Der Mann, der die Wörter liebte
Simon Winchester erzählt die wahre Geschichte der außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Professor Murray, dem Herausgeber des legendären Oxford English Dictionary, und einem sprachverliebten...
Simon Winchester erzählt die wahre Geschichte der außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Professor Murray, dem Herausgeber des legendären Oxford English Dictionary, und einem sprachverliebten Mörder, der zum wichtigsten Mitarbeiter an diesem Projekt wird. Ein packender Roman über Genie, Wahnsinn und die Liebe zu den Wörtern.
Simon Winchester erzählt die wahre Geschichte der außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Professor Murray, dem Herausgeber des legendären Oxford English Dictionary, und einem sprachverliebten Mörder, der zum wichtigsten Mitarbeiter an diesem Projekt wird. Ein packender Roman über Genie, Wahnsinn und die Liebe zu den Wörtern.
Der Mann,der die Wörter liebte von SimonWinchester
LESEPROBE
Im viktorianischen London war der Klang vonPistolenschüssen selbst in einer so anrüchigen und finsteren Gegend wie LambethMarsh ein überaus seltenes Ereignis. Die Marsh war ein unheimlicher Ort, eindüsteres Elendsviertel, ein schrecklicher Sündenpfuhl am Ufer der Themse direktgegenüber von Westminster. Nur wenige ehrbare Londoner Bürger hätten sich jedorthin gewagt. Es war auch ein Stadtteil voller Gewalttätigkeit. In Lambethlauerten Straßenräuber, einmal hatte es eine regelrechte Serie von Raubmordengegeben, und in den bevölkerten Gassen waren die dreistesten Taschendiebe amWerk. Fagin, Bill Sikes und Oliver Twist hätten sich im viktorianischen Lambethallesamt zu Hause gefühlt. Dies war Dickens London, wie es im Buche steht. Eswar jedoch keine Gegend für Männer mit Pistolen. Bewaffnete Kriminalität war zuGladstones Zeit in Lambeth eher eine Seltenheit, wie sie überhaupt im gesamten GroßstadtmolochLondon äußerst selten war. Schußwaffen waren teuer, unhandlich und auffällig.Damals galt die Verwendung einer Schußwaffe bei der Verübung eines Verbrechensals ausgesprochen unbritisch - als eine Seltenheit, von der man bestenfalls inder Zeitung las. «Zum Glück», hieß es in einem selbstgefälligen Leitartikel inLambeths Wochenzeitung, «haben wir in diesem Land keinerlei Erfahrungen mit demVerbrechen des Erschießens , das in den Vereinigten Staaten so verbreitetist.» Als in der mondhellen Nacht zum 17. Februar 1872 kurz nach zwei Uhr eineSalve von drei Revolverschüssen ertönte, war dies etwas Unerhörtes undUngeheuerliches. Die drei Schüsse - vielleicht waren es auch vier - hallten laut,sehr laut durch die kalte, nebligfeuchte Nacht. Daß die Donnerschläge von einemscharfsinnigen jungen Polizeiwachtmeister namens Henry Tarrant, der damals inder Gendarmerie von Southwark Dienst tat, nicht nur gehört, sondern sofortrichtig gedeutet wurden, war angesichts ihrer Seltenheit fast ein Zufall. DieTurmuhren hatten gerade erst zwei geschlagen, hieß es später in seinem Bericht.Er leistete in dieser Samstagnacht mit gewohnter Lustlosigkeit die zweiteNachtschicht ab, schlenderte unter den Brückenbogen neben der Waterloo Stationhindurch, rüttelte an den Schlössern vor den Ladentüren und verfluchte dieschneidende Kälte. Als Tarrant die Schüsse hörte, stieß er in seine Pfeife, umKollegen zu alarmieren, die vielleicht, wie er hoffte, in der Nähe auf Streifewaren. Dann rannte er los. In Sekundenschnelle durchquerte er das Gewirrglitschiger Gassen, aus denen Lambeth, damals noch eine schäbige Kleinstadt, bestand,und war im Nu auf der breiten Belvedere Road unten am Flußufer, von wo dieSchüsse seiner Meinung nach gekommen waren. Zwei weitere Polizisten, HenryBurton und William Ward, die den schrillen Ton seiner Pfeife gehört hatten, eiltenherbei. Burton