Der Sommer ohne Männer
Die große US-Autorin Siri Hustvedt hat einen erfrischenden, humorvollen und überraschend leichten Roman geschrieben über ein altbekanntes Thema: den Krieg zwischen Mann und Frau.
Nach 30 Jahren Ehe passiert Mia der...
Leider schon ausverkauft
Buch
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Sommer ohne Männer “
Die große US-Autorin Siri Hustvedt hat einen erfrischenden, humorvollen und überraschend leichten Roman geschrieben über ein altbekanntes Thema: den Krieg zwischen Mann und Frau.
Nach 30 Jahren Ehe passiert Mia der Klassiker: Sie wird von Boris mit einer Jüngeren betrogen. Das stürzt Mia erstmal in eine ziemliche Depression. Nach einem Abstecher in einer Psychoklinik beschließt sie, Abstand zu gewinnen und nach Minnesota in den Heimatort ihrer Mutter zu fahren. Dort verbringt sie in der Nähe ihrer Mutter, die im Heim lebt, den Sommer. Sie beginnt, ihr Leben neu zu sortieren und stellt fest: Es geht ihr auch ohne Männer gut. Und schon bald merkt das auch Boris, der Mia plötzlich reumütige Mails schreibt.
"Siri Hustvedt erzählt mit Witz und Tiefgang."
STERN.DE
SIRI HUSTVEDT: Die erfolgreiche US-Autorin hat bereits mehrere Bestseller veröffentlicht, zuletzt "Die zitternde Frau". Siri Hustvedt ist mit dem Autor Paul Auster verheiratet und hat mit ihm eine Tochter.
Lese-Probe zu „Der Sommer ohne Männer “
Der Sommer ohne Männer von Siri HustvedtEine Weile nachdem er das Wort Pause ausgesprochen hatte, drehte ich durch und landete im Krankenhaus. Er sagte nicht: Ich will dich nie wiedersehen, oder: Es ist aus, doch nach dreißig Jahren Ehe reichte Pause, um aus mir eine Geisteskranke zu machen, in deren Hirn die Gedanken platzten, wild herumfuhrwerkten und voneinander abprallten wie Popcorn in einer Mikrowellentüte. Diese traurige Feststellung machte ich in meinem Bett in der Psychiatrie, so mit Haldol zugedröhnt, dass ich mich kaum bewegen wollte. Die garstigen rhythmischen Stimmen waren leiser geworden, aber nicht verschwunden, und wenn ich die Augen schloss, sah ich Comicfiguren über rosa Hügel sausen und in blaue Wälder verschwinden. Dr. P. diagnostizierte dann eine akute vorübergehende psychotische Störung, auch bekannt als Durchgangssyndrom, was bedeutet, dass man wirklich verrückt ist, aber nicht lange. Wenn es länger als einen Monat anhält, braucht man ein anderes Etikett. Offenbar gibt es für diese spezielle Form von Störung häufig einen Auslöser oder «Stressor», wie es im psychiatrischen Jargon heißt. In meinem Fall war das Boris, oder vielmehr die Tatsache, dass eben kein Boris da war, dass Boris seine Pause machte. Sie behielten mich anderthalb Wochen da, dann ließen sie mich gehen. Eine Zeitlang wurde ich ambulant behandelt, bis ich Frau Dr. S. mit ihrer tiefen musikalischen Stimme, ihrem verhaltenen Lächeln und ihrem guten Ohr für Lyrik fand. Sie stützte mich, stützt mich eigentlich immer noch.
... mehr
Ich erinnere mich ungern an die Verrückte. Ich schäme mich für sie. Lange scheute ich mich, mir anzusehen, was sie während ihres Aufenthalts auf der Station in ein schwarz-weißes Notizbuch geschrieben hatte. Ich wusste, was in einer Handschrift, die meiner überhaupt nicht ähnlich sah, auf den Einband gekritzelt war: HIRNSCHERBEN, aber ich schlug es nie auf. Ich hatte Angst vor ihr, wissen Sie. Als meine Tochter Daisy mich besuchen kam, ließ sie sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Ich weiß nicht genau, was sie sah, aber ich kann es mir vorstellen, eine immer noch verwirrte Frau, mit einem durch die Nahrungsverweigerung abgemagerten und die Medikamente erstarrten Körper, ein Mensch, der nicht angemessen auf die Worte seiner Tochter reagieren, sein eigenes Kind nicht in den Arm nehmen konnte. Und dann, als sie ging, hörte ich, wie sie sich mit einem unterdrückten Schluchzer bei der Krankenschwester beklagte: «Es ist, als wäre sie nicht meine Mom.» Damals war ich nicht bei mir, aber mich jetzt an diesen Satz zu erinnern ist eine Qual. Ich verzeihe mir das nicht.
