Der Mann mit dem Fagott
Die faszinierende Geschichte seiner Familie schildert Udo Jürgens in diesem großen Roman. Sein Großvater, Heinrich Bockelmann, wanderte einst nach Russland aus. Seine Familie erlebt den Glanz der Zarenzeit, die Schrecken der russischen Revolution und der...
Die faszinierende Geschichte seiner Familie schildert Udo Jürgens in diesem großen Roman. Sein Großvater, Heinrich Bockelmann, wanderte einst nach Russland aus. Seine Familie erlebt den Glanz der Zarenzeit, die Schrecken der russischen Revolution und der beiden Weltkriege, den Hoffnungsschimmer des Mauerfalls.
"Udo Jürgens hat ein wunderschönes, spannendes Familienepos geschrieben." -- Kultur
"Der Musiker als Autor - Udo Jürgens beweist sich auch auf diesem Gebiet. Er kann wunderbar erzählen; er hat gründlich recherchiert, was die Familien- und Zeitgeschichte betrifft. Ein Mann also mit vielen Eigenschaften. Und welchen Anteil Michaela Moritz an diesem Buch haben mag - auch sie hat eine großartige schriftstellerische Leistung vollbracht." -- Kölnische Rundschau
Der Mann mit dem Fagott von Udo Jürgens undMichaela Moritz
LESEPROBE
Wahrheit oder Lüge? - Das Leben als Roman
Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und meinWeltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich seitvielen Jahren begleitet, die Idee zu diesem Buch trage ich schon beinahe meinganzes Leben mit mir herum.
Es erzählt die Wahrheit und ist doch ein Roman: Es erzählt die Geschichte so,wie ich sie sehe, sie recherchiert oder erlebt, sie aus den Geschichten meinerKindheit und Jugend rekonstruiert habe. Aber jede Geschichte enthält so vieleWahrheiten wie Personen, die dabei waren oder darüber erzählen.
Ich war nicht dabei, als mein Großvater im Jahre 1912 durch Moskau fuhr, alsmein Vater seinen ersten Theaterbesuch erlebte, als 1914 der Erste Weltkriegausbrach und mein Großvater in St. Petersburg den Jubel der Massen sah undhörte oder als mein Vater 1945 in Klagenfurt in Gestapohaft saß. Ich weiß nicht,bei welchem Satz genau mein Onkel Werner die Stirn runzelte, als er 1958 beimVersuch, das Haus seiner Kindheit zu photographieren, verhaftet wurde, und michmögen auch meine Erinnerungen an meine eigene Kindheit und Jugend da oder dorttrügen. Freunde und Weggefährten von damals werden vielleicht andereGeschichten erzählen, weil sie genau die gleiche Geschichte anders erlebthaben. Dieses Risiko muß man eingehen, wenn man sich vornimmt, so ein Buch zuschreiben.
Was ich recherchieren konnte, habe ich recherchiert, ich habe historischeBücher studiert, alte Dokumente gesucht und gefunden, bin bis nach Moskau undSt. Petersburg gereist, um die Orte zu besuchen, die ich hier beschreibe, undum in Archiven zu forschen. Ich habe Historiker und meine Familie befragt undmich auf meine Erinnerungen und mein Lebensgefühl verlassen.
Wahrscheinlich war nicht jede Geschichte ganz genau so, wie sie hierbeschrieben ist, aber sie könnte so gewesen sein, und sicher liegt die Wahrheitnicht allzuweit davon entfernt. Letztendlich enthält dieses Buch die einzigeWahrheit, die ich über meine Familie, meinen eigenen Lebensweg und den »Mannmit dem Fagott« erzählen konnte.
Da und dort haben wir Namen geändert und Personen ein wenig anonymisiert, umniemanden zu verletzen oder an den Pranger zu stellen und die Nachkommen jener,die irgendwann fragwürdig gehandelt haben, zu schützen, denn dieses Buch willnicht anklagen und alte Wunden aufreißen, sondern die Geschichte meinerFamilie, an der sich die Geschichte dieses Jahrhunderts spiegelt, auf eine ganzpersönliche Weise neu erzählen.