war, wie er in seinem Bericht vermerkte, in die Richtunggelaufen, aus der das Pfeifen hallte, und stieß dann auf seinen KollegenTarrant, der inzwischen einen Mann ergriffen hatte und festhielt. «Schnell!» riefTarrant. «Dort auf der Straße - ein Mann ist erschossen worden!» Burton undWard liefen in Richtung Belvedere Road und fanden nach kurzer Zeit denregungslosen Körper eines sterbenden Mannes. Sie knieten sich hin und beugtensich - nachdem sie Augenzeugenberichten zufolge Helm und Handschuhe abgelegthatten - über das Opfer. Blut strömte über das Pflaster. Die Stelle, an dersich die Blutlache bildete, wurde in den eher reißerischen der Londoner Zeitungennoch monatelang als Ort eines «scheußlichen Verbrechens», eines «schrecklichenVorfalls», einer «grausamen Tat», eines «gemeinen Meuchelmordes» bezeichnet. DieZeitungen einigten sich schließlich darauf, von der «Tragödie von Lambeth» zusprechen - als ob nicht die Existenz von Lambeth an sich schon eine Tragödiegewesen wäre. Dies war jedoch ein äußerst ungewöhnliches Ereignis, selbst nachMaßstab der Marsh-Bewohner, die einiges gewohnt waren. An dem Ort der Bluttathatten sich zwar im Laufe der Jahre etliche sonderbare Zwischenfälle zugetragen,die von den Groschenblättern eifrig ausgeschlachtet wurden, doch diesesspezielle Drama sollte eine Reihe von Konsequenzen nach sich ziehen, diebislang ohne Beispiel waren. Auch wenn einige Seiten dieses Verbrechens undseiner Folgen sicherlich bedauerlich, ja unfaßbar waren, so war das Ereignis,wie dieser Bericht verdeutlichen wird, nicht zur Gänze tragisch. Mitnichten. Auchheute noch ist Lambeth ein ausgesprochen unschönes Viertel der britischenHauptstadt; das nichtssagende Areal liegt eingekeilt in dem riesigen Fächer vonStraßen und Eisenbahnlinien, auf denen die Pendler aus den südlichen Vorortenins Stadtzentrum strömen. Heute stehen dort die Royal Festival Hall und dasSouth Bank Centre, die auf dem Gelände erbaut wurden, auf dem 1951 einVergnügungspark errichtet worden war, um die Londoner nach den Opfern undEntbehrungen der Kriegsjahre auf andere Gedanken zu bringen. Ansonsten ist die Gegendeher gesichtslos und trist - hier befinden sich endlose Reihen gefängnisartigerBlocks mit den unbedeutenderen Ministerien, der im Herbst von heftigen Böenumheulte Hauptsitz eines Ölkonzerns, ein paar unscheinbare Pubs undZeitungsläden und der finstere Komplex der Waterloo Station, der unlängst umden Bahnhof für den Kanaltunnelexpreß erweitert wurde und mit seiner dumpfen Ausstrahlungdie Umgebung prägt. Die mächtigen Eisenbahndirektoren jener Tage ließen bei denanderen Londoner Bahnhöfen, wie etwa Victoria oder Paddington und sogar St.Pancras und King s Cross, gewaltige Hotelkästen von großem Luxus erbauen, doch beiWaterloo sparten sie sich das, denn Lambeth galt seit langem als eine derübelsten Gegenden der Stadt. Bevor erst unlängst die Anlage der Festival Hallweiter ausgebaut wurde, hat sich dort niemand von Rang und Namen blickenlassen, weder ein Passagier zu Zeiten der vikto- rianischen Züge noch irgendeinPassant in heutiger Zeit. Die Gegend wandelt sich zwar allmählich, doch ihr Rufverfolgt sie noch immer. Vor hundert Jahren war es wirklich eine üble Gegend. Siewar damals noch nicht aufgeschüttet und längst nicht völlig trockengelegt. Eswar ein Morast, durch den ein trübes Rinnsal namens Neckinger in die Themsesickerte. Der Grund gehörte dem Erzbischof von Canterbury und dem Herzog vonCornwall, die beide bereits reich genug waren und keinerlei Interesse zeigten,das Areal in der Weise zu erschließen, wie dies die großen Grundeigentümer vonLondon taten - die Grosvenor, Bedford und Devonshire, die auf der anderen Seitedes Flusses Straßen, Plätze und prächtige Wohnanlagen errichteten. In Lambethstanden statt dessen