Der Ruf der Sirene
Roman. Deutsche Erstausgabe
Verführung, Magie und Gefahr
Mit seiner magischen Stimme könnte der Wassermann M'Cal Wunderbares erschaffen, doch er unterliegt dem Bann einer Hexe und verbreitet auf ihren Befehl hin Unheil und Verderben. Als er die Seele der schönen und...
Mit seiner magischen Stimme könnte der Wassermann M'Cal Wunderbares erschaffen, doch er unterliegt dem Bann einer Hexe und verbreitet auf ihren Befehl hin Unheil und Verderben. Als er die Seele der schönen und...
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Produktinformationen zu „Der Ruf der Sirene “
Verführung, Magie und Gefahr
Mit seiner magischen Stimme könnte der Wassermann M'Cal Wunderbares erschaffen, doch er unterliegt dem Bann einer Hexe und verbreitet auf ihren Befehl hin Unheil und Verderben. Als er die Seele der schönen und hochbegabten Geigerin Kitala stehlen soll, gerät der erbarmungslose Fiesling selbst in Gefahr, denn anstatt Kitalas Leben zu nehmen, verliebt er sich in sie. Und sein Verrat entfacht nicht nur den Zorn seiner Herrin, sondern könnte ihn mehr als nur sein Leben kosten ...
Mit seiner magischen Stimme könnte der Wassermann M'Cal Wunderbares erschaffen, doch er unterliegt dem Bann einer Hexe und verbreitet auf ihren Befehl hin Unheil und Verderben. Als er die Seele der schönen und hochbegabten Geigerin Kitala stehlen soll, gerät der erbarmungslose Fiesling selbst in Gefahr, denn anstatt Kitalas Leben zu nehmen, verliebt er sich in sie. Und sein Verrat entfacht nicht nur den Zorn seiner Herrin, sondern könnte ihn mehr als nur sein Leben kosten ...
Klappentext zu „Der Ruf der Sirene “
Verführung, Magie und GefahrMit seiner magischen Stimme könnte der Wassermann M Cal Wunderbares erschaffen, doch er unterliegt dem Bann einer Hexe und verbreitet auf ihren Befehl hin Unheil und Verderben. Als er die Seele der schönen und hochbegabten Geigerin Kitala stehlen soll, gerät der erbarmungslose Fiesling selbst in Gefahr, denn anstatt Kitalas Leben zu nehmen, verliebt er sich in sie. Und sein Verrat entfacht nicht nur den Zorn seiner Herrin, sondern könnte ihn mehr als nur sein Leben kosten ...
Lese-Probe zu „Der Ruf der Sirene “
IN SICHERHEIT?Ein Schatten bewegte sich. Dutch ließ Kit los. Eine Pistole erschien in seiner Hand. Sie trat einen Schritt zurück, er aber machte keinerlei Anstalten, nach ihr zu greifen. Keiner der Männer versuchte es. Sie starrten in die Dunkelheit, während ihre Hände zu den Waffen unter ihren Hemden glitten. Kit trat einen weiteren Schritt zurück, und dann noch einen. Aber sie rannte nicht. Sie konnte es einfach nicht. Sie hörte Musik. Irgendjemand sang.
Ein Mann löste sich von dem Container. Kit sah sein Gesicht nicht, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Sie lauschte seiner Stimme: Es war, als würde sie in einer rauen See voll von stillem Donner Mozart hören - die Finsternis als Lied. Sie wollte mit ihrer Geige gegen diesen klagenden Gesang anspielen und sich dann vielleicht hinlegen und sterben. Denn wenn dies hier endete, nachdem dies vorbei war, wäre nichts mehr so wie vorher. Nichts würde mehr eine Rolle spielen. Kit fühlte sich vernichtet, so als hörte sie, wie ihr Herz brach, während sie sich verliebte, beides zur selben Zeit; ein Gefühl, so unmöglich, so furchtbar und wunderbar zugleich, dass sie schreien und weinen wollte.
Sie sagte, ihr Name sei Elsie, und dass sie eine Pistole in ihrem Auto habe.
Ein albernes Geständnis, weder als Schuldbekenntnis noch aus Angeberei gemacht. Nur die Wahrheit, ausgesprochen von einer Frau, die viel zu ängstlich für irgendwelche Tricks war. M'cal konnte ihre Furcht während der kurzen Verhandlung über Preis und Dauer in jedem Wort spüren. Er wusste, ohne einen Grund dafür nennen zu können, dass es ihre erste Begegnung mit der Art von Mann war, für den sie ihn hielt. Ein Prostituierter, ein Fremder von der Straße. Und auch wenn ihr seine Dienste wichtiger waren als ihre Sicherheit - M'cal wirkte groß und stark und hätte sie mit den bloßen Händen verletzen können.
M'cal war das alles aber völlig gleichgültig. Seine Kraft einzusetzen würde einfach sein, falls es dazu käme. Er vermutete allerdings, dass es
... mehr
nicht dazu kommen würde. Eingezwängt saß er auf dem engen Beifahrersitz von Elsies kleinem rotem Jetta, seine Beine verkrampft, eine Schulter gegen die regennasse Seitenscheibe gepresst. Er war einfach zu groß für dieses Auto. Er musste sich verbiegen, um sie nicht zu berühren, auch nicht aus Versehen. M'cal wollte sie nämlich nicht berühren. Sogar auf gar keinen Fall. So lange nicht, bis er es würde tun müssen.
Er erwartete, dass Elsie mit ihm sprechen werde. Die meisten Frauen in ihrer Situation taten dies. Er hatte sich an die Aufmerksamkeit gewöhnt, die seine Position als Objekt der Begierde mit sich brachte. Er hatte auch gelernt, es als eine weitere Bestrafung zu akzeptieren, die er ertragen musste. Aber Elsie sagte überhaupt nichts, und ihr Schweigen kam M'cal sehr merkwürdig vor.
Er blickte zur Seite, sah ihr sanftes Gesicht und ihren vollen Mund, unregelmäßig beleuchtet durch die vorbeigleitenden Straßenlaternen. Hübsch, stämmig, blass. Das war keine Frau, die für Sex bezahlen musste. Sie gehörte nicht zu der Art von Frauen, die für Sex bezahlen wollten.
