil des 18. Jahrhunderts, kostbaren japanisch inspirierten Nippes. Erstickenden viktorianischen Dekor - schwere Vorhänge, Spitzen oder wuchtige Polstermöbel - suchte man in ihren Räumen hingegen vergebens. Sowohl in Rotherfield Hall als auch in ihrem Londoner Haus am Berkeley Square oder in ihrem Schloss im palladianischen Stil, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Lady Rotherfield umgab sich mit einer Gruppe von Freunden, die mit ihrer Schlagfertigkeit und ästhetischem Feingefühl zwanzig Jahre zuvor auf revolutionäre Weise die High Society geprägt hatte. Sie gehörte jener Handvoll Frauen an, die kraft ihrer Anmut und Herkunft, ihrer Schönheit und Intelligenz ihre Umgebung in ihren Bann zogen. Doch Julian hatte einen kritischeren Blick auf seine Mutter und ihren Hofstaat. Unter der geistreich launigen Oberfläche der Lady Rotherfield verbarg sich ein eiserner Wille. Oder, um es deutlicher zu sagen, seine Mutter war eine gefährliche, machtbesessene Frau.
Lord Rotherfield war der finstere Gesichtsausdruck seines Sohnes nicht entgangen. Inzwischen schien Julian eher irritiert denn traurig. Meistens waren seine Launen nichts weiter als ein vorübergehendes Gewitter, aber Venetia beunruhigten sie; sie behauptete, darin die Anzeichen einer Melancholie zu erkennen, die in ihrer Familie beträchtliche Schäden angerichtet hatte. Die Beziehung Julians zu seiner Mutter war von jeher heikel. Sie waren von ihrem Temperament her einfach zu verschieden. Von Kindesbeinen an verhielt er sich ihr gegenüber zurückhaltend, während Venetia von den Männern, ihren Söhnen eingeschlossen, uneingeschränkten Zuspruch erwartete.
»Gehe ich also recht in der Annahme, dass ich dich in keiner Weise mehr umstimmen kann?«, sagte Julian nach längerem Schweigen.
»Es wäre ohnehin zu spät. In wenigen Stunden beginnt Vickys Ball. Willst du mit mir zusammen den Zug nehmen?«
»Papa, du bringst mich noch zur Verzweiflung! Seit Wochen gehst du jedem Gespräch über Michael Manderley aus dem Weg. Ich wette, du hast ihn sogar zu dem Ball heute Abend eingeladen.«
»Natürlich.«
»Ich würde mich schämen, diesen Mann unter meinem Dach zu empfangen! Der Gedanke, dass er uns benutzt, um gesellschaftlich aufzusteigen, macht mich verrückt.«
»Er ist nicht schlechter als manch anderer. Du bist ungerecht, Julian. Du trittst allgemeingültige Umgangsformen mit Füßen, indem du dich weigerst, Menschen aus bescheidenen Verhältnissen bei uns zu empfangen, nur weil sie ein Vermögen gemacht haben. Wenigstens solltest du seine Verdienste anerkennen. «
»Ich wüsste nicht, welche Verdienste jemand wie er haben sollte.«
»Er hat es mit Ausdauer und Fleiß zu etwas gebracht.«
»Er ist ein Mann des Geldes. Seine einzige Qualität besteht darin, dass er rechnen kann. Ich für meinen Teil zweifle an seiner Redlichkeit.«
»Allmählich kommt mir der Verdacht, dass zwischen euch beiden eine persönliche Sache steht. Muss ich mir langsam Sorgen machen?«
Julian wusste selbst nicht, woher diese instinktive Antipathie gegenüber Michael Manderley rührte. Er war ihm ein paar Mal in Westminster über den Weg gelaufen. Offenbar hatte dieser Mann freundschaftliche Bande mit gewissen Parlamentariern geknüpft. Wenn er wenigstens unsympathisch ausgesehen hätte oder dickleibig gewesen wäre, sodass selbst der beste Schneider aus der Savile Road sein körperliches Manko nicht hätte verhüllen können. Aber nein, Manderley besaß die Figur und Haltung eines Gentleman, der er nicht war. Obgleich nur mittelgroß, war er von schlanker Gestalt und hatte eine aufrechte Haltung. Man konnte ihm allenfalls den absurden Siegelring an seinem Finger vorwerfen, ein Schmuckstück, das von schlechtem Geschmack zeugte und das er, wenn er mit einem sprach, auf irritierende Weise hin und her drehte. Julian hielt ihn für selbstgefällig und zu gerissen, um aufrichtig zu sein, aber er beneidete ihn um seine Selbstsicherheit, an der es ihm mitunter fehlte.
Lord Rotherfield warf einen Blick auf den Poststapel, der ihm gebracht wurde, und legte die Briefe auf den Tisch.