Lagerhäuser und Mietbaracken und triste Reihen schäbigerHütten. Es gab blacking-factories, in denen schwarze Schuhwichsehergestellt wurde, und Seifensiedereien, kleine Färbereien und Kalkbrennereiensowie Gerbereien, in denen das Leder mit einer Substanz gedunkelt wurde, dieman als «pure» bezeichnete und die nachts von den schmutzigsten und armseligstenKreaturen auf den Straßen eingesammelt wurde - «pure» war eineviktorianische Bezeichnung für Hundekot. Ein übler Geruch von Hopfen und Hefehing über allem. Die widerlichen Schwaden stiegen aus den Schornsteinen dergroßen Red-Lion-Brauerei an der Belvedere Road nördlich der Hungerford Bridge.Diese Brücke war ein Sinnbild dessen, was die gesamte Marsh umgab - die Eisenbahn,die auf Viadukten hoch über den Sümpfen schwebte. Über diese Viadukte torkeltenendlose Waggonreihen, pufften und schnaubten unzählige Züge (unter anderem auchdie Londoner Friedhofsbahn, die für die letzte Fahrt der Leichen nach Wokinggebaut worden war). Kaum ein Stadtteil war so laut und verpestet wie Lambeth undgalt so sehr als Inbegriff von Dreck und Lärm. Hinzu kam, daß Lambeth Marshaußerhalb der Gerichtsbarkeit der Citys von London und Westminster lag; verwaltungstechnischunterstand die Gemeinde - zumindest bis 1888 - der Grafschaft Surrey, und dashieß, daß die relativ strengen Gesetze der Hauptstadt nicht mehr galten, sobaldman sich über eine der neuen Brücken, Waterloo, Blackfriars, Westminster oderHungerford, nach Lambeth wagte. Der Ort stand daher schnell in dem Ruf, einSchauplatz hemmungsloser Ausschweifungen zu sein, wo es von Pubs und Bordellenund verruchten Theatern nur so wimmelte und wo für nicht mehr als eine HandvollPennys Vergnügungen jeglicher Art - und Krankheiten jeglicher Sorte - zu habenwaren. Wer ein Bühnenstück sehen wollte, das die Londoner Zensurbehörde nichthatte durchgehen lassen, wer bis in die frühen Morgenstunden Absinth trinkenoder erlesene pornographische Schriften erstehen wollte, die frisch aus Pariseingeschmuggelt worden waren, oder wer ein Mädchen, gleich welchen Alters,haben wollte, ohne fürchten zu müssen, die Polizei oder seine Eltern auf demHals zu haben - der ging «nach Surrey», hinüber nach Lambeth. Doch zogen diebilligen Quartiere in Lambeth auch achtbare Menschen an, und George Merritt warnach allem, was man weiß, einer von ihnen. Er arbeitete als Heizer in derRed-Lion-Brauerei. Seit acht Jahren gehörte er zu jenen, die Tag und Nachtdafür sorgten, daß die Feuer brannten, die Kessel brodelten und die Gerstemalzte. Er war dreiundvierzig Jahre alt und wohnte in der Cornwall Road Nummer 24.Wie so viele junge Arbeiter im viktorianischen London kam George Merritt vomLand, ebenso wie seine Frau Eliza. Er stammte aus einem Dorf in Wiltshire, sieaus Gloucestershire. Sie waren beide Landarbeiter gewesen. Sie hatten ohne denSchutz von Gewerkschaften geschuftet und bekamen von skrupellosen Pachtherren einpaar Pennys für ihre stupide Plackerei. Die beiden hatten sich auf einerLandwirtschaftsmesse in den Cotswolds kennengelernt und beschlossen, gemeinsamnach London zu gehen - mit dem neuen Eilzug nur noch zwei Stunden von Swindonentfernt -, um in der Metropole, die grenzenlose Möglichkeiten zu bietenschien, ihr Glück zu suchen. Zunächst zogen sie in den Norden Londons, wo ihrältestes Kind, Clare, 1860 geboren wurde; dann gingen sie ins Zentrum; und alsdie Familie zu groß und das Leben zu teuer und Arbeit rar geworden war,landeten sie im Jahre 1867 schließlich in der Nähe der Brauerei im belebten Herzenvon Lambeth. Die Behausung und Umgebung des jungen Paares erinnerte an Szenen,wie sie Gustave Doré immer wieder festhielt - eine düstere Welt, geprägt vonRuß und Backsteinbaracken, engen Mietskasernen und winzigen Hinterhöfen mitLatrinen, Waschbottichen