Die Pause war eine Französin mit schlaffem, aber glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Rechteckbrille und einen exzellenten Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute, dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre signifikanten Bereiche stürzte. Ich habe es mir wieder und wieder vorgestellt. Boris, dem die schneeweißen Locken in die Stirn fallen, während er neben den Käfigen mit den genmanipulierten Ratten nach der besagten Pause grapscht. Ich sehe die Szene immer im Labor vor mir, obwohl das wahrscheinlich falsch ist. Dort waren die beiden selten allein, und das «Team» hätte lautstarkes Gefummel in der Nähe sicher bemerkt. Vielleicht suchten sie in einer Toilettenkabine Zuflucht, wo mein Boris seine Forscherkollegin bearbeitete, bis ihm die Augen in ihren Höhlen nach oben rollten, als er sich der Entladung näherte. Das kannte ich alles. Ich hatte seine Augen tausendmal nach oben rollen sehen. Die Banalität der Geschichte - die Tatsache, dass sie jeden Tag ad nauseam von Männern wiederholt wird, die plötzlich oder allmählich entdecken, dass, was i s t, nicht sein muss, und dann handeln, um sich von den alternden Frauen zu befreien, die sie und ihre Kinder jahrelang versorgt haben - dämpft nicht das Elend, die Eifersucht und die Demütigung, die die Verlassenen überkommt. Betrogene Frauen. Ich heulte und schrie und schlug mit der Faust gegen die Wand. Ich machte ihm Angst. Er wollte Frieden, er wollte allein sein, um mit der kultivierten Neurowissenschaftlerin seiner Träume seiner Wege zu gehen, einer Frau, mit der er keine Vergangenheit, keine Altlasten, keinen Kummer und keine Konflikte hatte. Und doch sagte er Pause, nicht Stopp, um die Geschichte offen zu halten, für den Fall, dass er seine Meinung änderte. Ein grausamer Hoffnungsschimmer. Boris, die Wand. Boris, der nie schreit. Boris auf dem Sofa, kopfschüttelnd und zerknirscht. Boris, der Rattenmann, der 1979 eine Dichterin heiratete. Boris, warum hast du mich verlassen?
Ich musste aus der Wohnung, weil ich es dort nicht mehr aushielt. Die Zimmer und die Möbel, die Geräusche von der Straße, das Licht, das in mein Arbeitszimmer fiel, die Zahnbürsten auf der kleinen Ablage, der Schlafzimmerschrank mit dem fehlenden Knauf - sie waren alle gleichsam schmerzende Knochen geworden, ein Gelenk, eine Rippe oder ein Wirbel in einer strukturierten Anatomie gemeinsamer Erinnerungen; jedes vertraute Ding, bleiern von den darin gespeicherten Bedeutungen, wog schwer in meinem Körper, und ich merkte, dass ich die Last nicht länger tragen konnte. Also verließ ich Brooklyn und fuhr über den Sommer nach Hause in das Provinznest, das mitten in der ehemaligen Prärie von Minnesota liegt, dorthin, wo ich aufgewachsen war. Dr. S. war nicht dagegen. Wir würden wöchentliche Telefonsitzungen ab halten, außer im August, wenn sie wie immer Ferien machte. Die Universität hatte «Verständnis» für meinen Zusammenbruch gehabt, und im September würde ich meine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen. Es sollte die Auszeit zwischen einem durchgeknallten Winter und einem geistig gesunden Herbst sein, ein ereignisloser Hohlraum, den ich mit Gedichten füllen konnte. Ich würde Zeit mit meiner Mutter verbringen und Blumen auf das Grab meines Vaters legen. Meine Schwester und Daisy würden mich besuchen kommen, und ich war engagiert worden, im Kulturforum des Ortes einen Poesiekurs für Jugendliche zu veranstalten. «Preisgekrönte einheimische Dichterin bietet Workshop an» stand in den Bonden News. Der Doris-P.-Zimmer-Preis für Lyrik ist eine unbedeutende Auszeichnung, die mir wie aus dem Nichts zugefallen war und ausschließlich Frauen zugesprochen wird, deren Werk als «experimentell» gilt. Ich hatte diese zweifelhafte Ehrung und den freundlicherweise damit verbundenen Scheck, wenn auch mit Vorbehalten, angenommen, nur um dann herauszufinden, dass irgendein Preis besser ist als keiner, dass der Ausdruck «preisgekrönt» einem Dichter, der in einer Welt lebt, die nichts von Gedichten versteht, einen brauchbaren, obwohl rein dekorativen Glanz verleiht. Wie John Ashbery einmal sagte: «Ein berühmter Dichter zu sein ist nicht dasselbe, wie berühmt zu sein.» Und ich bin keine berühmte Dichterin.