Und sie war auch keine Frau, die jung sterben wollte.
M'cals Handgelenk schmerzte. Er bewegte das silberne Armband, das auf seiner Haut scheuerte. Das Metall war warm, ein leichtes Prickeln strahlte von seinen Fingern bis in seine Knochen aus. Es wurde noch schlimmer, als er die erhabene Gravierung berührte.
Elsie machte ein leises Geräusch; es klang atemloser als ein Schluckauf, schien aber genauso unfreiwillig zu sein. Schnell schloss sie ihren Mund wieder, sah M'cal an und sagte: "Ich habe gar nicht nach deinem Namen gefragt."
"Nein", antwortete er ruhig. "Die meisten tun das nicht."
Sie wandte ihren Blick wieder von ihm ab, zurück auf die Straße. "Wie heißt du?"
M'cal zögerte. "Michael."
"Michael", wiederholte sie, ihre Stimme zitterte vor Furcht. "Wie lange machst du das schon?"
Lange genug, dachte er.
Elsie fuhr die Georgia Street hinunter. Coal Harbor lag auf der rechten Seite, die Küstenlinie war mit hohen Wohntürmen vollgestopft. M'cal starrte zwischen den Gebäuden hindurch und bekam dabei flüchtige Eindrücke von der glänzenden Skyline von Vancouver City am anderen Ufer hinter dem kabbeligen Wasser. Eine nasse und windige Nacht. Schlechte Sicht.
"Etwas länger als ein Jahr", log er und starrte aufs Wasser hinaus.
Elsies Finger zeichneten sich weiß auf dem Lenkrad ab. "Du bist älter als die anderen Jungs. Deshalb habe ich dich ausgewählt."
M'cal sah nach wie vor auf das Wasser. "Die meisten Jungs in der Gegend sind unter zwanzig. Der Jüngste ist dreizehn."
Elsie sagte nichts. Das Auto wurde nicht langsamer. Die Georgia Street machte eine Biegung nach rechts, schwenkte in Richtung Stanley Park hinüber. Sie passierten das lange Dock und anschließend das im Tudorstil erbaute Gebäude des Vancouver Ruderklubs. Zwischen der Straße und der Küstenbefestigung aus rohen Steinen konnte er späte Jogger und Radfahrer beobachten, die auf dem gepflasterten Fußweg unerschrocken dem Regen trotzten. Hinter ihnen, jenseits des Hafens, war die ganze Ausdehnung des Stadtzentrums zu sehen. Sie schwebte wie ein Kleinod aus Neon am Rand des Wassers, ihr Licht spiegelte sich in den Wellen.
Elsie fuhr an dem ersten Parkplatz vorbei und bog dann auf den zweiten ein. Acht Totempfähle bildeten die Grenze zu einer landschaftlich gestalteten Gartenanlage, die in der abendlichen Dunkelheit nur aus Schatten bestand. Es war zehn Uhr abends - und der Parkplatz fast leer. M'cal sah einige beschlagene Autoscheiben.
Elsie parkte das Fahrzeug in der einsamsten Ecke, nahe den Totems. M'cal saß ruhig da, wartete, starrte aufs Wasser hinaus. Der Motor erstarb. Regen prasselte auf die Windschutzscheibe.
"Ich weiß nicht, ob ich das hier tun kann", sagte Elsie.
"In Ordnung", entgegnete M'cal, obwohl ihre Gefühle nichts ändern würden. Elsie ließ das Lenkrad los und starrte ihn an. Er starrte zurück. Sie konnte seinem Blick nicht standhalten und schüttelte sich das lange Haar aus dem Gesicht.
"Es tut mir leid", murmelte sie und fragte dann etwas leiser: "Warum machst du machst du das?"
Ja, warum machst du es eigentlich?, fragte sich auch M'cal selbst, schwieg jedoch.
Er wollte diese Frau nicht kennenlernen. Er wollte auch nicht ihr Freund sein. Er wollte gar nicht verstehen, welche Art von Schmerz jemanden wie sie dazu gebracht hatte, Leib und Leben zu riskieren, indem sie einen Fremden von der Straße auflas und für Sex bezahlte. Das war doch ein Todeswunsch, eine Art Selbstmord; nur langsamer und viel bitterer.
"Michael?", flüsterte Elsie zögernd. M'cal schloss die Augen. Das Armband brannte auf seinem Handgelenk, und das Gefühl wanderte seinen Arm hinauf bis zu seiner Kehle - und weckte das Monster. M'cal fühlte eine Welle von Hass gegen sich selbst, so abgrundtief, dass er fast daran erstickt wäre. Er versuchte sein Herz mit Erinnerungen an sein altes Leben zu füllen und kämpfte mit ganzer Kraft, um den Zwang, den er schon in seinem Mund aufsteigen fühlte, doch noch herunterzuschlucken. Er hörte eine Frau lachen, irgendwo weit entfernt in seiner Erinnerung, hoch und voller Heiterkeit. Und er musste einen Schrei verschlucken.
Lauf, Elsie, dachte er und presste seinen Kopf gegen das kalte Fenster. Lauf weg. Bitte.
Aber sie war keine Gedankenleserin. Er hörte, wie sie sich bewegte, hörte das Rascheln von Kleidern. Er hielt den Atem an. Einen Augenblick später berührte ihn Elsie an der Schulter, und obwohl es nur eine leichte Berührung ihrer Fingerspitzen war, fühlte es sich für M'cal wie ein Pistolenschuss an, direkt ins Herz. Wie ein Schlag mit einer menschlichen Faust. Schmerz. Viel Schmerz. Gefolgt von dem entsetzlichen Zwang, den Mund weit zu öffnen und harte und raue Atemzüge zu machen.
Elsie atmete hörbar ein. M'cal umfasste ihr Handgelenk. Seine Hand brannte, aber er ließ nicht locker, konnte nicht loslassen, obwohl er es versuchte. Er starrte in ihre erschrockenen Augen, in ihre dunklen und verängstigten Augen, und lehnte sich so weit vor, dass er den schwach wahrnehmbaren Schatten ihrer Seele am Rand ihrer Lippen erkennen konnte.
Und dann nahm er diese Seele - dazu brauchte er nur ein Lied.