und Wäscheleinen. Über allem hing ein schwefeligerGestank, aber auch die Atmosphäre derber Ausgelassenheit und typisch Londoner Vergnügtheit.Ob den Merritts die Felder, der Apfelwein und die Lerchen fehlten, ob siejemals die Welt, die sie verlassen hatten, als Idyll empfanden, werden wir nie erfahren.Denn im Winter 1871 hatten George und Eliza, wie die meisten Bewohner derärmeren Viertel im viktorianischen London, eine vielköpfige Familie zuversorgen: sechs Kinder, von der fast dreizehnjährigen Clare bis zum kleinen Freddymit zwölf Monaten. Mrs. Merritt stand kurz vor der Entbindung ihres siebtenKindes. Die Familie war arm, wie die meisten in Lambeth; George Merritt brachte24 Shilling in der Woche nach Hause, eine klägliche Summe, selbst für damaligeVerhältnisse. Da Miete an den Erzbischof zu zahlen war und acht hungrige Mäulergestopft werden mußten, reichte es vorn und hinten nicht. In jener Nacht wurdeMerritt wie verabredet kurz vor zwei Uhr von einem Nachbarn durch ein Klopfenam Fenster geweckt. Er stand auf und machte sich für die Frühschicht fertig. Eswar bitter kalt, und er zog sich so warm an, wie seine bescheidene Garderobe esihm erlaubte: Er trug einen abgetragenen Mantel, darunter eine ArtArbeitskittel, den die Viktorianer als slop bezeichneten, ein zerrissenesgraues Hemd, eine Cordhose, deren Aufschläge mit einer Schnur zugebunden waren,dicke Socken und schwarze Stiefel. Die Kleidung war nicht sonderlich sauber; aberschließlich mußte er die nächsten acht Stunden Kohlen schaufeln, und sokümmerte ihn sein Aussehen wenig. Seine Frau erinnerte sich später, daß er einStreichholz anzündete, bevor er aus dem Haus ging. Das letzte, was sie von ihmsah, war sein Schatten unter einer der hellen Gaslaternen, mit denen dieStraßen von Lambeth seit kurzem ausgestattet waren. In der kalten Nachtluft warsein Atem sichtbar - oder vielleicht paffte er auch nur seine Pfeife. Er gingzielstrebig die Cornwall Road hinunter und bog dann in die Belvedere Road ein.Die Nacht war still und sternenklar; nichts war zu hören, nachdem seine Schritteverhallt waren, außer dem ewigen Rattern und Schnauben der Lokomotiven. Mrs.Merritt hatte keinen Grund, besorgt zu sein. Wie in den zwanzig vorangegangenenNächten, in denen ihr Mann Frühschicht gehabt hatte, ging sie davon aus, daß nichtspassieren würde. George marschierte wie gewöhnlich zu den hohen Mauern und denverschnörkelten Toren der Brauerei mit dem großen roten Löwen - dem Symbol derFirma und einem der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt. Das Kohlenschaufelnwarf vielleicht nicht gerade viel ab, aber in einem so berühmten Unternehmenwie der Red-Lion-Brauerei zu arbeiten, erfüllte ihn doch mit einem gewissenStolz. In jener Nacht sollte George Merritt sein Ziel nicht mehr erreichen. AufHöhe der Tennison Street, dort wo die Südseite der Bleihütte von Lambeth an dienördliche Mauer der Brauerei grenzte, hörte er plötzlich einen Schrei. Ein Mannschien ihn zu verfolgen und brüllte ihn fürchterlich an. Merritt bekam Angst;das war nicht bloß irgendein gewöhnlicher Straßenräuber, der einem im Dunklen auflauerte;dies war etwas ganz anderes. Voller Panik begann Merritt zu laufen. Immerwieder rutschte er auf den eisglatten Pflastersteinen aus. Irgendwann drehte ersich um. Der Mann war ihm immer noch auf den Fersen, brüllte immer noch hinterihm her. Dann geschah das Unfaßbare: Er blieb stehen, zog eine Pistole, legtean und feuerte. (...)
© Albrecht Knaus Verlag
Übersetzung: Harald Stadler
- Autor: Simon Winchester
- 2006, 283 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Stadler, Harald
- Übersetzer: Harald Stadler
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813502252
- ISBN-13: 9783813502251
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