Udo Jürgens-Bockelmann
PROLOG: Bremen, Weihnachten 1891
Der Mann mit dem Fagott
Ein dumpfer Aufprall. Ein Schneeball zerspringt dicht vor Heinrich BockelmannsKopf an einer Hauswand. Kinderlachen, sich schnell entfernende Schritte. WiederStille, nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen und in der Ferne leisedie geheimnisvollen Klänge des Weihnachtsmarktes.
Die frühe Dunkelheit und das Glitzern der Festbeleuchtung im seltsam kaltenWinter geben der Stadt ein fremdes, verzaubertes Gesicht. Vielleicht ist es derin dieser Stadt so seltene Schnee, der alles verändert. Oder vielleicht ist esauch nur Heinrichs Blick, der bereits fremd geworden ist, die Stadt wie zumersten Mal betrachtet mit Augen, die das Besondere suchen, das Bleibende,Bilder, an denen die Erinnerung sich festhalten kann in der Fremde.
Jedes Haus, jeder Baum, jedes Licht, jeder Blick ein Abschiedsgruß. Er hatte essich nicht so schwer vorgestellt. Mit 21 hatte man erwachsen zu sein, einzielstrebiger junger Mann, der seinen Weg ging. Er mußte sich an diese Rolleerst herantasten, an den festen, zuversichtlichen Schritt in seine Zukunft.
»Halte die Augen und Ohren offen, sei dir sicher, wer du bist, und sei bereitzu lernen, dann wirst du deinen Weg finden«, hatte sein Vater zum Abschiedgesagt und war wieder fortgereist, auf seinem Passagierschiff »Henriette«, mitdem Kapitän Bockelmann die Route Bremen - New York befuhr. Wie meistens würdesein Vater an Weihnachten nicht zu Hause sein. Heinrich kannte es nicht anders,und doch wäre es schön gewesen, den Vater noch ein wenig länger hier zu haben,diesmal Der Rat des in der Fremde und im Leben so erfahrenen Vaters hätte ihmin diesen Tagen viel bedeutet. Solche Gespräche waren selten gewesen inHeinrichs Leben. Monatelang war der Vater fort, unterwegs auf den Weltmeeren.Kam er zurück, war er ein Fremder. Und kaum war die Fremdheit gewichen, war erschon wieder auf See, existierte nur noch in den wenigen Briefen und buntenPostkarten aus aller Welt, um die Heinrichs Spielkameraden ihn immer beneidethatten.
Nun trieb es auch ihn fort, so stark die Stimme der Ungewißheit im Moment inihm auch war und ihn zu halten suchte. Er wird gehen. In wenigen Tagen. Nurwohin, das weiß er noch nicht.
Die goldene Taschenuhr des Vaters, sein Abschiedsgeschenk, fühlt sich schweran, fremd. Noch berührt er sie ein wenig distanziert, voll Respekt vor ihremunschätzbaren Wert - und vor dem Gefühl, sie sich erst noch verdienen zumüssen. Noch öffnet er ein wenig verstohlen den Deckel, wie früher, als erheimlich mit ihr spielte. Manchmal ertappte sein Vater ihn damals dabei,lächelte, nahm ihm die Uhr aus der Hand, sagte: »Das ist eine Zauberuhr! Wenndir die Zauberkräfte hold sind, kannst du sie mit deinem Atem öffnen.« Er gingin die Hocke, um mit Heinrich auf Augenhöhe zu sein, hielt sie ihm vor seinungläubig-gespanntes Gesicht. »Puste!« Heinrich gab sich Mühe. »Das kannst duaber besser! Fester!« Heinrich pustete mit all seiner Kraft. »Noch mal!« Dasprang wie von Zauberhand der Deckel auf, und die Uhr machte summend undbimmelnd und klingend die Zeit hörbar. Zauberkraft die könnte er jetztwirklich brauchen. Heinrich lächelt, schließt den Deckel wieder, steckt die Uhrin seine Tasche. Die Zeit bis zu seiner Abreise möchte er gar nicht ermessen.
