Der Seidenfächer
Fremd, exotisch, geheimnisvoll - Lisa See entführt Sie mit ihrem Roman ins China des 19. Jahrhunderts und schildert darin eine über 500 Jahre alte Kunst, mit der sich die Frauen dort ein Stück Freiheit schaffen...
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Fremd, exotisch, geheimnisvoll - Lisa See entführt Sie mit ihrem Roman ins China des 19. Jahrhunderts und schildert darin eine über 500 Jahre alte Kunst, mit der sich die Frauen dort ein Stück Freiheit schaffen konnten.
Lilie und Schneerose wachsen in einer Welt auf, in der Mädchen als Last gelten. Mit der schmerzhaften Prozedur des Füßebindens will man ihnen auch das Herz fesseln. Beide werden mit 17 verheiratet, Lilie soll vor allem mit einer arrangierten Ehe ihrer Familie den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen. Dank ihrer geheimen Fächersprache "Nushu" können die beiden Mädchen offen über ihre Sorgen und Träume reden. Denn die Sehnsucht nach Liebe, Freiheit und Glück kann ihnen niemand nehmen.
''Der Seidenfächer ist ein geradezu schmerzhaft schönes Buch, ein wundervoller Einblick in eine geheime Welt, die noch bis vor kurzem genau so in China existierte.''
Amy Tan
DerSeidenfächer von Lisa See
LESEPROBE
Stillsitzen
Ich bin, was sie in unserem Dorf »eine, die noch nicht gestorben ist« nennen -eine Witwe von achtzig Jahren.
Ohne meinen Mann gehen die Tage langsam vorüber. An den besonderen Speisen, diePäonie und die anderen für mich zubereiten, liegt mir nichts mehr. Auf dievielen glücklichen Ereignisse unter unserem Dach freue ich mich nicht mehr.Mich interessiert allein die Vergangenheit. Nach all dieser Zeit kann ich nunendlich all das aussprechen, was ich früher nicht sagen durfte - als ich nochabhängig von meiner eigenen Familie war oder mich darauf verlassen musste, dassmich die Familie meines Mannes ernährte. Ich habe ein ganzes Leben zu erzählen;zu verlieren habe ich nichts mehr, und es gibt nur noch wenige, die sich daranstoßen könnten.
Ich bin jetzt so alt, dass ich meine guten und meine schlechten Eigenschaften,die häufig ein und dasselbe waren, nur zu gut kenne. Mein ganzes Leben langhabe ich mich nach Liebe gesehnt. Ich wusste, dass es mir - als Mädchen undspäter als Frau - nicht zustand, geliebt werden zu wollen oder das gar zuerwarten, aber ich tat es dennoch. Diese Anmaßung war letztlich die Wurzeljeden Problems, das ich in meinem Leben hatte.
Es war mein Wunschtraum, dass meine Mutter Notiz von mir nehmen und dass sieund der Rest meiner Familie mich endlich lieb haben würden. Um ihre Zuneigungzu gewinnen, war ich folgsam - ganz wie es sich für Angehörige meines Geschlechtsgeziemte -, aber ich war allzu schnell bereit zu tun, was sie von mirverlangten. In der Hoffnung auf ein kleines bisschen Freundlichkeit versuchteich, ihre Erwartungen in mich zu erfüllen - nämlich die kleinsten gebundenenFüße im Landkreis zu bekommen -, und so ließ ich mir die Knochen brechen und ineine schönere Form bringen.
Wenn ich glaubte, die Schmerzen keinen Augenblick länger ertragen zu können,und mir die Tränen auf meine blutigen Bandagen tropften, flüsterte mir meineMutter sanft ins Ohr, sprach mir Mut zu, noch eine weitere Stunde, noch einenTag, noch eine Woche durchzuhalten, und sie erinnerte mich daran, wie ichbelohnt würde, wenn ich es noch ein klein wenig länger schaffte. Auf dieseWeise brachte sie mir bei, etwas zu erdulden - nicht nur die körperlichenQualen beim Füßebinden oder Gebären, sondern auch den noch größeren Schmerz desHerzens, des Geistes und der Seele. Sie machte mich auch auf meine Schwächenaufmerksam und brachte mir bei, sie zu meinen Gunsten zu nutzen. In unseremLand nennen wir diese Art von Mutterliebe teng ai. Mein Sohn hat mir erklärt,in der Männerschrift besteht das Wort aus zwei Zeichen. Das erste steht fürSchmerz, das zweite für Liebe. So ist die Liebe einer Mutter.
Das Füßebinden veränderte nicht nur meine Füße, sondern auch meine ganzePersönlichkeit. Irgendwie kommt es mir vor, als hätte dieser Prozess meinganzes Leben hindurch angedauert. Aus einem nachgiebigen Kind wurde einentschlossenes Mädchen, und später wurde aus einer jungen Frau, die fraglosalles befolgte, was ihre Schwiegereltern von ihr verlangten, die höchstrangigeFrau im ganzen Landkreis, die für die strenge Einhaltung der Regeln undGebräuche im Dorf sorgte. Mit vierzig war dann die Starrheit meiner Fußbandagenvon meinen goldenen Lilien hinauf in mein Herz gewandert, das sich so sehr anUngerechtigkeiten und Groll festhielt, dass ich denen, die ich liebte und diemich liebten, nicht mehr verzeihen konnte.