»Du begreifst unsere Situation nicht«, sagte er in sachlichem Ton. »Die Preise für landwirtschaftliche Produkte fallen unentwegt, die Pachteinnahmen verringern sich zusehends, und Grund und Boden sind immer weniger wert. Aber die Kosten für die Ländereien, die werden nicht weniger. Die Steuerlast erdrückt uns schier. Ich musste Schulden aufnehmen, um das Erbe deines Großvaters antreten zu können. Das ist doch der Gipfel, nicht wahr? Unsere Lebenshaltungskosten sind hoch. Manchmal beneide ich Männer wie Manderley, die Geld machen können, ohne all diese Lasten schultern zu müssen. Ich kann nichts Verwerfliches darin sehen, Handel zu betreiben, wenn einem die Einnahmen daraus erlauben, das Dach zu reparieren oder die verdammten Badezimmer einbauen zu lassen, die deine Schwestern meinen haben zu müssen! An dem Tag, an dem du meinen Platz einnimmst, wirst du begreifen, was das heißt. Bis dahin erspare mir bitte deine unangebrachten Belehrungen.«
Mit einem Mal überkam Julian ein Anflug von Mitleid. Sein Vater verfügte über einen liebenswerten Charakter; er war immer aufmerksam seinen Kindern gegenüber gewesen. Oft hatte er einen Blick ins Kinderzimmer geworfen, in Nanny Flanders' Reich. Nie musste er die Stimme erheben, um Autorität auszuüben, wenngleich er nicht zögerte, seine Kinder von Fall zu Fall in ihre Schranken zu weisen. Lord Rotherfield war durchaus der viktorianischen Erziehung verpflichtet, die auf der anglikanischen Vorstellung gründete, dass die durch die Erbsünde belastete Seele eines Kindes nur durch eine gewisse Strenge gerettet werden konnte. Im Laufe der Jahre war es Julian gelungen, jenes höfliche Verhältnis mit ihm zu knüpfen, wie man es von zwei Männern von Welt erwarten durfte. Er hatte sich bemüht, diesen delikatesten aller Modi Vivendi für sich zu erreichen, nämlich den eines Kindes zu seinen Eltern, und war froh, die richtige Balance gefunden zu haben. Erleichtert nahm er jetzt zur Kenntnis, dass sein Vater wieder seine gewohnt unerschütterliche Miene zeigte. Julian erinnerte sich nicht gern an die wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich einen Gefühlsausbruch erlaubt hatte.
»Ich würde dich also bitten, Michael Manderley heute Abend mit der gebührenden Höflichkeit zu empfangen.«
»Das bringe ich nicht fertig.«
»Es ist deine Pflicht, Julian«, entgegnete sein Vater ärgerlich. »Die Verantwortung, die uns obliegt, ist nicht immer angenehm. Doch in diesem Geiste haben wir dich erzogen.«
»Ach, jetzt ist es heraus!«, sagte Julian in ironischem Ton und stand auf. »Aber darf ich dich daran erinnern, dass mir die Rolle des Erben aus Mangel an Alternativen zugefallen ist?«
Er sah seinen Vater herausfordernd an, bis dieser schließlich seinen Blick senkte. Das war Julians liebste Waffe. Die Erinnerung an eine Szene, die sich für immer in ihrer beider Gedächtnis eingebrannt hatte. An den Herbsttag, als ein erzwungener Schwur gefallen war, während sich Arthurs Blut über den feuchten Waldboden von Rotherfield Hall ergossen hatte. Zufrieden, das letzte Wort zu behalten, verließ Julian den Salon. Der Tag hatte schlecht begonnen. Er ahnte noch nicht, dass dies wirklich erst der Anfang war.
Aus dem Französischen von Barbara Röhl und Monika Köpfer
© der deutschen Ausgabe 2012 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH
England, Rotherfield Hall, Juni 1911
Wenn Julian von einem seiner Ausritte durch den ausgedehnten Wald zurückkehrte, hielt er sich an der Weggabelung Hadrian's Heart immer rechts. Auch jetzt bog sein Pferd von allein ab und fiel dann in einen beherzten Galopp, wozu die leichte Neigung des Weges einlud. Der junge Mann erreichte das Herz des Anwesens, ohne sich von den zahlreichen Wegen verleiten zu lassen, die in die alte Römerstraße mündeten, die nach London führte und von dort weiter in Richtung Küste, wo man die Schiffe zum Kontinent erreichte.
Er stemmte die Stiefelspitzen fest in die Steigbügel und beugte den Kopf tief über den Hals des Pferdes. Die Mähne wehte ihm ins Gesicht, während er sich lachend bemühte, den Eifer seines Reittiers zu zähmen. Wie konnte man auf ein solches Prachttier nicht stolz sein? Die Kraft und die Großmut seiner Pferde, die Frucht einer sorgfältigen Zucht, wurden während der Parforcejagdsaison allseits bewundert. Mit amüsiertem und zugleich bestimmtem Ton wandte er sich an das Pferd wie an einen hitzigen Freund, doch die zurückgelegten Ohren und das störrische Maul zeigten ihm, dass es seinen eigenen Willen hatte. Zu spät bemerkte Julian den ihm entgegenkommenden Ast. Vergeblich versuchte er, ihm durch eine rasche Drehung des Oberkörpers auszuweichen, sodass die Zweige ihm gegen die Wange peitschten.
Auf dem höchsten Punkt des Hügels angekommen, tauchte der Hengst zwischen den letzten Bäumen hindurch in die offene Landschaft. Einem weniger geübten Reiter wäre angesichts des heißblütigen Temperaments des Pferdes angst und bang geworden. Julian indes fürchtete sich nicht. Jedenfalls nicht vor seinen Pferden. Er brauchte ein paar Minuten, um es zur Raison zu rufen, und gab ihm, als es endlich stehen blieb, leise vor sich hin pfeifend die Zügel hin. Seine zwei Windhunde brachen aus dem Unterholz hervor und legten sich in der Nähe ins trockene Gras.