Wenn ein Messer in der Nähe gewesen wäre, hätte er sich anschließend am liebsten die Hand abgetrennt. Wieder einmal. Ein rascher Schnitt am Handgelenk, direkt oberhalb des Armbandes. Sinnlos, der trotzige Wunsch eines Verlorenen - letztlich aber alles, was ihm blieb.
Stattdessen saß M'cal da, hielt Elsie in seinen Armen und litt durch den Schmerz ihrer Berührung. Denn er verstand es jetzt, auch wenn er wünschte, dass es nicht so wäre. Er nahm in ihrem Kopf die Jahre des Missbrauchs wahr. Ein verschwendetes Leben. Unerfüllt. Nichts, wovon man träumen würde. Und nun, nach einem so kurzen Leben, das Verlangen nach mehr, danach, wieder etwas zu fühlen. Eine Frau zu sein, wild, begehrenswert und frei. Frei auch dazu, sich selbst zu hassen. Frei, sich in Extreme zu stürzen. Alles oder nichts. Leben oder Tod.
Sie suchte auf der Straße danach. An einer regennassen Straßenecke voller Männer und Jungen. Eine Wahl. Der Start zu einem neuen Selbst, weg vom Pfad der Sicherheit und hin zu der Haltung, die rief: Zum Teufel damit! Freiheit für Erniedrigung.
M'cal hätte sich sehr gewünscht, dass Elsie eine andere Wahl getroffen hätte.
Sie sprach kein Wort, sondern saß nur an ihn gelehnt im Auto, sehr still, und starrte durch die Windschutzscheibe auf den Hafen hinaus. Ihr Gesicht war schlaff, ihre Augen wirkten dunkel und leer. All ihre Lebendigkeit war fort, dahingeflossen in einem Hauch, übrig blieb nur eine leere Hülle, die nichts mehr von der Welt erwartete. Ihr übelster Albtraum war Wahrheit geworden.
"Geh nach Hause", murmelte M'cal. Er schob sie vorsichtig von sich weg. "Geh nach Hause und vergiss mich. Vergiss diese Nacht."
Elsie drehte den Zündschlüssel, um den Motor zu starten. M'cal stieg aus dem Wagen. Die kühle Luft und der feine Regen fühlten sich auf seinem Gesicht gut an. Er entfernte sich, ging über den Parkplatz in Richtung des Wassers. Er sah nicht zurück, obwohl er kurz ins Scheinwerferlicht getaucht war, als der Jetta in Richtung der gewundenen Straße davonbrummte.
In seinem Inneren konnte er fühlen, dass Elsie weinte.
M'cal überquerte den nassen Grasstreifen und dann den Fußgängerweg und stieg schließlich auf die Kaimauer. Er sah sich um und stellte fest, dass er vollkommen allein war. Unter ihm hatte das Hochwasser das Ufer erreicht, und das Geräusch der Wellen, die gegen die Kaimauer schlugen, war voll von Geflüster, voll von alten Rätseln und Träumen. Es waren seine eigenen Träume, so weit entrückt sie inzwischen auch sein mochten. M'cal konnte unterhalb der seichten Wellen Steine fühlen, scharf und gefährlich. Er kickte seine Schuhe weg und stand einen Moment lang nur da; seine Zehen fühlten den Stein, und er starrte auf die Stadt, die sich im Wasser spiegelte.
M'cal sprang. Kopfüber, in einem gigantischen Bogen, der ihn einen Moment lang nahezu parallel zur kabbeligen Wasseroberfläche fliegen ließ. Er schoss dann durch die Wellen, glitt in eine sanfte kühle Stelle knapp über den zackigen Felsen. Das war ein atemloser Aufprall gewesen, gefolgt von einem kurzen heftigen Gefühl der Freude. Für einen flüchtigen Moment kam es ihm so vor, als wäre alles genauso wie vor langer, langer Zeit. Er konnte es sich fast vorstellen.
Aber dann brannte das Armband, und mit ihm das Wasser - und die Vorstellung, etwas zu sein, was er schon längst nicht mehr war, schien vergangen. Er schwamm mit langen, gleichmäßigen Zügen in tieferes Wasser, riss sich das Seidenhemd herunter und zog auch die Jeans aus. Er sank wie ein Pfeil, die Zehen gestreckt, die Arme vor der Brust gekreuzt; endlich erlaubte er seinem Körper die dringend nötige Verwandlung.
M'cal verlor seine Beine. Seine Schenkel verschmolzen, dann seine Knie und Waden, seine Füße verwandelten sich in einen dünnen Fächer metallisch glänzenden Fleisches, lang, flach und geschuppt. Feine silberne Bänder kräuselten sich von den Hüften bis zur Schwanzflosse, und an seinem Genick gab es ebenfalls eine Veränderung: In der Haut bildeten sich tiefe Schlitze.
Er hielt die Luft nicht länger an. Blasen sprudelten aus seiner Kehle. Er schmeckte Metall, Chemikalien, die Abfälle der Menschheit, versenkt im Meer. Die verschiedenen Gerüche ließen ihn erschaudern, doch er atmete trotzdem weiter ein, mit langen und tiefen Zügen, und er genoss und verabscheute diese Flüssigkeit, die ihn durchflutete, gleichermaßen. Das Meer brannte. Salzwasser brannte in seinen Lungen, in seinen Augen und Nasenlöchern, fühlte sich wie Nadelstiche an den Schwimmhäuten zwischen seinen Fingern an, an seinem Unterleib und an den Schuppen seines Schwanzes. Am übelsten von allem brannte das Armband. Nicht, dass M'cal eine Ermahnung gebraucht hätte.
Er zwang seinen Instinkt, an die Oberfläche zu kommen, und tauchte tiefer in den Hafen hinab, empfand auch ein wenig Vergnügen bei einer der seltenen Möglichkeiten, etwas aus freiem Willen zu tun: Er reinigte seine Seele im Feuer des Ozeans, rüttelte an den Gitterstäben seines Gefängnisses. Er war er selbst, wenn auch nur für kurze Zeit.