Duft nach Zimt und Mandeln aus jedem Haus. Schnaubende Pferde, knirschendesZaumzeug. Ein zugerufener Gruß. Menschen auf dem Weg in die Stadt. Der Schneedämpft die Geräusche der Straße, macht sie weicher, sanfter. Alles Alltäglicheerscheint Heinrich heute besonders, festhaltenswert. Seit Kindertagen zieht esihn in die Ferne. Stundenlang hatte er schon als kleiner Junge den Globus imArbeitszimmer des Vaters studiert, sich die wohlklingenden Namen ferner Länder,fremder Städte eingeprägt, sich vorgestellt, sie später einmal alle zubereisen.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, wegzugehen, sich irgendwo in der Welt einenPlatz zu suchen. Nur wo, das zu entscheiden, fällt ihm schwer. Beim letzten Besuchseines Vaters hatte er ihn um Rat gefragt. Man hatte in großer Runde mitFreunden und deren Familien zusammengesessen. Von Amerika hatte der Vater ihmabgeraten. Natürlich könne er mitfahren auf der »Henriette«, auf der Überfahrtarbeiten und sich damit die Kosten für die Reise verdienen. Natürlich sei daseine Möglichkeit, und sehenswert sei das Land allemal, aber zum Leben? Ehernicht. Es sei auf einem unheilvollen Weg. Unruhen, Aufstände, Streiks, dieStimmung gereizt, nervös. Es wimmle von gescheiterten Existenzen, Kriminellen,ein undurchschaubarer Sumpf, und die Wirtschaft sei auch nicht gerade stabil.Schwierig schon für die Etablierten, aber bestimmt kein gutes Pflaster füreinen jungen Mann, der seinen Weg machen wolle. Und dann die Entfernung zuEuropa, der unvergleichlichen europäischen Kultur Der ganze Atlantikdazwischen Diese Weite beeindrucke sogar ihn selbst noch. Nach all denJahren, die er diese Strecke nun schon befuhr Die Freunde des Vaters warenseiner Meinung.
Aber Rußland, das sei eine Überlegung wert. Ein junger Maat auf seinem Schiffstamme aus Sankt Petersburg. Was der so erzähle! Es müsse ein unvergleichlichglanzvolles Land sein und vor allem offen, das Land der Starken, so sagte man,das Land, in dem man mit einer Idee und harter Arbeit alles erreichen konnte.Besonders als Deutscher. Die vielen deutschen Einwanderer dort hatten großesAnsehen, Einfluß und Macht erlangt. In ihrem Kreis konnte man sich etablieren.Das wäre vielleicht das richtige für Heinrich. Die Knoops, Freunde des Vaters,hatten begeistert zugestimmt. Man habe Verwandte in Moskau. Die könntenHeinrich bestimmt Adressen für eine Stellung vermitteln. Rußland seiwundervoll! Man sei selbst schon dagewesen! Herrlich! Der Glanz desZarenhauses, die Kultur, die Weltoffenheit Dort sei wirklich alles möglich.
Also Rußland? Heinrich zögert noch. Er muß sich bald entscheiden. MitJahresbeginn möchte er sein neues Leben beginnen, so hatte er sich vorgenommen,und was man sich vornahm, das hielt man auch ein.
Vielleicht könnte er ja auch in eine andere der europäischen Metropolen gehen?Adressen hatte er sich von überallher besorgt. Die Freunde seines Vaters hattenKontakte in aller Herren Länder. Vielleicht sollte er sich mit einem etwaskleineren Schritt begnügen?