Beim Anblick der hügeligen Landschaft mit dem elisabethanischen Herrenhaus, das zwischen Bäumen und heckengesäumten Weiden aufragte, kam Julian ein einzelnes Wort in den Sinn: Harmonie. Nichts störte den Blick. Rotherfield Hall war auf einer grünen Lichtung errichtet worden, und seine hellen, im Laufe der Zeit verwitterten Steinmauern spiegelten sich im Teich wider. Die Veränderungen, die im 18. Jahrhundert vorgenommen worden waren, hatten der Fassade klarere Konturen verliehen und das Renaissancebauwerk vergrößert, ohne seinen Charakter zu verändern. Es hatte sich sein kühnes Wesen und seine Spontaneität bewahrt, die charmante Asymmetrie einer Architektur, die das englische Wesen an sich verkörperte. Die Gärten des Guts waren weit über die Grenzen der Grafschaft hinaus berühmt. Vom sanften Grün der Büsche hoben sich die hellen Stämme der Birken und die rosa und lila Farbtöne der Klematis und Magnolien ab. Julian genoss es, mit den Augen dem Labyrinth der penibel geschnittenen Eibenhecken zu folgen, das seine Urgroßmutter entworfen hatte. Die Rotherfields hatten sich vierhundert Jahre zuvor in diesem Lehen niedergelassen. Ihre Wurzeln reichten weit zurück und waren unverwüstlich. Als Julian die Worte seines Großvaters in den Sinn kamen, lief ihm ein Schauder das Rückgrat hinab. »Unsere Stärke ist das Land, vergiss das nie«, hatte dieser mit eindringlicher Stimme gesagt. Damals hatte dieser Satz für ihn, den jüngeren Sohn, keine Bedeutung gehabt, da er nach dem Erstgeburtsrecht nichts davon erben würde. Der kleine Julian malte sich bereits seine Zukunft aus: Er wollte reisen, denn er teilte den Hang der Briten für Expeditionen in ferne Länder und für exotische Abenteuer. Sein Großvater nahm seinen älteren Bruder Arthur und ihn gern mit, wenn er seine zwölftausend Hektar großen Ländereien bereiste. Die Reise dauerte mehrere Tage und führte sie in verschiedene Grafschaften. Im Laufe der Jahre lernte Julian immer mehr zu lieben und zu schätzen, was ihm von frühester Kindheit an vertraut gewesen war. Die Beständigkeit hatte etwas Gutes. Eine Balance, die ihm zum Anker seines Lebens geworden war.
Der Kragen des weißen Hemdes offen, die Ärmel hochgekrempelt, spürte er, wie ihm die Sonne ins Gesicht und auf die Unterarme brannte. Seit einem Monat kletterten die Temperaturen unaufhörlich. Es schien, als sollten die Krönungsfeierlichkeiten von George V. unter einem mediterranen Himmel stattfinden. Kein Lüftchen wehte, nicht einmal die vertraute Salzbrise, die bisweilen von den South Downs heraufstrich. Im Gegenteil, Haus und Park lagen im flimmernden Hitzedunst. In der Ferne machte Julian ein paar menschliche Silhouetten aus. Rotherfield Hall war eine Welt für sich, ein kleiner Kosmos unterschiedlichster Menschen, deren Leben ineinander verwoben waren. Ganze Familien arbeiteten schon seit Generationen auf dem Gut. Julian liebte sein Land und fürchtete es zugleich, weil es ihm Pflichten auferlegte.
Eine weiße Staubwolke erhob sich über der Allee, die zum Herrenhaus führte. Er kniff die Augen vor der grellen Sonne zusammen. Zwischen den Eichen brauste ein Wagen dahin. Auch wenn sein Vater einen Teil der Pferdeställe in eine Garage umgebaut und einen französischen Chauffeur, der zugleich Mechaniker war, eingestellt hatte, waren Automobile in dieser Gegend noch so rar, dass man ihnen neugierig nachblickte. Außerdem hielten sich jetzt, in der Gesellschaftssaison, die meisten Gutsbesitzer in ihren Londoner Residenzen auf Wer mochte das also sein? Julian, der die Antwort ahnte, nahm die Zügel wieder auf und rief seine Hunde herbei. Sein Pferd setzte sich in schnellem Trab in Bewegung und ließ einen Schwarm himmelblauer Schmetterlinge auffliegen. Lysandra bellargus, dachte Julian - ein in seiner Kindheit wurzelnder Reflex. Damals hatte er davon geträumt, eines Tages Insektenforscher zu werden.