Meine einzige Rebellion vollzog sich in Form des Nushu, unserer geheimenFrauenschrift. Ich begegnete ihr zum ersten Mal, als mir Schneerose - meinelaotong, meine »Weggefährtin«, meine Geheimschrift-Brieffreundin - denSeidenfächer schickte, der hier vor mir auf dem Tisch liegt, und dann wieder,nachdem ich Schneerose kennen gelernt hatte. Doch unabhängig davon, was für einMensch ich in Gesellschaft von Schneerose war, ich war entschlossen, eineachtbare Ehefrau, eine lobenswerte Schwiegertochter und eine gewissenhafteMutter zu sein. In schlechten Zeiten war mein Herz so fest wie Jade. Ich besaßdie innere Stärke, Tragödien und Sorgen standzuhalten.
Doch hier bin ich nun - eine Witwe, die nur noch stillsitzt, wie es dieTradition vorschreibt - und begreife, dass ich zu viele Jahre lang blind war.
Bis auf die drei schrecklichen Monate im fünften Jahr der Herrschaft desKaisers Xianfeng habe ich mein Leben in Frauengemächern im oberen Stockwerkverbracht. Ich habe zwar den Tempel besucht, ich bin in mein Elternhausgefahren, ich habe sogar Schneerose besucht, aber ich weiß wenig über dasäußere Reich. Ich habe Männer von Steuern, Dürre und Aufständen reden hören,aber diese Themen sind ganz weit weg von meinem Leben. Ich beschäftige mich mitSticken, Weben, Kochen, der Familie meines Mannes, meinen Kindern, meinenEnkeln, meinen Urenkeln und Nushu. Mein Leben ist völlig normal abgelaufen -erst die Tochtertage, die Tage des Haarehochsteckens, die Reis-und-Salz-Tage,und nun das Stillsitzen.
Hier bin ich denn also ganz allein mit meinen Gedanken und diesem Seidenfächervor mir. Wenn ich ihn aufnehme, liegt er merkwürdig leicht in meinen Händen, woer doch so viel Freude und so viel Kummer enthält. Ich lasse ihn schnellaufklappen, und das Geräusch der einzelnen Falten dabei erinnert mich an einflatterndes Herz. Erinnerungen ziehen vor meinen Augen vorbei. In diesenletzten vierzig Jahren habe ich ihn so oft gelesen, dass ich alles darinauswendig weiß wie ein Kinderlied.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem die Heiratsvermittlerin ihn mir gegebenhat. Meine Finger zitterten, als ich die Falten aufzog. Damals zierte eineeinfache Girlande aus Blättern den oberen Rand, und nur eine einzige Nachrichttröpfelte die erste Falte hinunter. Zu der Zeit kannte ich noch nicht vieleNushu-Zeichen, deshalb las mir meine Tante den Text vor. »Es heißt, in deinemHaus gibt es ein Mädchen von gutem Charakter, das sich auf die weiblichenKünste versteht. Du und ich, wir sind im selben Jahr und am selben Tag geboren.Wollen wir Weggefährtinnen sein?« Wenn ich heute die zarten Striche betrachte,aus denen diese Zeilen bestehen, sehe ich nicht nur das Mädchen, das Schneerosewar, sondern auch die Frau, die aus ihr werden sollte - beharrlich, offen,aufgeschlossen.
Mein Blick streift über die anderen Falten des Fächers. Ich sehe unserenOptimismus, unsere Freude, unsere gegenseitige Bewunderung, die Versprechen,die wir uns gaben. Ich sehe, wie diese einfache Girlande schließlich einkompliziertes Muster aus miteinander verschlungenen Schneerosen und Lilienwurde, um unser gemeinsames Leben als ein Paar laotong darzustellen, als zweiWeggefährtinnen. Rechts oben in der Ecke ist der Mond, der auf uns herabscheint. Wir sollten wie lange Ranken mit verschlungenen Wurzeln werden, wieBäume, die eintausend Jahre stehen, wie ein Paar Mandarinenten, die ein Lebenlang zusammenbleiben. In eine Falte schrieb Schneerose: »Wir sind einanderzugetan und wollen unser Band niemals durchtrennen.« Aber in einer anderenFalte sehe ich Missverständnisse, gebrochenes Vertrauen und eine endgültigzugeschlagene Tür. Für mich war die Liebe ein so wertvoller Besitz, dass ichsie mit niemandem teilen konnte, und so trennte sie mich am Ende von dem einenMenschen, der meine Weggefährtin war.
Ich lerne immer noch über die Liebe. Ich dachte, ich hätte sie verstanden -nicht nur die Mutterliebe, sondern auch die Liebe zu den Eltern, dem Ehemannund der laotong. Ich habe die anderen Arten von Liebe erfahren - mitleidigeLiebe, respektvolle Liebe, dankbare Liebe. Aber wenn ich mir unseren geheimenFächer mit seinen Botschaften anschaue, die Schneerose und ich uns im Laufevieler Jahre geschrieben haben, sehe ich, dass ich die allerwichtigste Liebenicht zu schätzen wusste - die Liebe aus tiefstem Herzen. (...)
© C. Bertelsmann Verlag
Übersetzung: Elke Link
- Autor: Lisa See
- 2006, 1, 380 Seiten, Maße: 13 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828979769
- ISBN-13: 9783828979765
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