Stimmen wirbelten um ihn herum: das sanfte Gemurmel der Fische. Sie waren weit entfernt, nur ein goldenes Summen, getragen von der Strömung, nur eine Ahnung, die M'cal mit seinem Geist wahrnahm. Diese Musik verschwand und wurde von einer sanften Schwingung abgelöst, die über seine Haut glitt und sich mit dem Brennen des Meeres vermischte. Er nahm eine Bewegung zu seiner Linken wahr, einen geschmeidigen Körper. M'cal folgte diesem, sein Herz klopfte, und er sah in einen klaren Blick hinein, dunkel und traurig. Bruder Seehund, kleiner Spion. Die Kreatur verschwand wieder flink in den Schatten des tieferen Wassers. M'cal wollte ihn schon zurückrufen, aber sein Mund blieb geschlossen.
Nur ansehen, nicht berühren, erinnerte er sich. Sehen, aber nicht sprechen.
Das Armband pochte. Er hatte sich zu weit entfernt. Er versuchte dagegen anzukämpfen, aber nach einer kurzen Anstrengung verspannten sich seine Muskeln, und er war gezwungen, in die Richtung des Hafens zurückzuschwimmen. Er war eine Marionette, von unsichtbaren Fäden gezogen.
M'cal schwamm schnell. Er hatte ja keine Wahl. Als er sich der Küste näherte, hörte er das Dröhnen der Stadt im Geräusch des Wassers: ein spürbares Zittern durch Felsen und Erde hindurch, das Knarzen von Stahl und Glas, und dann Tausende von Körpern, die sich bewegten, sich um sich drehten oder umherwanderten. Es war ein Irrgarten von Geräuschen, und über ihm befand sich ein weiteres Labyrinth, als er zwischen den Booten hindurchschwamm, die an den kreuz und quer verlaufenden Kais festgemacht waren.
Sein Körper kannte den Weg, wurde durch das Armband gezwungen; das Boot hatte sich seit dem Morgen an eine andere Stelle bewegt. Das war ein Vorgang der letzten Zeit, der sich regelmäßig wiederholte: alte Gewohnheiten aufgeben, sich am gleichen Platz niemals zweimal aufhalten. M'cal hätte solche Aktionen auch als Anzeichen von Paranoia werten können, wäre er zuversichtlich genug gewesen. Trotzdem war es sonderbar.
Endlich fand M'cal das Boot oder genauer gesagt: Das Boot fand ihn. Er streckte den Kopf aus dem Wasser und starrte die lange weiße Motoryacht an, die wie eine glänzende schnittige Burg aus Perlmutt aussah. Kein einziges Licht brannte darauf. Das Boot lag ruhig da und verbreitete den Eindruck von Leere. M'cal konnte dies jedoch nicht täuschen.
Er schwamm näher heran, und erst im letzten Moment verwandelte er seinen Körper; nur widerwillig nahm er wieder menschliche Gestalt an. Sein Schwanz teilte sich, die Rückenflosse schwand, die Füße zuckten kurz, die Kiemen verloren sich im Fleisch. Aber das Meer brannte weiter, Elsie weinte noch immer. Und er hatte nichts, gar nichts aufzuweisen, außer dass er noch am Leben war und sein Herz nach wie vor kämpfte.
M'cal zog sich aus dem Wasser, nackt und tropfend und sehr stark. Er kletterte die kurze Leiter am Heck hinauf, doch als er das Deck erreichte, gaben seine Beine nach, als hätte sie jemand auf Kommando unter ihm weggeschlagen. Er fiel hart auf die Knie, versuchte dann vergeblich aufzustehen. Er war gezwungen, auf allen vieren zu bleiben, den Kopf gebeugt, mit zitternden Muskeln. Er hörte das Klacken von High Heels, roch Parfüm: weiße Lilien, weiße Rosen, weißer Flieder. Der Duft brannte in seinen Nasenlöchern.
"Oh", säuselte eine leise Stimme. "Oh, der gefallene Gigant. Mein Mann des Meeres."
M'cal schwieg. Elfenbeinfarbene Stilettos klackerten in sein Sichtfeld hinein. Schlanke Knöchel, zart und glatt. Er schloss die Augen - und eine kalte Hand fuhr durch seine Haare, die Nägel bohrten sich in seine Kopfhaut. Das Meerwasser, das von seinem Körper tropfte, brannte noch immer.
Und dann gab es nur noch Luft neben ihm, nichts, woran er sich festhalten konnte, und er fiel zur Seite, schlug hart auf dem Rücken auf. Der Nachthimmel drehte sich vor seinen Augen, Regen tropfte ihm auf den Körper. Und über ihm stand eine Frau, in weiße Seide gekleidet, mit langem glattem Haar, leuchtend wie flüssiges Silber. Er konnte nichts anderes mehr ansehen, nur noch sie.
Die Hexe stand oberhalb seines Brustkorbs. Ihr Kleid war sehr kurz, zeigte lange Beine, keine Unterwäsche. M'cal hätte sich am liebsten übergeben.
"Du hast etwas für mich", murmelte sie und sank dabei langsam auf die Knie. Ihre Schenkel pressten sich gegen seine Rippen, die Berührung ihrer Haut nahm ihm den Schmerz, den das allmählich wegtrocknende Meerwasser verursachte. M'cal wünschte, dass es nicht so wäre. Lieber würde er Schmerzen verspüren als diese Gefühle. Er versuchte sich zu bewegen und sie abzuwerfen. Doch sein Körper weigerte sich. Wie üblich.
Die Hexe lächelte, ihre langen Finger tanzten über seine Brust und seinen Hals. Sie beugte sich vor, um seinen Mundwinkel zu küssen, und er fühlte, wie ihre Macht an Elsies Seele zerrte.
"Mein Prinz", flüsterte die Hexe. "Gib mir deine Stimme."
M'cal sprach nicht. Die Hexe griff zwischen ihre Körper, berührte seinen Bauch und streichelte ihn mit geschickten Bewegungen. M'cal wollte nicht darauf reagieren, aber in ihren Fingern war Magie, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Selbstkontrolle versagte. Sein Geschlecht wurde in nur wenigen Augenblicken ganz hart, sein menschlicher Körper war ein Verräter, und die Hexe glitt mit einem Seufzer auf seinen Schaft.