Als er beim Herrenhaus ankam, war der Wagen längst außer Sichtweite. Einzig die Reifenspuren waren noch zu sehen, die er auf der gekiesten Einfahrt hinterlassen hatte und denen ein Gärtner mit einem Rechen zu Leibe rückte. Ein Pferdeknecht eilte herbei, um sich um Julians Pferd zu kümmern. Mit seinen Windhunden ihm auf den Fersen betrat Julian energisch das Vestibül. Seine gute Laune war verflogen. Mit großen Schritten durchquerte er den Salon, wo die orientalischen Teppiche das Geräusch seiner Stiefel erstickten. Ein Kammermädchen in seiner Morgenuniform, einem gemusterten Baumwollkleid, sah ihn erschrocken an, als er an ihr vorbeistürmte. Die Tür des kleinen Salons stand offen. Mit gereiztem Ton in der Stimme fragte er eine weitere Hausangestellte, die Blumen in einer Vase arrangierte, ob sie wisse, wo sein Vater sei, doch sie erwiderte, sie habe ihn seit dem Morgengebet in der Kapelle nicht mehr gesehen.
Er ging weiter in Richtung Rauchsalon. Als hätte er nur auf ihn gewartet, stand sein Vater über den Billardtisch gebeugt da. Er liebte es, zu solch ungewöhnlicher Stunde Billard zu spielen. Er behauptete, dass es ihn beruhige.
»Was hatte Manderley hier zu suchen?«, fragte Julian in scharfem Ton.
Lord Rotherfield richtete sich auf. Er vermied es, seinen Sohn anzusehen. »Guten Morgen, Julian. Wenn ich mich richtig erinnere, sind wir uns heute noch nicht begegnet.«
Der Ton seines Vaters verriet Julian, dass er nicht in bester Verfassung war. Sein Eindruck verstärkte sich noch, als er sah, wie dieser sich auf das Queue stützte. Normalerweise unterbrach sein Vater nie eine Partie, auch nicht, wenn er allein spielte.
»Guten Morgen, Papa. Ich habe Manderleys Wagen gesehen. Ich verstehe nicht. Du hast mir doch dein Wort gegeben.«
»Hast du dich beim Rasieren geschnitten?«
Julian fuhr sich mit der Hand an die Wange.
»Ach, das ist nur ein Kratzer. Von einem Zweig.«
»Treibt Samson auf deinen Ausritten immer noch seine Spielchen mit dir?«
»Ich bin nicht gekommen, um mit dir über Samson zu sprechen«, erwiderte Julian aufgebracht. »Warum weichst du meiner Frage aus? Du hast Manderley hergebeten, weil du dich entschlossen hast, Land zu verkaufen, obwohl du mir hoch und heilig versprochen hattest, es nicht zu tun. Ist es nicht so? Sei wenigstens so offen, es zuzugeben!«
Die beiden Männer sahen einander an. Der elegante graue Gehrock mit den Seidenrevers des Vaters stand in krassem Gegensatz zu dem hemdsärmeligen Aufzug seines Sohnes. Doch beide hatten die gleiche schlanke und große Statur, breite Schultern, eine aufrechte Haltung und lange Beine. Ihre ebenmäßigen Züge und ihr unbeirrter Blick spiegelten die Haltung von Männern wider, die in Gesellschaftsspielen genauso gewandt waren wie in Machtspielen.
Lord Rotherfield sah ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, an, aber ein ernster Zug lag um seinen Mund. »Ich mag es nicht, dass man in diesem Ton mit mir redet, Julian. Ich erwarte, dass du dich entschuldigst.«
Julian blickte an die Decke. Sein Vater vermittelte ihm mitunter das Gefühl, wie ein kleiner Junge in kurzen Hosen vor ihm zu stehen. »Gut, ich bitte dich um Verzeihung, aber ich habe ein Recht auf eine Erklärung.«
Lord Rotherfield kehrte in den kleinen Salon zurück, und Julian folgte ihm. Sein Vater wies die Hausangestellte an, ihm seinen Kaffee zu bringen, denn er wollte gleich darauf nach London aufbrechen. Das junge Mädchen knickste und schloss die Tür.
»Setz dich doch«, sagte er zu seinem Sohn. »Mir wird schwindelig, wenn du die ganze Zeit vor mir auf und ab läufst.«
Durch das offene Fenster hörte man Vogelgezwitscher und das Geräusch der Gartenscheren der Gärtner - die beschwingten Laute der warmen Jahreszeit.
»Ich habe eingewilligt, Michael Manderley sechshundert Hektar zu verkaufen; er liegt mir schon seit einem Jahr damit in den Ohren. Der Kaufvertrag wird gerade aufgesetzt. Ich habe meine Meinung geändert, das ist wahr. Aber ich hatte dir nicht mein Wort gegeben.«
»Jedenfalls hast du mir diesen Eindruck vermittelt.«
»Du hast verstanden, was du verstehen wolltest, Julian. Ich hätte dich für scharfsichtiger gehalten.«
»Ich kann einfach nicht begreifen, dass dieser Mann der Besitzer von Whitcombe Place werden soll! Wo wir noch nicht einmal wissen, welche Schätze dieses Stück Land birgt. Schließlich liegen uns noch nicht die Ergebnisse der Untersuchungen vor, die die Experten vorgenommen haben.«
»Was hoffst du, dort zu finden? Gold? Oder Öl, um die Autos deiner lieben Mutter damit zu betreiben?«, fragte sein Vater ironisch. »Manderley hat diese Möglichkeit durchaus einkalkuliert. Sein Angebot liegt zehn Prozent über dem Marktpreis. Aber du schätzt ihn nicht, weil er einen Yorkshire-Akzent hat, weil er sein Vermögen in der Schneidwarenindustrie von Sheffield gemacht hat und weil er einen Landsitz braucht, bevor er sich einen Titel kaufen kann ... Doch sein Angebot war so gut, dass ich es einfach nicht ausschlagen konnte.«
»Ich schätze ihn deswegen nicht, weil er den Ruf eines ungehobelten Geschäftemachers hat.«
Sein Vater trat ans Fenster. Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte, ungebändigte Haar, eine Geste, die Julian vertraut war. Seine Haut war mit Altersflecken übersät. Julian fiel auf, dass seine Hand zitterte, und das verwirrte ihn. Eine Geste der Ratlosigkeit, in der keinerlei Scham lag. Und obwohl ihn das beunruhigte, ließ er nicht locker.
