Der Sohn aus Spanien
Subtil, klar und unsentimental blickt Tessa de Loo hinter die mühsam gewahrte Fassade einer sprachlos gewordenen Familie. Ihr neuer Roman beweist einmal mehr ihr eindrucksvolles Gespür für die drängenden Konflikte und verdrängten Sehnsüchte unserer Gesellschaft.
Subtil, klar und unsentimental blickt Tessa de Loo hinter die mühsam gewahrte Fassade einer sprachlos gewordenen Familie. Ihr neuer Roman beweist einmal mehr ihr eindrucksvolles Gespür für die drängenden Konflikte und verdrängten Sehnsüchte unserer Gesellschaft.
"Tessa de Loo ist eine stilsichere, detailgenaue Geschichtenerzählerin."
Der Spiegel
"Die Stärke von 'Der Sohn aus Spanien' ist zweifellos, dass der Leser - auch wenn er sich mit der Familie identifizieren kann - gezwungen wird, seine eigenen Auffassungen von Moral und Gerechtigkeit zu überprüfen."
Algemeen Dagblad Magazine
Der Sohnaus Spanien von Tessa de Loo
LESEPROBE
Pa
Ach, meine liebe Ida, könnte ich nur glauben, dass ich baldbei dir sein werde. Im Himmel werden die Liebenden wieder vereint. Sie sinddann wieder jung und schön, und ihre Liebe währt bis in alle Ewigkeit...
Jahrelang war ich wütend auf dich. Ich hegte einen stillen,verbitterten Zorn, der eigentlich mehr mit dem Schicksal als mit dir zu tunhatte. Nun hänge ich hier am Tropf, und hinter dem weißen Paravent in der Eckeverbirgt sich etwas, das für mich bestimmt ist, im Verborgenen wartet es.Zuweilen döse ich ein, mitten am Tag. Dann gibt es das, was ich als meinen Körperakzeptieren muss, nicht mehr, und mein Geist hat für eine Weile Ruhe. Aber wennich aus dem Halbschlaf langsam zu Bewusstsein komme, in dieser vagenÜbergangsphase, spüre ich sofort wieder, dass es da ist, fast sichtbar in einemvibrierenden, weißen Flirren des Stoffs. Es stellt das Ende der Dinge dar, undes ist weiß, nicht schwarz, wie man vielleicht denken könnte. Von der Ecke mitdem Paravent aus teilt sich mir eine absolute Verlassenheit mit, eine kreischende,gellende Verlassenheit. Man hämmert
mit beiden Fäusten an die Tür des Elternhauses und wirdnicht eingelassen.
Dann macht sich meine Sehnsucht auf die Suche nach dir, undes dauert nicht lange, bis es mit deinem Lachen anfängt, einem unbändigenLachen, und alle drehen sich verärgert um und denken: Muss sie wirklich sounbeherrscht, so hemmungslos lachen? Aber ich rufe beschwichtigend: Sie istnicht so, wie Sie glauben! Dann kommen deine blauen Augen mit den rebellischenLichtern darin, der Widerspiegelung von Sonnen, Monden und Milchstraßen, dienoch unentdeckt sind. Du nimmst langsam die Gestalt von früher wieder an, undalles passt genau: deine Sommersprossen, dein rotblondes Haar, deine große, schlaksigeStatur, alles.
Ich habe dir bei unserem Wiedersehen so viel zu erzählen,Ida, wenn es stimmt, dass du dort oben auf mich wartest. Und du hast natürlichviele Fragen. Wir werden uns streiten, wer zuerst an der Reihe ist. Ladysfirst, werde ich sagen, denn ich bin ein Mann vom alten Schlag.
Wie es mir geht, willst du sicher wissen. Jetzt aber mallangsam, ich bin gerade erst gestorben, darf ich vielleicht kurz zu Atemkommen? Natürlich, Schatz, soll ich dir etwas Nektar holen? Während ich an dem Getränknippe und es genieße, dass ich endlich wieder selbst ein Glas zum Mund führenkann, erzähle ich dir von der Krankheit, die mich langsam aufgezehrt hat. Wiezuerst meine Beinmuskeln versagten
und ich ständig wie ein Saufbold umkippte. Danach dieArmmuskeln. Zuerst werden die Wurzeln angegriffen, dann kriecht es über denStamm nach oben, und zum Schluss erfasst es auch die Krone. Die Blätterfallen, und das war's. Gibt's auch noch was zu lachen, wirst du fragen, denn duhasst Krankheiten. Nur gut, dass du selbst nicht nach einem langsamenVerfallsprozess gestorben bist.