"Deine Stimme", wiederholte sie und bewegte sich dabei auf ihm hin und her. "Gib mir deine Stimme, und ich werde aufhören." Ein listiges Lächeln umspielte ihren Mund. "Es sei denn, du möchtest, dass ich bis zum Ende weitermache. Es sei denn, du willst mich."
M'cal versuchte, zur Seite zu sehen, aber die Hexe hielt seinen Blick fest und bewegte sich noch heftiger auf ihm, weckte eine schreckliche Lust in seinem Körper. Widersprüchliche Empfindungen zerrten an ihm. Widerlich, erregend: Sein Trotz war wie eine Niederlage, der übliche Ablauf ihres Tanzes. Ihn sanft umzubringen, ihm eine unmögliche Wahl anzubieten, wo sie doch nur zu befehlen brauchte, wenn sie etwas haben wollte.
Aber die Hexe überraschte ihn. Sie stellte ihre Bewegungen ein, gab ihr Vergnügen und seine Erniedrigung auf, um ihn lange und schweigend anzustarren, nachdenklicher als er sie jemals gesehen hatte. Es beunruhigte ihn - ein Kunststück, wenn man die hoffnungslosen Umstände in Betracht zog.
M'cal erwiderte ihren Blick, betrachtete ihr makelloses Gesicht, die kristallklare Vollendung ihrer Augen, kalt wie zwei blaue Kugeln arktischen Eises. Er versuchte, sich daran zu erinnern, warum er sie geliebt hatte, vor so langer Zeit, und kam zu dem Schluss, dass es allein wegen ihrer Schönheit gewesen sein musste. Er konnte sich dessen nicht mehr richtig entsinnen. Er wollte es auch nicht.
Hinter der Hexe walzte gerade ein Schatten heran: ein grauer Hüne mit einem fetten bleichen Gesicht und großen roten Flecken auf den Wangen; silberne Augen wie Haifischzähne und dazu ein spitzer Mund. Der Hüne betrachtete M'cal genauso sorgfältig wie die Hexe. Er leckte sich einmal über die Lippen.
Die Hexe lehnte sich vor, silbernes Haar quoll über M'cals Gesicht. Er versuchte seinen Kopf zu bewegen. Keine Chance. Er konnte nichts tun, außer zu beobachten. Seine Augen schloss er nicht.
Die Hexe küsste ihn. In seinem Kopf schrie Elsie. M'cal schrie mit ihr, lautlos, und wollte die gestohlene Seele der Frau mit seiner ganzen Kraft festhalten.
Er erwartete, dass Elsie mit ihm sprechen werde. Die meisten Frauen in ihrer Situation taten dies. Er hatte sich an die Aufmerksamkeit gewöhnt, die seine Position als Objekt der Begierde mit sich brachte. Er hatte auch gelernt, es als eine weitere Bestrafung zu akzeptieren, die er ertragen musste. Aber Elsie sagte überhaupt nichts, und ihr Schweigen kam M'cal sehr merkwürdig vor.
Er blickte zur Seite, sah ihr sanftes Gesicht und ihren vollen Mund, unregelmäßig beleuchtet durch die vorbeigleitenden Straßenlaternen. Hübsch, stämmig, blass. Das war keine Frau, die für Sex bezahlen musste. Sie gehörte nicht zu der Art von Frauen, die für Sex bezahlen wollten.
Und sie war auch keine Frau, die jung sterben wollte.
M'cals Handgelenk schmerzte. Er bewegte das silberne Armband, das auf seiner Haut scheuerte. Das Metall war warm, ein leichtes Prickeln strahlte von seinen Fingern bis in seine Knochen aus. Es wurde noch schlimmer, als er die erhabene Gravierung berührte.
Elsie machte ein leises Geräusch; es klang atemloser als ein Schluckauf, schien aber genauso unfreiwillig zu sein. Schnell schloss sie ihren Mund wieder, sah M'cal an und sagte: "Ich habe gar nicht nach deinem Namen gefragt."
"Nein", antwortete er ruhig. "Die meisten tun das nicht."
Sie wandte ihren Blick wieder von ihm ab, zurück auf die Straße. "Wie heißt du?"
M'cal zögerte. "Michael."
"Michael", wiederholte sie, ihre Stimme zitterte vor Furcht. "Wie lange machst du das schon?"
Lange genug, dachte er.
Elsie fuhr die Georgia Street hinunter. Coal Harbor lag auf der rechten Seite, die Küstenlinie war mit hohen Wohntürmen vollgestopft. M'cal starrte zwischen den Gebäuden hindurch und bekam dabei flüchtige Eindrücke von der glänzenden Skyline von Vancouver City am anderen Ufer hinter dem kabbeligen Wasser. Eine nasse und windige Nacht. Schlechte Sicht.
"Etwas länger als ein Jahr", log er und starrte aufs Wasser hinaus.
Elsies Finger zeichneten sich weiß auf dem Lenkrad ab. "Du bist älter als die anderen Jungs. Deshalb habe ich dich ausgewählt."
M'cal sah nach wie vor auf das Wasser. "Die meisten Jungs in der Gegend sind unter zwanzig. Der Jüngste ist dreizehn."
Elsie sagte nichts. Das Auto wurde nicht langsamer. Die Georgia Street machte eine Biegung nach rechts, schwenkte in Richtung Stanley Park hinüber. Sie passierten das lange Dock und anschließend das im Tudorstil erbaute Gebäude des Vancouver Ruderklubs. Zwischen der Straße und der Küstenbefestigung aus rohen Steinen konnte er späte Jogger und Radfahrer beobachten, die auf dem gepflasterten Fußweg unerschrocken dem Regen trotzten. Hinter ihnen, jenseits des Hafens, war die ganze Ausdehnung des Stadtzentrums zu sehen. Sie schwebte wie ein Kleinod aus Neon am Rand des Wassers, ihr Licht spiegelte sich in den Wellen.
Elsie fuhr an dem ersten Parkplatz vorbei und bog dann auf den zweiten ein. Acht Totempfähle bildeten die Grenze zu einer landschaftlich gestalteten Gartenanlage, die in der abendlichen Dunkelheit nur aus Schatten bestand. Es war zehn Uhr abends - und der Parkplatz fast leer. M'cal sah einige beschlagene Autoscheiben.