Rußland war sicher die exotischste der Möglichkeiten. Dort wäre ihm der größteAufstieg möglich, aber auch das größte Versagen. Es würde alles in seiner Handliegen. Also eigentlich genau das, was er suchte, auch wenn er manchmal sogarmit dem Gedanken an ein ganz normales Leben spielte: Er könnte sich einfach inBremen eine Stelle suchen, vielleicht in einiger Zeit sogar um Katharinas Handanhalten
Ja, Katharina. Bei dem Gedanken an ihre warme, weiche Stimme, ihr feines,fröhliches Gesicht, ihre langen blonden Haare, wurde ihm gleichzeitig heiß undkalt. Diese Gefühle kamen zur falschen Zeit. Zu spät. Oder auch zu früh. Erkannte sie noch nicht lange genug, um ihretwegen seine Pläne zu ändern undhierzubleiben. Es wäre wie das Eingeständnis eines Versagens gewesen. Er konntesie aber auch nicht bitten, auf ihn zu warten. Er hatte daran gedacht, doch zuungewiß war seine Zukunft, zu wenig klar umrissen die Zeit, die er brauchenwürde, um sich zu etablieren, um ihr dort, wohin er ging, ein angemessenes Heimbieten zu können. Die Ungewißheit seines Lebens konnte er ihr nicht zumuten,das war ihm in den letzten Wochen des Kampfes mit sich selbst klargeworden.Damit mußte er fertig werden. Es fiel ihm schwer.
Er wirft eine Münze von der Brücke aus in einen der romantischen Kanäle derWeser. Ein kleines Ritual, wie immer, wenn es im Leben für ihn darauf ankam. Essollte ja bekanntlich Glück bringen, und Glück konnte er brauchen.
Plötzlich aus der Ferne leise ein ganz besonderer, seltsam anrührender Klang,der ihn merkwürdig berührt. Er lauscht, folgt seiner Richtung, verliert ihnwieder, hält den Atem an.
Da ist er wieder, leise und doch deutlich hörbar, abgesetzt von denAlltagsgeräuschen und den Klängen des Weihnachtsmarktes, eine ganz eigeneStimme im Chor der Töne, allem anderen unterlegt, als wäre er mit seinersonderbar melancholisch-fröhlichen Melodie das Fundament für alle anderenKlänge und Farben dieses Tages.
Unbewußt versucht Heinrich die Richtung auszumachen, aus der er erklingt undfolgt ihm wie selbstverständlich, ohne daß er es beschlossen, sich aus einerLaune heraus oder aus Langeweile dazu entschieden hat. Es war zwingender. Erhatte in diesem Augenblick keine Wahl.
Es kommt aus der Richtung des Marktplatzes, da ist Heinrich sich mittlerweilesicher. Es klingt tiefer als eine Oboe und erhabener als eine Klarinette. Esist weicher als eine Posaune und rauher als eine Flöte. Heinrich lauscht. Esist kein Instrument, das man Tag für Tag hört. Vielleicht ist es ja einMusiker, der zu Hause übt, bei geöffnetem Fenster, aber das istunwahrscheinlich. Dazu ist der Klang zu präsent, nicht gedämpft durch Mauernund Fenster. Es schweigt, einen Augenblick nur, dann setzt es wieder ein. Ermuß jetzt ganz nah sein.
Heinrich tritt aus dem Dunkel der Arkaden und bleibt erstaunt stehen. Der Mannsteht etwas abseits des Weihnachtsmarktes. Er trägt eine merkwürdige,prächtig-bunte Verkleidung, einen dunkelblauen Gehrock mit rot umfaßtengoldenen Knöpfen, eine dunkle Hose und auf dem Kopf einen schwarzen, zerknittertenZylinder. Seine Haltung leicht nach vorn gebeugt. Und er spielt auf einemFagott.