»Dieser Verkauf ist ein großer Irrtum. Großvater würde sich im Grab umdrehen. Eine Familie braucht ein solides Fundament, um fortzubestehen, und unser Fundament ist das Land«, sagte er ein wenig großspurig, ehe er verdrossen hinzufügte: »Davon abgesehen ist es ein wunderschönes Haus.«
»Dein Großvater war ein Nostalgiker. Er weigerte sich anzuerkennen, dass das Land nicht länger ein unveränderlicher Besitz ist. Stattdessen zog er es vor, die Uhr im Jahre 1884 anzuhalten, weil für ihn die Ausweitung des Wahlrechts der erste Schritt hin zum Untergang unseres Landes war. Aber die Welt entwickelt sich weiter. Allmählich frage ich mich, was aus unseresgleichen werden soll ...«
Damit spielte Lord Rotherfield auf die Bestrebungen David Lloyd Georges an, den er als seinen Erzfeind betrachtete und gegen den er einen erbitterten Kampf führte. Der aus Wales stammende Schatzkanzler war ein brillanter Redner und fest entschlossen, das Ende des Adelsstandes zu besiegeln, einer Klasse, die ihm verhasst war. Als er vor zwei Jahren seinen Haushalt präsentierte, wedelte er gleich mit mehreren roten Tüchern vor den Nasen der Grundbesitzer: Er hatte vor, die Abgaben auf Alkohol, Tabak, Motoren und Benzin ebenso zu erhöhen wie die Steuern auf Einkünfte aus Grundbesitz und Liegenschaften sowie die Erbschaftssteuern. »Steuern auf meinen Leichnam!«, hatte bereits der alte Earl of Rotherfield bei deren Einführung ein paar Jahre zuvor gesagt, um kurz darauf am selben Tag wie Königin Victoria das Zeitliche zu segnen. Sodass sich seine Enkel und Hausangestellten in dem Gefühl sonnten, als würde das ganze britische Empire und somit ein Viertel der Weltbevölkerung Trauer für ihn tragen. Den Adligen indes ging es an die Gurgel. »Und das alles, um die allgemeine Rentenversicherung zu finanzieren!«, riefen sie mit erstickter Stimme aus. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hatte das Oberhaus den Haushalt der Regierung abgelehnt und somit das Kriegsbeil ausgegraben. Mit den nächsten Wahlen änderte sich jedoch das Kräfteverhältnis. Der Premierminister wollte dem Oberhaus mithilfe eines neuen Gesetzes künftig einen Maulkorb anlegen. Diesem Parliament Act zufolge sollten die Lords nicht mehr das Recht haben, einen Haushalt abzulehnen, den das Unterhaus verabschiedet hatte, oder qua ihres Vetorechts die Entscheidung hinauszuzögern. »Das ist eine Revolution!«, hatte Julians Vater in Westminster verkündet. »Man will uns unseres uralten Rechts berauben. Und dann verlangt man auch noch, dass wir mit unserer eigenen Stimme unseren kollektiven Selbstmord besiegeln!«
Lord Rotherfield war kein bornierter Reaktionär. Er war sogar einer der wenigen unter den Konservativen gewesen, der den Krieg gegen die Buren in Südafrika angeprangert hatte. Woraufhin ihm im Carlton Club einige seiner Freunde den Rücken gekehrt hatten. Dennoch war er überzeugt, dass die Aristokratie dem Land mehr nutzte als schadete und für dessen Entwicklung unverzichtbar war.
Julian waren die aufgeladenen politischen Spannungen, die seit Monaten das Land erregten, nicht fremd. Er selbst war Mitglied des Unterhauses, eine Station, die jeder Erbe, der eines Tages unter den Lords im Oberhaus Platz nehmen wollte, einmal durchlaufen musste. Obwohl er auf Anhieb gewählt worden war, war sein Wahlergebnis nicht annähernd so glänzend gewesen wie das seiner Vorgänger aus seiner Familie. Das Vertrauen gegenüber dem Viscount Bradbourne - so lautete Julians Adelstitel - war zwar an den Urnen erneuert worden, aber zum ersten Mal war es dem Rotherfield'schen Erben nicht blind ausgesprochen worden.
Stevens, der Butler, betrat hinter einem jungen Diener mit einer silbernen Kaffeekanne in der Hand den Salon.