Ich mietete ein kleines Haus am Stadtrand, nicht weit von der Wohnung meiner Mutter in einem Gebäude ausschließlich für Alte und Uralte. Meine Mutter wohnte im Bereich der Selbständigen. Trotz Arthritis und verschiedener anderer Beschwerden, darunter hin und wieder gefährlich steigender Blutdruck, war sie mit siebenundachtzig bemerkenswert agil und klar im Kopf. In der Wohnanlage waren noch zwei weitere Bereiche - für die, die Hilfe brauchten, «Betreutes Wohnen» und das «Pflegezentrum», die Endstation. Dort war mein Vater sechs Jahre zuvor gestorben, und obwohl es mich einmal dorthin gezogen hat, war ich nicht weiter als bis zum Eingang gekommen, ehe ich umkehrte und vor dem väterlichen Geist floh.
Ich habe keinem Menschen hier etwas von deinem Krankenhausaufenthalt erzählt», sagte meine Mutter mit besorgter Stimme und sah mich mit ihren ausdrucksvollen grünen Augen unverwandt an. «Das braucht keiner zu wissen.»
Den Tropfen Leid werd' ich vergessen der mich nun verbrüht - nun verbrüht!
Emily Dickinson # 193, zu Hilfe. Adresse: Amherst.
Den ganzen Sommer über flogen mir solche Zeilen und Sätze zu. «Wenn ein Gedanke ohne einen Denkenden daherkommt, könnte es ein ‹streunender Gedanke› sein oder ein Gedanke mit dem Namen und der Adresse seines Besitzers oder ein ‹wilder Gedanke›», sagte Wilfred Bion. «Das Problem, wenn so etwas daherkommt, ist, was man damit anfängt.»
Zu beiden Seiten meines gemieteten Hauses standen Blocks mit Neubauwohnungen, aber der Blick aus dem rückwärtigen Fenster war unverbaut. Zuerst sah man einen kleinen Garten mit einer Schaukel, dahinter ein Maisfeld und dahinter ein Luzernenfeld. In der Ferne waren ein Wäldchen, die Umrisse einer Scheune, ein Silo und darüber der weite, ruhelose Himmel. Der Blick gefiel mir, aber das Hausinnere verstörte mich, nicht, weil es hässlich war, sondern weil es prallvoll war mit dem Leben seiner Eigentümer, eines jungen Professorenpaars mit zwei Kindern, die sich über den Sommer mit irgendeinem Forschungsstipendium nach Genf abgesetzt hatten. Als ich meine Reisetasche und die Bücherkisten abgestellt und mich umgesehen hatte, fragte ich mich, wie ich mich in diesen Ort einfügen würde, mit seinen Familienfotos und Zierkissen unbekannter asiatischer Herkunft, seinen Reihen von Büchern über Staatsgewalt, Weltgerichtshöfe und Diplomatie, seinen Kisten voller Spielzeug und dem in der Luft hängenden Geruch von Gott sei Dank nicht anwesenden Katzen. Ich hatte den düsteren Gedanken, dass es für mich und meine Sachen selten Platz gegeben hatte, dass ich immer ein Schreiberling in gestohlener Zwischenzeit gewesen war. In der ersten Zeit hatte ich am Küchentisch gearbeitet und war zu Daisy gelaufen, wenn sie aufwachte. Der Unterricht und die Lyrik meiner Studenten - Gedichte ohne Dringlichkeit, mit «literarischen» Schnörkeln und Bändern herausgeputzte Gedichte - hatten sich mit unzähligen Stunden davongemacht.