Das war kein Instrument für einen Straßenmusikanten. Und der Mann sieht auchnicht aus wie ein gewöhnlicher Straßenmusikant. Er spielt ein bekanntes Stück,eine ganz einfache Melodie, die Heinrich irgendwoher kennt und doch nicht zubenennen weiß. Es klingt nach einem russischen Volkslied. Unverkennbar.Erstaunlich bitter und traurig die Verse und auf eine seltsame Weise fröhlichund doch nicht unbeschwert der rhythmische, sich ständig steigernde Refrain,als müsse man die Traurigkeit der Welt nur intensiv genug erleben, um sie inetwas Schönes zu verwandeln. Die dunklen Augen des Mannes strahlen, ruhen ganzin sich selbst. Irgendwo hat er diese Augen schon einmal gesehen, denkt er,doch er weiß nicht, wo. Vielleicht im Traum.
Einige Passanten bleiben stehen, versammeln sich um den Fagottisten, klatschenbegeistert im immer schneller werdenden Rhythmus der Melodie. Das bunte Treibendes Weihnachtsmarktes verblaßt, so lange er spielt, das kleine Karussell, diebunten Stände mit Lebkuchen und Mandeln und Zimtsternen, der Leierkastenmannmit den Weihnachtsliedern. Das alles kann warten. Heinrich fragt sich, was esmit dem Spiel, der Verkleidung auf sich haben könnte. Für einen Bettler ist dieKleidung zu gut, die Erscheinung des Mannes zu fein, zu lebendig. Ein Bettlerwürde den Hut auch nicht auf dem Kopf tragen, sondern vor sich stellen in derHoffnung auf milde Gaben.
Der Kreis der Zuhörer vergrößert sich. Heinrich wird ein wenig abgedrängt. Erkann den Fagott-Spieler nicht mehr sehen. Nur noch hören. Jemand tuschelt: »Dermacht Reklame für das Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße.Da vorn ist ein Plakat mit der Einladung.«
Heinrich Bockelmann lächelt. Erinnerungen an die noch nicht so langezurückliegende Schulzeit werden wach. Kameraden, Lehrer. Das Alte Gymnasium warauch das seine gewesen. Und das Katharinas. Vielleicht sollte er hingehen. Eswäre eine schöne Gelegenheit, die alten Freunde wiederzusehen. Ein seltsamerGedanke: Menschen wiederzufinden, die er lange nicht gesehen hat, um sie danachgleich wieder zu verlieren. Er schüttelt den Kopf. Erwachsen zu werden, schienzu bedeuten, Abschied zu nehmen. Nicht nur von der Kindheit. Das hatte er niein der Schule gelernt.
Heinrich geht ein wenig auf und ab. Das fast mystische Spiel des Fagottistenbegleitet ihn, zaubert ein Lächeln auf sein Gesicht, ist in geheimnisvollerWeise Antwort auf Heinrichs unausgesprochene Sehnsucht. Heinrich fühlt esplötzlich ganz klar: Er muß nach Rußland. Es ist, als wäre der Klang desFagotts, die russische Melodie so etwas wie ein Versprechen, ein Hinweis aufden richtigen Weg. Manchmal konnte Musik solch einen Hinweis geben. Oder auchDichtung oder Malerei. Er hatte es schon manches Mal in seinem Leben gespürt:wenn er ein Buch las und ihm plötzlich etwas über ihn selbst bewußt wurde, erneue Werte fand oder etwas begriff, was er schon immer in sich selbst gefühlthatte, ohne es benennen zu können. Doch so stark wie heute hatte er es noch nieempfunden.
Das Fagott schweigt. Plötzlich. Heinrich horcht auf, hält inne, wartet, vermißtden Klang; bestimmt macht der Mann nur eine kurze Pause, setzt gleich wiederein. Doch ein Atemzug vergeht.