»Mr Johnson ist angekommen, Eure Lordschaft.«
»Wer? Ach ja, den hatte ich ganz vergessen. Der große Inspekteur!«, sagte Lord Rotherfield spöttisch. »Lassen Sie ihn auf keinen Fall allein. Diesem Besessenen traue ich nicht über den Weg. Barstow soll ihm bloß nicht von der Seite weichen!« Mit Letzterem meinte er den Gutsverwalter.
Julian stellte seine Tasse zurück. Der Kaffee war ihm wie immer nicht stark genug.
»Und wer ist das?«
»Du weißt doch, dass der Waliser eine umfassende Neubewertung der Liegenschaften verlangt hat. Aber das sind wir ja gewohnt, nicht wahr? William der Eroberer hat mit seinem Domesday Book einen Präzedenzfall geschaffen. Auch er hat die Zählung der Morgen einschließlich des letzten Stück Viehs angeordnet, um berechnen zu können, um wie viel er die Steuern erhöhen muss ... Ich sollte Barstow vielleicht sagen, er soll ihm die Aufstellung auf Latein geben.«
Auch wenn er sich zu einem Scherz hatte hinreißen lassen, war Lord Rotherfield nach wie vor irritiert. Er schätzte es gar nicht, dass Julian von ihm verlangt hatte, sich zu rechtfertigen, aber seit den Hänseleien, die er in den Internatsjahren erlebt hatte und deren er sich noch schmerzhaft erinnerte, auch wenn es ein halbes Jahrhundert her war, hatte er gelernt, sich in Schweigen zu üben. Das Schweigen war eine wirksame Waffe. Sie erlaubte es einem, den Gesprächspartner im Ungewissen darüber zu lassen, ob es eher der Verachtung oder Gleichgültigkeit geschuldet war. Im Übrigen ließ sie einen selbst ein wenig gleichgültiger werden. Dachte Julian etwa, er würde sich leichten Herzens von einem Teil ihres Besitzes trennen? Wusste er nicht, dass sein Hauptanliegen war, das Familienerbe - das Land, die Pachteinnahmen, die Kohlevorkommen in Yorkshire, die Londoner Immobilien, seine Aktien, seine Kunstsammlung - möglichst unversehrt an ihn zu übergeben? Oder am liebsten in einem besseren Zustand, als er es übernommen hatte? Doch seit nunmehr dreißig Jahren war genau dies zu einem Ding der Unmöglichkeit für Familien wie die ihre geworden, die die Fortsetzung der Generationenkette als ihre höchste Pflicht ansahen - die Lebenden reichten nicht nur ihren Vorfahren die Hand, sondern auch ihren Nachkommen, die noch nicht einmal geboren waren. Und genau das beunruhigte seine Frau: Mit seinen achtundzwanzig Jahren schien es Julian mit dem Heiraten noch immer nicht eilig zu haben.
»Es gibt andere Mittel, um an Geld zu kommen«, sagte Julian mit bockiger Miene. »Zum Beispiel, indem man anfängt zu sparen. Der Ball für Victoria wird ein Vermögen kosten. Man hätte auch ein weniger prunkvolles Fest organisieren können. Wir sollten diesem mondänen Affentheater nicht mehr so viel Bedeutung beimessen.«
»Du machst wohl Witze?«, erwiderte sein Vater empört. »Deine Schwestern haben beide ein Recht, auf würdige Weise in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Was hättest du denn lieber? Ein Gartenfest mit Kresse-Sandwiches? Vicky würde uns die Augen auskratzen, wenn wir ihr damit kämen. Selbst Evie hätte das nicht verstanden, die einen Anspruch darauf hatte, dass wir alles uns Mögliche tun.«
»Und was macht sie jetzt daraus ...?«, erwiderte Julian missmutig.
»Ich wusste nicht, dass du so kleinlich bist, Julian«, sagte Lord Rotherfield empört. »Glücklicherweise sind wir noch in der Lage, unseren Stand zu wahren! Manchmal verstehe ich dich nicht, Julian. Woher hast du bloß diese hirnrissigen Ideen? Ich wage nicht, mir vorzustellen, was deine Mutter sagen würde, wenn sie dich so reden hörte.«
»Mama wäre wütend, wenn ihr eine Gelegenheit entginge, ihre Prunksucht zur Schau zu stellen. Sie war schon immer deine Achillesferse. Wenn es darum geht, ihre Wünsche zu erfüllen, hast du noch nie irgendwelche Kosten gescheut.«
Julian war verbittert. Er hob den Blick zu ihrem Porträt. Venetia, Lady Rotherfield, war eines der beliebtesten Modelle von John Singer Sargent gewesen, dem Porträtmaler, den die Adeligen beweihräucherten. Seine Mutter war eine der wenigen gewesen, die er um die Erlaubnis gebeten hatte, sie zu malen. Damals war sie gerade einmal achtzehn und frisch verheiratet gewesen. In einem feinen Abendkleid und mit zerzausten blonden Haaren lag sie in herrlich aufreizender Pose auf einer Chaiselongue. Ein einzelner roter Schuh mit hohem Absatz, der auf dem Teppich verloren wirkte, erinnerte an die epikureische Sorglosigkeit eines Fragonard. Sargent war bekannt für seine Schamlosigkeit und seine Kunst, das zwischen schimmerndem Taft und Seide verborgene Temperament seiner Modelle zu entblößen. Nicht wenige fürchteten diese Scharfsicht. Julian zweifelte nicht daran, dass beide die Sitzungen genossen hatten. Seine Mutter und der Maler teilten ein gewisses Maß an Unverfrorenheit.