Andererseits hatte ich auch nicht für mich gekämpft, oder vielmehr nicht in der richtigen Weise. Manche Leute nehmen sich einfach, was sie brauchen, indem sie Eindringlingen gegenüber ihre Ellbogen benutzen. Boris konnte das, ohne einen Muskel zu bewegen. Er brauchte nur «mucksmäuschenstill» dazustehen. Ich war ein lautes Mäuschen, eins, das in den Wänden kratzt und Krawall macht, aber irgendwie änderte das nichts. Es ist die Magie von Autorität, Geld, Penissen.
Vorsichtig legte ich die gerahmten Bilder in eine Kiste, vermerkte auf einem kleinen Streifen Klebeband, wohin jedes einzelne gehörte. Ich faltete mehrere kleine Teppiche zusammen und verstaute sie mit ungefähr zwanzig überflüssigen Kissen und Kinderspielen, und dann putzte ich systematisch das Haus, entfernte Wollmäuse, in denen Büroklammern, abgebrannte Streichhölzer, Katzenstreu, mehrere zerdrückte M & Ms und nicht identifizierbarer Abfall verfilzt waren. Ich scheuerte die drei Waschbecken, die zwei Klos, die Badewanne und die Dusche, bis sie weiß waren. Ich putzte die Küche, entstaubte und reinigte die völlig verdreckten Deckenlampen. Die Säuberungsaktion dauerte zwei Tage, mir tat danach alles weh, und ich hatte mehrere Schnittwunden an den Händen, aber die Zimmer sahen nach der heftigen Maßnahme konturierter aus. Die muffigen, unbestimmten Kanten jedes Gegenstands in meinem Gesichtsfeld hatten eine Präzision und Deutlichkeit bekommen, die mich, zumindest vorübergehend, aufmunterte. Ich packte meine Bücher aus, richtete mich in dem Raum ein, der das Arbeitszimmer des Hausherrn zu sein schien (Indiz: Pfeifenraucherutensilien), setzte mich hin und schrieb:
Verlust.
Eine gewusste Abwesenheit.
Wüsstest du nicht von ihr,
wäre sie nichts,
was sie natürlich ist,
ein Nichts von anderer Art,
so stark empfunden wie eine Blase, aber auch ein Aufruhr
in der Gegend von Herz und Lunge, eine Leere mit einem Namen: Du.
...
Übersetzung: Uli Aumüller
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich erinnere mich ungern an die Verrückte. Ich schäme mich für sie. Lange scheute ich mich, mir anzusehen, was sie während ihres Aufenthalts auf der Station in ein schwarz-weißes Notizbuch geschrieben hatte. Ich wusste, was in einer Handschrift, die meiner überhaupt nicht ähnlich sah, auf den Einband gekritzelt war: HIRNSCHERBEN, aber ich schlug es nie auf. Ich hatte Angst vor ihr, wissen Sie. Als meine Tochter Daisy mich besuchen kam, ließ sie sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Ich weiß nicht genau, was sie sah, aber ich kann es mir vorstellen, eine immer noch verwirrte Frau, mit einem durch die Nahrungsverweigerung abgemagerten und die Medikamente erstarrten Körper, ein Mensch, der nicht angemessen auf die Worte seiner Tochter reagieren, sein eigenes Kind nicht in den Arm nehmen konnte. Und dann, als sie ging, hörte ich, wie sie sich mit einem unterdrückten Schluchzer bei der Krankenschwester beklagte: «Es ist, als wäre sie nicht meine Mom.» Damals war ich nicht bei mir, aber mich jetzt an diesen Satz zu erinnern ist eine Qual. Ich verzeihe mir das nicht.