Elsie parkte das Fahrzeug in der einsamsten Ecke, nahe den Totems. M'cal saß ruhig da, wartete, starrte aufs Wasser hinaus. Der Motor erstarb. Regen prasselte auf die Windschutzscheibe.
"Ich weiß nicht, ob ich das hier tun kann", sagte Elsie.
"In Ordnung", entgegnete M'cal, obwohl ihre Gefühle nichts ändern würden. Elsie ließ das Lenkrad los und starrte ihn an. Er starrte zurück. Sie konnte seinem Blick nicht standhalten und schüttelte sich das lange Haar aus dem Gesicht.
"Es tut mir leid", murmelte sie und fragte dann etwas leiser: "Warum machst du machst du das?"
Ja, warum machst du es eigentlich?, fragte sich auch M'cal selbst, schwieg jedoch.
Er wollte diese Frau nicht kennenlernen. Er wollte auch nicht ihr Freund sein. Er wollte gar nicht verstehen, welche Art von Schmerz jemanden wie sie dazu gebracht hatte, Leib und Leben zu riskieren, indem sie einen Fremden von der Straße auflas und für Sex bezahlte. Das war doch ein Todeswunsch, eine Art Selbstmord; nur langsamer und viel bitterer.
"Michael?", flüsterte Elsie zögernd. M'cal schloss die Augen. Das Armband brannte auf seinem Handgelenk, und das Gefühl wanderte seinen Arm hinauf bis zu seiner Kehle - und weckte das Monster. M'cal fühlte eine Welle von Hass gegen sich selbst, so abgrundtief, dass er fast daran erstickt wäre. Er versuchte sein Herz mit Erinnerungen an sein altes Leben zu füllen und kämpfte mit ganzer Kraft, um den Zwang, den er schon in seinem Mund aufsteigen fühlte, doch noch herunterzuschlucken. Er hörte eine Frau lachen, irgendwo weit entfernt in seiner Erinnerung, hoch und voller Heiterkeit. Und er musste einen Schrei verschlucken.
Lauf, Elsie, dachte er und presste seinen Kopf gegen das kalte Fenster. Lauf weg. Bitte.
Aber sie war keine Gedankenleserin. Er hörte, wie sie sich bewegte, hörte das Rascheln von Kleidern. Er hielt den Atem an. Einen Augenblick später berührte ihn Elsie an der Schulter, und obwohl es nur eine leichte Berührung ihrer Fingerspitzen war, fühlte es sich für M'cal wie ein Pistolenschuss an, direkt ins Herz. Wie ein Schlag mit einer menschlichen Faust. Schmerz. Viel Schmerz. Gefolgt von dem entsetzlichen Zwang, den Mund weit zu öffnen und harte und raue Atemzüge zu machen.
Elsie atmete hörbar ein. M'cal umfasste ihr Handgelenk. Seine Hand brannte, aber er ließ nicht locker, konnte nicht loslassen, obwohl er es versuchte. Er starrte in ihre erschrockenen Augen, in ihre dunklen und verängstigten Augen, und lehnte sich so weit vor, dass er den schwach wahrnehmbaren Schatten ihrer Seele am Rand ihrer Lippen erkennen konnte.
Und dann nahm er diese Seele - dazu brauchte er nur ein Lied.
Wenn ein Messer in der Nähe gewesen wäre, hätte er sich anschließend am liebsten die Hand abgetrennt. Wieder einmal. Ein rascher Schnitt am Handgelenk, direkt oberhalb des Armbandes. Sinnlos, der trotzige Wunsch eines Verlorenen - letztlich aber alles, was ihm blieb.
Stattdessen saß M'cal da, hielt Elsie in seinen Armen und litt durch den Schmerz ihrer Berührung. Denn er verstand es jetzt, auch wenn er wünschte, dass es nicht so wäre. Er nahm in ihrem Kopf die Jahre des Missbrauchs wahr. Ein verschwendetes Leben. Unerfüllt. Nichts, wovon man träumen würde. Und nun, nach einem so kurzen Leben, das Verlangen nach mehr, danach, wieder etwas zu fühlen. Eine Frau zu sein, wild, begehrenswert und frei. Frei auch dazu, sich selbst zu hassen. Frei, sich in Extreme zu stürzen. Alles oder nichts. Leben oder Tod.
Sie suchte auf der Straße danach. An einer regennassen Straßenecke voller Männer und Jungen. Eine Wahl. Der Start zu einem neuen Selbst, weg vom Pfad der Sicherheit und hin zu der Haltung, die rief: Zum Teufel damit! Freiheit für Erniedrigung.
M'cal hätte sich sehr gewünscht, dass Elsie eine andere Wahl getroffen hätte.
Sie sprach kein Wort, sondern saß nur an ihn gelehnt im Auto, sehr still, und starrte durch die Windschutzscheibe auf den Hafen hinaus. Ihr Gesicht war schlaff, ihre Augen wirkten dunkel und leer. All ihre Lebendigkeit war fort, dahingeflossen in einem Hauch, übrig blieb nur eine leere Hülle, die nichts mehr von der Welt erwartete. Ihr übelster Albtraum war Wahrheit geworden.
"Geh nach Hause", murmelte M'cal. Er schob sie vorsichtig von sich weg. "Geh nach Hause und vergiss mich. Vergiss diese Nacht."
Elsie drehte den Zündschlüssel, um den Motor zu starten. M'cal stieg aus dem Wagen. Die kühle Luft und der feine Regen fühlten sich auf seinem Gesicht gut an. Er entfernte sich, ging über den Parkplatz in Richtung des Wassers. Er sah nicht zurück, obwohl er kurz ins Scheinwerferlicht getaucht war, als der Jetta in Richtung der gewundenen Straße davonbrummte.
In seinem Inneren konnte er fühlen, dass Elsie weinte.
M'cal überquerte den nassen Grasstreifen und dann den Fußgängerweg und stieg schließlich auf die Kaimauer. Er sah sich um und stellte fest, dass er vollkommen allein war. Unter ihm hatte das Hochwasser das Ufer erreicht, und das Geräusch der Wellen, die gegen die Kaimauer schlugen, war voll von Geflüster, voll von alten Rätseln und Träumen. Es waren seine eigenen Träume, so weit entrückt sie inzwischen auch sein mochten. M'cal konnte unterhalb der seichten Wellen Steine fühlen, scharf und gefährlich. Er kickte seine Schuhe weg und stand einen Moment lang nur da; seine Zehen fühlten den Stein, und er starrte auf die Stadt, die sich im Wasser spiegelte.