Wie geht's meinem blauen Hibiskus, wirst du fragen, hast duihn auch immer gegossen? Ich kenne dich doch, Gerlof de Windt, bei schönemWetter sitzt du unter einem Baum und liest, statt zur Gießkanne zu greifen.
Um deinen blauen Hibiskus brauchst du dir keine Sorgen zumachen. Der hat all die Jahre genug Wasser und Dünger bekommen und ist immerzur rechten Zeit gestutzt worden.
Ach, Ida, könnten wir uns doch nur zanken so wie früher.Wenn ich nicht so ein verstockter Atheist wäre, würde ich jetzt doch noch gernzum Glauben finden. Wie trostreich wäre es zu wissen, dass du dort oben indeinem schönsten Ballkleid ungeduldig auf mich wartest. Ich liege hier nur undhabe niemanden, der mir Gesellschaft leistet. Die Kinder kommen manchmalvorbei mit Blumen und mit Büchern, die ich nicht mehr lesen kann, aber ichsehe ihre Gedanken abschweifen und davonschweben, weg vom Tod nach draußen, wodas Leben ist oder das, was sie dafür halten.
Wäre ich nur zu Hause, dann könnte ich die Bäume sehen, diewir zusammen gepflanzt haben. Ich dachte immer: Wenn ich alt bin, werde ich imSchatten dieser Linde sitzen und zufrieden auf mein Leben zurückblicken. Aberwenn dann Sommer ist, liegt man im obersten Stock eines Krankenhauses, und dasEinzige, was man sieht, ist ein eingerahmtes Stück weißer Himmel als Vorbotedes Nichts, ein modernes Gemälde ohne Titel. Wenn es doch stimmen würde, dassman von seinen Erinnerungen zehren kann, als wären es Flaschen guten Weins,die nur von außen ein bisschen angeschimmelt sind. Doch sobald ich das Glas andie Lippen setze, erweist sich der Wein als schal, denn es kostet mich sehrviel Mühe, mir noch einmal vorzustellen, wie wir zusammen auf der Bank hintermHaus saßen. Wahrscheinlich hielten wir Händchen, die Vögel zwitscherten, unddu warst schwanger mit Edwin, ein poetisches Bild, aber das dazugehörige Gefühlist mir abhanden gekommen. Das Einzige, was mir dabei in den Sinn kommt, ist:Wenn ihr wüsstet, was euch bevorsteht, würdet ihr mit dem Geturtel aufhören.
Ich bin ein verbitterter, trübsinniger alter Mann geworden,Ida, ich bezweifle, dass du noch Lust auf mich hättest. Ein Schnaps würde mirwohler tun als all der dünne Tee hier. Nicht mal mit dem Tod vor Augen darf ichetwas trinken, was als ungesund gilt. Als ob noch Hoffnung wäre. Den Tod vorAugen rufe ich: Hol mich doch, du Feigling, alles ist besser, als hier zuliegen und auf dich zu warten.
Hör mal, Ida, hast du dort oben auch noch was anderes fürmich außer Nektar? Wenn du mit mir lachen willst, musst du mir schon etwasGehaltvolleres einschenken.
Wer glaubt denn noch an ein Jenseits? Die Vorstellung vonHimmel und Hölle als Belohnung und Strafe hatte Sinn in einer primitiven Phaseder Menschheit, um den Menschen ein Bewusstsein von Gut und Böse zu vermitteln,als überall Barbarei herrschte. Die Hölle findet man ohne weiteres hier aufErden, sonst läge ich nicht hier. Die Ärzte sollten das endlich zugeben undmir meinen Bokma als Medizin gegen den Trübsinn gönnen.
Wenn du noch ein wenig Geduld hast, Ida, dann bringe ichdich zum Lachen. Du wirst lachen, bis du nach Luft schnappst. Wenn du hörst,was alles passiert ist in unserer Familie, wirst du Tränen lachen, denn es isteine richtige Komödie, mit mir in der Rolle des Hanswursts.
Wäre ich doch zu Hause, dann könnte mir der Nachbarjungeetwas vorlesen. Ein bisschen Montaigne, das würde mir gut tun, zum Beispieldie Passage, wo er Solon zitiert, den berühmten Dichter und Staatsmann ausAthen, der einst König Krösus warnte, dass man keinen Menschen glücklich preisensolle, solange nicht dessen letzter Lebenstag verstrichen sei.
© 2005 C. Bertelsmann Verlag
Übersetzung: Waltraud Hüsmert
- Autor: Tessa de Loo
- 2005, 207 Seiten, Maße: 13,2 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Niederländ. v. Waltraud Hüsmert
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570008665
- ISBN-13: 9783570008669
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der Sohn aus Spanien".
Kommentar verfassen