Mochte sich sein Vater auch noch so gegen den Vorwurf verwahren, zu nachgiebig zu sein, ließ er ihr alle Launen durchgehen. Als wäre er nie aus dem Staunen darüber herausgekommen, dass sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Ihn, den Erben einer von Pflichten eingeengten alten Adelsfamilie, die Tradition und Beständigkeit hochhielt, während sie einer jener schillernden, freigeistigen und liberalen Familien entstammte, deren Mitglieder sich durch sprachliche Brillanz, persönliche Ausstrahlung und Originalität auszeichneten. Man konnte nicht mit ihr zusammenleben und sich ihrer starken Persönlichkeit entziehen. Diese spiegelte sich auch in ihren Wohnsitzen wider. Sie liebte Pastellfarben, den französischen Stil des 18. Jahrhunderts, kostbaren japanisch inspirierten Nippes. Erstickenden viktorianischen Dekor - schwere Vorhänge, Spitzen oder wuchtige Polstermöbel - suchte man in ihren Räumen hingegen vergebens. Sowohl in Rotherfield Hall als auch in ihrem Londoner Haus am Berkeley Square oder in ihrem Schloss im palladianischen Stil, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Lady Rotherfield umgab sich mit einer Gruppe von Freunden, die mit ihrer Schlagfertigkeit und ästhetischem Feingefühl zwanzig Jahre zuvor auf revolutionäre Weise die High Society geprägt hatte. Sie gehörte jener Handvoll Frauen an, die kraft ihrer Anmut und Herkunft, ihrer Schönheit und Intelligenz ihre Umgebung in ihren Bann zogen. Doch Julian hatte einen kritischeren Blick auf seine Mutter und ihren Hofstaat. Unter der geistreich launigen Oberfläche der Lady Rotherfield verbarg sich ein eiserner Wille. Oder, um es deutlicher zu sagen, seine Mutter war eine gefährliche, machtbesessene Frau.
Lord Rotherfield war der finstere Gesichtsausdruck seines Sohnes nicht entgangen. Inzwischen schien Julian eher irritiert denn traurig. Meistens waren seine Launen nichts weiter als ein vorübergehendes Gewitter, aber Venetia beunruhigten sie; sie behauptete, darin die Anzeichen einer Melancholie zu erkennen, die in ihrer Familie beträchtliche Schäden angerichtet hatte. Die Beziehung Julians zu seiner Mutter war von jeher heikel. Sie waren von ihrem Temperament her einfach zu verschieden. Von Kindesbeinen an verhielt er sich ihr gegenüber zurückhaltend, während Venetia von den Männern, ihren Söhnen eingeschlossen, uneingeschränkten Zuspruch erwartete.
»Gehe ich also recht in der Annahme, dass ich dich in keiner Weise mehr umstimmen kann?«, sagte Julian nach längerem Schweigen.
»Es wäre ohnehin zu spät. In wenigen Stunden beginnt Vickys Ball. Willst du mit mir zusammen den Zug nehmen?«
»Papa, du bringst mich noch zur Verzweiflung! Seit Wochen gehst du jedem Gespräch über Michael Manderley aus dem Weg. Ich wette, du hast ihn sogar zu dem Ball heute Abend eingeladen.«
»Natürlich.«
»Ich würde mich schämen, diesen Mann unter meinem Dach zu empfangen! Der Gedanke, dass er uns benutzt, um gesellschaftlich aufzusteigen, macht mich verrückt.«
»Er ist nicht schlechter als manch anderer. Du bist ungerecht, Julian. Du trittst allgemeingültige Umgangsformen mit Füßen, indem du dich weigerst, Menschen aus bescheidenen Verhältnissen bei uns zu empfangen, nur weil sie ein Vermögen gemacht haben. Wenigstens solltest du seine Verdienste anerkennen. «
»Ich wüsste nicht, welche Verdienste jemand wie er haben sollte.«
»Er hat es mit Ausdauer und Fleiß zu etwas gebracht.«
»Er ist ein Mann des Geldes. Seine einzige Qualität besteht darin, dass er rechnen kann. Ich für meinen Teil zweifle an seiner Redlichkeit.«
»Allmählich kommt mir der Verdacht, dass zwischen euch beiden eine persönliche Sache steht. Muss ich mir langsam Sorgen machen?«
Julian wusste selbst nicht, woher diese instinktive Antipathie gegenüber Michael Manderley rührte. Er war ihm ein paar Mal in Westminster über den Weg gelaufen. Offenbar hatte dieser Mann freundschaftliche Bande mit gewissen Parlamentariern geknüpft. Wenn er wenigstens unsympathisch ausgesehen hätte oder dickleibig gewesen wäre, sodass selbst der beste Schneider aus der Savile Road sein körperliches Manko nicht hätte verhüllen können. Aber nein, Manderley besaß die Figur und Haltung eines Gentleman, der er nicht war. Obgleich nur mittelgroß, war er von schlanker Gestalt und hatte eine aufrechte Haltung. Man konnte ihm allenfalls den absurden Siegelring an seinem Finger vorwerfen, ein Schmuckstück, das von schlechtem Geschmack zeugte und das er, wenn er mit einem sprach, auf irritierende Weise hin und her drehte. Julian hielt ihn für selbstgefällig und zu gerissen, um aufrichtig zu sein, aber er beneidete ihn um seine Selbstsicherheit, an der es ihm mitunter fehlte.