M'cal sprang. Kopfüber, in einem gigantischen Bogen, der ihn einen Moment lang nahezu parallel zur kabbeligen Wasseroberfläche fliegen ließ. Er schoss dann durch die Wellen, glitt in eine sanfte kühle Stelle knapp über den zackigen Felsen. Das war ein atemloser Aufprall gewesen, gefolgt von einem kurzen heftigen Gefühl der Freude. Für einen flüchtigen Moment kam es ihm so vor, als wäre alles genauso wie vor langer, langer Zeit. Er konnte es sich fast vorstellen.
Aber dann brannte das Armband, und mit ihm das Wasser - und die Vorstellung, etwas zu sein, was er schon längst nicht mehr war, schien vergangen. Er schwamm mit langen, gleichmäßigen Zügen in tieferes Wasser, riss sich das Seidenhemd herunter und zog auch die Jeans aus. Er sank wie ein Pfeil, die Zehen gestreckt, die Arme vor der Brust gekreuzt; endlich erlaubte er seinem Körper die dringend nötige Verwandlung.
M'cal verlor seine Beine. Seine Schenkel verschmolzen, dann seine Knie und Waden, seine Füße verwandelten sich in einen dünnen Fächer metallisch glänzenden Fleisches, lang, flach und geschuppt. Feine silberne Bänder kräuselten sich von den Hüften bis zur Schwanzflosse, und an seinem Genick gab es ebenfalls eine Veränderung: In der Haut bildeten sich tiefe Schlitze.
Er hielt die Luft nicht länger an. Blasen sprudelten aus seiner Kehle. Er schmeckte Metall, Chemikalien, die Abfälle der Menschheit, versenkt im Meer. Die verschiedenen Gerüche ließen ihn erschaudern, doch er atmete trotzdem weiter ein, mit langen und tiefen Zügen, und er genoss und verabscheute diese Flüssigkeit, die ihn durchflutete, gleichermaßen. Das Meer brannte. Salzwasser brannte in seinen Lungen, in seinen Augen und Nasenlöchern, fühlte sich wie Nadelstiche an den Schwimmhäuten zwischen seinen Fingern an, an seinem Unterleib und an den Schuppen seines Schwanzes. Am übelsten von allem brannte das Armband. Nicht, dass M'cal eine Ermahnung gebraucht hätte.
Er zwang seinen Instinkt, an die Oberfläche zu kommen, und tauchte tiefer in den Hafen hinab, empfand auch ein wenig Vergnügen bei einer der seltenen Möglichkeiten, etwas aus freiem Willen zu tun: Er reinigte seine Seele im Feuer des Ozeans, rüttelte an den Gitterstäben seines Gefängnisses. Er war er selbst, wenn auch nur für kurze Zeit.
Stimmen wirbelten um ihn herum: das sanfte Gemurmel der Fische. Sie waren weit entfernt, nur ein goldenes Summen, getragen von der Strömung, nur eine Ahnung, die M'cal mit seinem Geist wahrnahm. Diese Musik verschwand und wurde von einer sanften Schwingung abgelöst, die über seine Haut glitt und sich mit dem Brennen des Meeres vermischte. Er nahm eine Bewegung zu seiner Linken wahr, einen geschmeidigen Körper. M'cal folgte diesem, sein Herz klopfte, und er sah in einen klaren Blick hinein, dunkel und traurig. Bruder Seehund, kleiner Spion. Die Kreatur verschwand wieder flink in den Schatten des tieferen Wassers. M'cal wollte ihn schon zurückrufen, aber sein Mund blieb geschlossen.
Nur ansehen, nicht berühren, erinnerte er sich. Sehen, aber nicht sprechen.
Das Armband pochte. Er hatte sich zu weit entfernt. Er versuchte dagegen anzukämpfen, aber nach einer kurzen Anstrengung verspannten sich seine Muskeln, und er war gezwungen, in die Richtung des Hafens zurückzuschwimmen. Er war eine Marionette, von unsichtbaren Fäden gezogen.
M'cal schwamm schnell. Er hatte ja keine Wahl. Als er sich der Küste näherte, hörte er das Dröhnen der Stadt im Geräusch des Wassers: ein spürbares Zittern durch Felsen und Erde hindurch, das Knarzen von Stahl und Glas, und dann Tausende von Körpern, die sich bewegten, sich um sich drehten oder umherwanderten. Es war ein Irrgarten von Geräuschen, und über ihm befand sich ein weiteres Labyrinth, als er zwischen den Booten hindurchschwamm, die an den kreuz und quer verlaufenden Kais festgemacht waren.
Sein Körper kannte den Weg, wurde durch das Armband gezwungen; das Boot hatte sich seit dem Morgen an eine andere Stelle bewegt. Das war ein Vorgang der letzten Zeit, der sich regelmäßig wiederholte: alte Gewohnheiten aufgeben, sich am gleichen Platz niemals zweimal aufhalten. M'cal hätte solche Aktionen auch als Anzeichen von Paranoia werten können, wäre er zuversichtlich genug gewesen. Trotzdem war es sonderbar.
Endlich fand M'cal das Boot oder genauer gesagt: Das Boot fand ihn. Er streckte den Kopf aus dem Wasser und starrte die lange weiße Motoryacht an, die wie eine glänzende schnittige Burg aus Perlmutt aussah. Kein einziges Licht brannte darauf. Das Boot lag ruhig da und verbreitete den Eindruck von Leere. M'cal konnte dies jedoch nicht täuschen.
Er schwamm näher heran, und erst im letzten Moment verwandelte er seinen Körper; nur widerwillig nahm er wieder menschliche Gestalt an. Sein Schwanz teilte sich, die Rückenflosse schwand, die Füße zuckten kurz, die Kiemen verloren sich im Fleisch. Aber das Meer brannte weiter, Elsie weinte noch immer. Und er hatte nichts, gar nichts aufzuweisen, außer dass er noch am Leben war und sein Herz nach wie vor kämpfte.