Die Pause war eine Französin mit schlaffem, aber glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Rechteckbrille und einen exzellenten Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute, dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre signifikanten Bereiche stürzte. Ich habe es mir wieder und wieder vorgestellt. Boris, dem die schneeweißen Locken in die Stirn fallen, während er neben den Käfigen mit den genmanipulierten Ratten nach der besagten Pause grapscht. Ich sehe die Szene immer im Labor vor mir, obwohl das wahrscheinlich falsch ist. Dort waren die beiden selten allein, und das «Team» hätte lautstarkes Gefummel in der Nähe sicher bemerkt. Vielleicht suchten sie in einer Toilettenkabine Zuflucht, wo mein Boris seine Forscherkollegin bearbeitete, bis ihm die Augen in ihren Höhlen nach oben rollten, als er sich der Entladung näherte. Das kannte ich alles. Ich hatte seine Augen tausendmal nach oben rollen sehen. Die Banalität der Geschichte - die Tatsache, dass sie jeden Tag ad nauseam von Männern wiederholt wird, die plötzlich oder allmählich entdecken, dass, was i s t, nicht sein muss, und dann handeln, um sich von den alternden Frauen zu befreien, die sie und ihre Kinder jahrelang versorgt haben - dämpft nicht das Elend, die Eifersucht und die Demütigung, die die Verlassenen überkommt. Betrogene Frauen. Ich heulte und schrie und schlug mit der Faust gegen die Wand. Ich machte ihm Angst. Er wollte Frieden, er wollte allein sein, um mit der kultivierten Neurowissenschaftlerin seiner Träume seiner Wege zu gehen, einer Frau, mit der er keine Vergangenheit, keine Altlasten, keinen Kummer und keine Konflikte hatte. Und doch sagte er Pause, nicht Stopp, um die Geschichte offen zu halten, für den Fall, dass er seine Meinung änderte. Ein grausamer Hoffnungsschimmer. Boris, die Wand. Boris, der nie schreit. Boris auf dem Sofa, kopfschüttelnd und zerknirscht. Boris, der Rattenmann, der 1979 eine Dichterin heiratete. Boris, warum hast du mich verlassen?
Ich musste aus der Wohnung, weil ich es dort nicht mehr aushielt. Die Zimmer und die Möbel, die Geräusche von der Straße, das Licht, das in mein Arbeitszimmer fiel, die Zahnbürsten auf der kleinen Ablage, der Schlafzimmerschrank mit dem fehlenden Knauf - sie waren alle gleichsam schmerzende Knochen geworden, ein Gelenk, eine Rippe oder ein Wirbel in einer strukturierten Anatomie gemeinsamer Erinnerungen; jedes vertraute Ding, bleiern von den darin gespeicherten Bedeutungen, wog schwer in meinem Körper, und ich merkte, dass ich die Last nicht länger tragen konnte. Also verließ ich Brooklyn und fuhr über den Sommer nach Hause in das Provinznest, das mitten in der ehemaligen Prärie von Minnesota liegt, dorthin, wo ich aufgewachsen war. Dr. S. war nicht dagegen. Wir würden wöchentliche Telefonsitzungen ab halten, außer im August, wenn sie wie immer Ferien machte. Die Universität hatte «Verständnis» für meinen Zusammenbruch gehabt, und im September würde ich meine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen. Es sollte die Auszeit zwischen einem durchgeknallten Winter und einem geistig gesunden Herbst sein, ein ereignisloser Hohlraum, den ich mit Gedichten füllen konnte. Ich würde Zeit mit meiner Mutter verbringen und Blumen auf das Grab meines Vaters legen. Meine Schwester und Daisy würden mich besuchen kommen, und ich war engagiert worden, im Kulturforum des Ortes einen Poesiekurs für Jugendliche zu veranstalten. «Preisgekrönte einheimische Dichterin bietet Workshop an» stand in den Bonden News. Der Doris-P.-Zimmer-Preis für Lyrik ist eine unbedeutende Auszeichnung, die mir wie aus dem Nichts zugefallen war und ausschließlich Frauen zugesprochen wird, deren Werk als «experimentell» gilt. Ich hatte diese zweifelhafte Ehrung und den freundlicherweise damit verbundenen Scheck, wenn auch mit Vorbehalten, angenommen, nur um dann herauszufinden, dass irgendein Preis besser ist als keiner, dass der Ausdruck «preisgekrönt» einem Dichter, der in einer Welt lebt, die nichts von Gedichten versteht, einen brauchbaren, obwohl rein dekorativen Glanz verleiht. Wie John Ashbery einmal sagte: «Ein berühmter Dichter zu sein ist nicht dasselbe, wie berühmt zu sein.» Und ich bin keine berühmte Dichterin.