Lord Rotherfield warf einen Blick auf den Poststapel, der ihm gebracht wurde, und legte die Briefe auf den Tisch.
»Du begreifst unsere Situation nicht«, sagte er in sachlichem Ton. »Die Preise für landwirtschaftliche Produkte fallen unentwegt, die Pachteinnahmen verringern sich zusehends, und Grund und Boden sind immer weniger wert. Aber die Kosten für die Ländereien, die werden nicht weniger. Die Steuerlast erdrückt uns schier. Ich musste Schulden aufnehmen, um das Erbe deines Großvaters antreten zu können. Das ist doch der Gipfel, nicht wahr? Unsere Lebenshaltungskosten sind hoch. Manchmal beneide ich Männer wie Manderley, die Geld machen können, ohne all diese Lasten schultern zu müssen. Ich kann nichts Verwerfliches darin sehen, Handel zu betreiben, wenn einem die Einnahmen daraus erlauben, das Dach zu reparieren oder die verdammten Badezimmer einbauen zu lassen, die deine Schwestern meinen haben zu müssen! An dem Tag, an dem du meinen Platz einnimmst, wirst du begreifen, was das heißt. Bis dahin erspare mir bitte deine unangebrachten Belehrungen.«
Mit einem Mal überkam Julian ein Anflug von Mitleid. Sein Vater verfügte über einen liebenswerten Charakter; er war immer aufmerksam seinen Kindern gegenüber gewesen. Oft hatte er einen Blick ins Kinderzimmer geworfen, in Nanny Flanders' Reich. Nie musste er die Stimme erheben, um Autorität auszuüben, wenngleich er nicht zögerte, seine Kinder von Fall zu Fall in ihre Schranken zu weisen. Lord Rotherfield war durchaus der viktorianischen Erziehung verpflichtet, die auf der anglikanischen Vorstellung gründete, dass die durch die Erbsünde belastete Seele eines Kindes nur durch eine gewisse Strenge gerettet werden konnte. Im Laufe der Jahre war es Julian gelungen, jenes höfliche Verhältnis mit ihm zu knüpfen, wie man es von zwei Männern von Welt erwarten durfte. Er hatte sich bemüht, diesen delikatesten aller Modi Vivendi für sich zu erreichen, nämlich den eines Kindes zu seinen Eltern, und war froh, die richtige Balance gefunden zu haben. Erleichtert nahm er jetzt zur Kenntnis, dass sein Vater wieder seine gewohnt unerschütterliche Miene zeigte. Julian erinnerte sich nicht gern an die wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich einen Gefühlsausbruch erlaubt hatte.
»Ich würde dich also bitten, Michael Manderley heute Abend mit der gebührenden Höflichkeit zu empfangen.«
»Das bringe ich nicht fertig.«
»Es ist deine Pflicht, Julian«, entgegnete sein Vater ärgerlich. »Die Verantwortung, die uns obliegt, ist nicht immer angenehm. Doch in diesem Geiste haben wir dich erzogen.«
»Ach, jetzt ist es heraus!«, sagte Julian in ironischem Ton und stand auf. »Aber darf ich dich daran erinnern, dass mir die Rolle des Erben aus Mangel an Alternativen zugefallen ist?«
Er sah seinen Vater herausfordernd an, bis dieser schließlich seinen Blick senkte. Das war Julians liebste Waffe. Die Erinnerung an eine Szene, die sich für immer in ihrer beider Gedächtnis eingebrannt hatte. An den Herbsttag, als ein erzwungener Schwur gefallen war, während sich Arthurs Blut über den feuchten Waldboden von Rotherfield Hall ergossen hatte. Zufrieden, das letzte Wort zu behalten, verließ Julian den Salon. Der Tag hatte schlecht begonnen. Er ahnte noch nicht, dass dies wirklich erst der Anfang war.
Aus dem Französischen von Barbara Röhl und Monika Köpfer
© der deutschen Ausgabe 2012 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH
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Autoren-Porträt von Theresa Révay
Theresa Révay, 1965 in Paris geboren und aufgewachsen, studierte französische Literatur an der Sorbonne. Sie veröffentlichte ihren ersten Roman mit Anfang zwanzig. Danach arbeitete sie viele Jahre als Übersetzerin und Gutachterin für verschiedene französische Verlage.
Bibliographische Angaben
- Autor: Theresa Révay
- 2013, 576 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Röhl, Barbara; Köpfer, Monika
- Übersetzer: Barbara Röhl, Monika Köpfer
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442478413
- ISBN-13: 9783442478415
- Erscheinungsdatum: 18.02.2013
Rezension zu „Der letzte Sommer in Mayfair “
"Dieser bewegende historische Roman setzt Theresa Révays Erfolgsserie faszinierender Bücher mühelos fort." Münsterländische Volkszeitung
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