M'cal zog sich aus dem Wasser, nackt und tropfend und sehr stark. Er kletterte die kurze Leiter am Heck hinauf, doch als er das Deck erreichte, gaben seine Beine nach, als hätte sie jemand auf Kommando unter ihm weggeschlagen. Er fiel hart auf die Knie, versuchte dann vergeblich aufzustehen. Er war gezwungen, auf allen vieren zu bleiben, den Kopf gebeugt, mit zitternden Muskeln. Er hörte das Klacken von High Heels, roch Parfüm: weiße Lilien, weiße Rosen, weißer Flieder. Der Duft brannte in seinen Nasenlöchern.
"Oh", säuselte eine leise Stimme. "Oh, der gefallene Gigant. Mein Mann des Meeres."
M'cal schwieg. Elfenbeinfarbene Stilettos klackerten in sein Sichtfeld hinein. Schlanke Knöchel, zart und glatt. Er schloss die Augen - und eine kalte Hand fuhr durch seine Haare, die Nägel bohrten sich in seine Kopfhaut. Das Meerwasser, das von seinem Körper tropfte, brannte noch immer.
Und dann gab es nur noch Luft neben ihm, nichts, woran er sich festhalten konnte, und er fiel zur Seite, schlug hart auf dem Rücken auf. Der Nachthimmel drehte sich vor seinen Augen, Regen tropfte ihm auf den Körper. Und über ihm stand eine Frau, in weiße Seide gekleidet, mit langem glattem Haar, leuchtend wie flüssiges Silber. Er konnte nichts anderes mehr ansehen, nur noch sie.
Die Hexe stand oberhalb seines Brustkorbs. Ihr Kleid war sehr kurz, zeigte lange Beine, keine Unterwäsche. M'cal hätte sich am liebsten übergeben.
"Du hast etwas für mich", murmelte sie und sank dabei langsam auf die Knie. Ihre Schenkel pressten sich gegen seine Rippen, die Berührung ihrer Haut nahm ihm den Schmerz, den das allmählich wegtrocknende Meerwasser verursachte. M'cal wünschte, dass es nicht so wäre. Lieber würde er Schmerzen verspüren als diese Gefühle. Er versuchte sich zu bewegen und sie abzuwerfen. Doch sein Körper weigerte sich. Wie üblich.
Die Hexe lächelte, ihre langen Finger tanzten über seine Brust und seinen Hals. Sie beugte sich vor, um seinen Mundwinkel zu küssen, und er fühlte, wie ihre Macht an Elsies Seele zerrte.
"Mein Prinz", flüsterte die Hexe. "Gib mir deine Stimme."
M'cal sprach nicht. Die Hexe griff zwischen ihre Körper, berührte seinen Bauch und streichelte ihn mit geschickten Bewegungen. M'cal wollte nicht darauf reagieren, aber in ihren Fingern war Magie, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Selbstkontrolle versagte. Sein Geschlecht wurde in nur wenigen Augenblicken ganz hart, sein menschlicher Körper war ein Verräter, und die Hexe glitt mit einem Seufzer auf seinen Schaft.
"Deine Stimme", wiederholte sie und bewegte sich dabei auf ihm hin und her. "Gib mir deine Stimme, und ich werde aufhören." Ein listiges Lächeln umspielte ihren Mund. "Es sei denn, du möchtest, dass ich bis zum Ende weitermache. Es sei denn, du willst mich."
M'cal versuchte, zur Seite zu sehen, aber die Hexe hielt seinen Blick fest und bewegte sich noch heftiger auf ihm, weckte eine schreckliche Lust in seinem Körper. Widersprüchliche Empfindungen zerrten an ihm. Widerlich, erregend: Sein Trotz war wie eine Niederlage, der übliche Ablauf ihres Tanzes. Ihn sanft umzubringen, ihm eine unmögliche Wahl anzubieten, wo sie doch nur zu befehlen brauchte, wenn sie etwas haben wollte.
Aber die Hexe überraschte ihn. Sie stellte ihre Bewegungen ein, gab ihr Vergnügen und seine Erniedrigung auf, um ihn lange und schweigend anzustarren, nachdenklicher als er sie jemals gesehen hatte. Es beunruhigte ihn - ein Kunststück, wenn man die hoffnungslosen Umstände in Betracht zog.
M'cal erwiderte ihren Blick, betrachtete ihr makelloses Gesicht, die kristallklare Vollendung ihrer Augen, kalt wie zwei blaue Kugeln arktischen Eises. Er versuchte, sich daran zu erinnern, warum er sie geliebt hatte, vor so langer Zeit, und kam zu dem Schluss, dass es allein wegen ihrer Schönheit gewesen sein musste. Er konnte sich dessen nicht mehr richtig entsinnen. Er wollte es auch nicht.
Hinter der Hexe walzte gerade ein Schatten heran: ein grauer Hüne mit einem fetten bleichen Gesicht und großen roten Flecken auf den Wangen; silberne Augen wie Haifischzähne und dazu ein spitzer Mund. Der Hüne betrachtete M'cal genauso sorgfältig wie die Hexe. Er leckte sich einmal über die Lippen.
Die Hexe lehnte sich vor, silbernes Haar quoll über M'cals Gesicht. Er versuchte seinen Kopf zu bewegen. Keine Chance. Er konnte nichts tun, außer zu beobachten. Seine Augen schloss er nicht.
Die Hexe küsste ihn. In seinem Kopf schrie Elsie. M'cal schrie mit ihr, lautlos, und wollte die gestohlene Seele der Frau mit seiner ganzen Kraft festhalten.
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Autoren-Porträt von Marjorie M. Liu
Marjorie M. Liu ist eine außergewöhnlich optimistische junge Frau, die fest daran glaubt, allem im Leben mit einem Lächeln begegnen zu können. In ihrer Freizeit betreibt sie einen Taxiservice für Pudel.Wolfgang Thon lebt als freier Übersetzer in Hamburg. Er hat viele Thriller, u. a. von Brad Meltzer, Joseph Finder und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marjorie M. Liu
- 2011, 414 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Thon, Wolfgang
- Übersetzer: Wolfgang Thon
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442375320
- ISBN-13: 9783442375325
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