© Limes Verlag
Autoren-Porträtvon Udo Jürgens
Udo Jürgens-Bockelmann, geb. am 30.9.1934 in Klagenfurt,Komponist, Interpret, Musiker und Entertainer. Mit diesem Buch macht er sichauf die Suche nach seinen Wurzeln und erzählt die Geschichte seiner Familie,die ihm von Kindesbeinen an zum wichtigen und prägenden Lebensthema wurde -eine literarische Spurensuche in diesem politisch aufgewühlten Jahrhundertzwischen Monarchie, Kommunismus, Faschismus und Demokratie, zwischen Glanz undElend, Krieg und Frieden.
Interview mit Udo Jürgens
Bekannt ist Udo Jürgens-Bockelmann als Sänger, Entertainerund Komponist spätestens seit seinem Grand-Prix-Sieg mit „MercieCherie“ 1966 für Österreich. Mittlerweile ist er 70 Jahre altund seine Karriere dauert nun schon fast 40 Jahre an. Vor kurzemveröffentlichte Jürgens sein drittes Buch und erzählt darin diefaszinierende Geschichte seiner Familie – angefangen 1891 bei seinemGroßvater Heinrich Bockelmann.
Was ist so außergewöhnlich an IhrerFamiliengeschichte, dass Sie sie - gleich Thomas Mann - in einem Romanverewigen wollten?
Für seine Familiengeschichte kann man als einzelnerja nicht viel. Da wird man hineingeboren. Das ist entweder eine faszinierende,eine langweilige, oder eine durchschnittliche Geschichte. In meinem Fall, unddas ist ein Zufall, ist es eine absolut faszinierende Geschichte. Sie fasst dasLeben in den zwei Ländern Deutschland und Russland, zwei Weltkriege undviele andere wichtige historische Ereignisse über hundert Jahre in einemunheimlichen Kaleidoskop zusammen. Das war auch der Grund, weshalb ich dieseFamiliengeschichte schreiben wollte.
Warumhaben Sie keine typische Autobiographie geschrieben, sondern die Romanformgewählt?
Weil mir eine Dokumentation langweilig erscheint und weileine so lebendige Geschichte wie diese so erzählt werden sollte, dass derLeser sich zeitweise wirklich dabei wähnt. Das ist eben nur in derRomanform möglich. Eine Dokumentation ist vielleicht eher fürgroße Wissenschaftler und Politiker angebracht. Für andere Leute,die aus der Wirtschaft oder Kunst kommen, ist, so finde ich, die Romanformansprechender.
Man hat am Anfang sicherlich da und dort Angst gehabt. Aufder anderen Seite hat man mir immer wieder gesagt, es ist höchste Zeit,dass man diese unglaubliche Geschichte unserer Familie schon alleine fürdie Familie festhält. Man war zuerst schon etwas geteilter Meinung. Einerseitserfreut, andererseits hat man mit Skepsis der Veröffentlichungentgegengeblickt, weil man dachte, es werde irgendwie schmutzige Wäschegewaschen. So was ist natürlich überhaupt nicht der Fall und heuteist die ganze Familie in höchstem Masse dankbar und begeistert.Natürlich gab es auch bei uns kleine Streitereien, wie in jeder Familie,aber das war für mich nicht von Interesse. Im Fokus standen diegroßen Strömungen, die politisch zwischen diesen beiden beteiligtenLändern erfolgt sind, von denen die ganze Familie betroffen war.
DasMotiv des Mannes mit dem Fagott zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch.Inwiefern hat die Begegnung Ihres Großvaters mit diesem Mann das Lebender gesamten Familie Bockelmann geprägt?
Ich sitze jetzt in meinem Haus und hinter mir steht aufeinem kleinen Sockel das Original des Mannes mit dem Fagott, das heute inmeinem Besitz ist. Die Geschichte dieses Mannes ist im Detail nicht mehrbekannt. Es sind nur ganz wenige Fakten durch Erzählungen meinesGroßvaters und meines Vaters überliefert. Inwieweit die nochgestimmt haben, oder sich schon im Bereich der Legendenbildung bewegten, wissenwir alle nicht. Er soll ein russischer Lehrer gewesen sein, der in Bremen Endedes 19. Jahrhunderts Kunstgeschichte unterrichtet hat. Die Geschichte wird imBuch so erzählt, dass er darin die einzige richtige Romanfigur ist. Dakonnte ich meine Fantasie sprühen lassen. Ich habe mir vorgestellt, wiekönnte das Leben dieses Mannes und die Begegnung mit der Familie gewesensein? Seine wahre Geschichte ist genauso wie sein Name unbekannt. Ich habe dasvon etlichen großen Vorbildern der Literatur gelernt, die Metaphernerfunden haben, die eigentlich mit der Handlung gar nicht so viel zu tun haben,aber den Handlungsfaden zusammenhalten und dadurch auch verständlichermachen.
Was hatsich durch die Recherche für das Buch in Ihrem Leben verändert? HabenSie etwas gelernt und für sich selbst mitgenommen?
Ich würde nicht sagen, dass es mein Lebenverändert hat. Aber es hat insbesondere mein Selbstbewusstseingeprägt. Sich so intensiv auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit zumachen, bringt gewaltige Erfahrungen. Da gibt’s Momente, wo einem dieTränen in den Augen stehen, wenn man die uralten Briefe liest, die die Elternsich als junge Menschen mal geschrieben haben. Wir haben noch unendlich vielesolcher Dinge gefunden. Das zu lesen und mich auf diese Spuren zu begeben, hatdem ganzen Unterfangen eine große Bedeutung gegeben und hat mich sehrtief berührt.
IhrGroßvater war zur Zeit des Zaren Bankier in Moskau, Ihr OnkelOberbürgermeister in Frankfurt, Sie selbst haben Karriere als Musikergemacht. Eine so prominente und erfolgreiche Familie zu haben, war das in IhremLeben manchmal auch eine Belastung? Standen Sie jemals deswegen unterErfolgsdruck? Wie gehen Ihre Kinder mit diesem Erbe um?
Natürlich stand ich unter Erfolgsdruck. Auch schon injungen Jahren wollte ich’s denjenigen in der Familie, die nie an michgeglaubt haben, erst recht zeigen. Das ist ja logisch, dass man den Beweiserbringen will, dass man diesen schwierigen Weg bewältigen kann. Dann gabes die Vorbilder in der Familie, die natürlich auf die ganze Generationvon mir und auf die, die danach kam, unbewusst einen gewissen Druckausgeübt haben. Was mein Großvater in Moskau als Bankier geschaffthat, ist allen bekannt. Da ist es verständlich, dass keiner als Versagerdastehen möchte. Ich kann das aber insofern relativieren und ich habe auchkeine Scheu es auszusprechen. Wir sind eine große Familie, wie andereFamilien auch. Da gibt es große Persönlichkeiten und Gewinner, aberauch Verlierer, die zum Teil von uns allen mitgetragen werden müssen. Dashält einen irgendwie am Boden. Im Grunde genommen ist das ja auch ganznormal, denn innerhalb jeder Familie gibt’s eine sozialeVerantwortung. Nur hat jeder eineandere Art, damit umzugehen. Für meine Kinder war es sicherlich nichtleicht, in ähnliche künstlerische Berufe hineinzugehen wie der Vater.Vor allem, weil der Vater diesen bekannten Namen hatte. Wir haben dieslängst in vielen Gesprächen auf einen harmonischen Weg gebracht.Heute haben die Kinder damit überhaupt keine Probleme mehr.Die Fragen stellte Henriette Brockmann / lorenzspringer medien
- Autoren: Udo Jürgens , Michaela Moritz
- 2006, 704 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Limes
- ISBN-10: 3809024821
- ISBN-13: 9783809024828
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