Ich mietete ein kleines Haus am Stadtrand, nicht weit von der Wohnung meiner Mutter in einem Gebäude ausschließlich für Alte und Uralte. Meine Mutter wohnte im Bereich der Selbständigen. Trotz Arthritis und verschiedener anderer Beschwerden, darunter hin und wieder gefährlich steigender Blutdruck, war sie mit siebenundachtzig bemerkenswert agil und klar im Kopf. In der Wohnanlage waren noch zwei weitere Bereiche - für die, die Hilfe brauchten, «Betreutes Wohnen» und das «Pflegezentrum», die Endstation. Dort war mein Vater sechs Jahre zuvor gestorben, und obwohl es mich einmal dorthin gezogen hat, war ich nicht weiter als bis zum Eingang gekommen, ehe ich umkehrte und vor dem väterlichen Geist floh.
Ich habe keinem Menschen hier etwas von deinem Krankenhausaufenthalt erzählt», sagte meine Mutter mit besorgter Stimme und sah mich mit ihren ausdrucksvollen grünen Augen unverwandt an. «Das braucht keiner zu wissen.»
Den Tropfen Leid werd' ich vergessen der mich nun verbrüht - nun verbrüht!
Emily Dickinson # 193, zu Hilfe. Adresse: Amherst.
Den ganzen Sommer über flogen mir solche Zeilen und Sätze zu. «Wenn ein Gedanke ohne einen Denkenden daherkommt, könnte es ein ‹streunender Gedanke› sein oder ein Gedanke mit dem Namen und der Adresse seines Besitzers oder ein ‹wilder Gedanke›», sagte Wilfred Bion. «Das Problem, wenn so etwas daherkommt, ist, was man damit anfängt.»
Zu beiden Seiten meines gemieteten Hauses standen Blocks mit Neubauwohnungen, aber der Blick aus dem rückwärtigen Fenster war unverbaut. Zuerst sah man einen kleinen Garten mit einer Schaukel, dahinter ein Maisfeld und dahinter ein Luzernenfeld. In der Ferne waren ein Wäldchen, die Umrisse einer Scheune, ein Silo und darüber der weite, ruhelose Himmel. Der Blick gefiel mir, aber das Hausinnere verstörte mich, nicht, weil es hässlich war, sondern weil es prallvoll war mit dem Leben seiner Eigentümer, eines jungen Professorenpaars mit zwei Kindern, die sich über den Sommer mit irgendeinem Forschungsstipendium nach Genf abgesetzt hatten. Als ich meine Reisetasche und die Bücherkisten abgestellt und mich umgesehen hatte, fragte ich mich, wie ich mich in diesen Ort einfügen würde, mit seinen Familienfotos und Zierkissen unbekannter asiatischer Herkunft, seinen Reihen von Büchern über Staatsgewalt, Weltgerichtshöfe und Diplomatie, seinen Kisten voller Spielzeug und dem in der Luft hängenden Geruch von Gott sei Dank nicht anwesenden Katzen. Ich hatte den düsteren Gedanken, dass es für mich und meine Sachen selten Platz gegeben hatte, dass ich immer ein Schreiberling in gestohlener Zwischenzeit gewesen war. In der ersten Zeit hatte ich am Küchentisch gearbeitet und war zu Daisy gelaufen, wenn sie aufwachte. Der Unterricht und die Lyrik meiner Studenten - Gedichte ohne Dringlichkeit, mit «literarischen» Schnörkeln und Bändern herausgeputzte Gedichte - hatten sich mit unzähligen Stunden davongemacht.
Andererseits hatte ich auch nicht für mich gekämpft, oder vielmehr nicht in der richtigen Weise. Manche Leute nehmen sich einfach, was sie brauchen, indem sie Eindringlingen gegenüber ihre Ellbogen benutzen. Boris konnte das, ohne einen Muskel zu bewegen. Er brauchte nur «mucksmäuschenstill» dazustehen. Ich war ein lautes Mäuschen, eins, das in den Wänden kratzt und Krawall macht, aber irgendwie änderte das nichts. Es ist die Magie von Autorität, Geld, Penissen.
Vorsichtig legte ich die gerahmten Bilder in eine Kiste, vermerkte auf einem kleinen Streifen Klebeband, wohin jedes einzelne gehörte. Ich faltete mehrere kleine Teppiche zusammen und verstaute sie mit ungefähr zwanzig überflüssigen Kissen und Kinderspielen, und dann putzte ich systematisch das Haus, entfernte Wollmäuse, in denen Büroklammern, abgebrannte Streichhölzer, Katzenstreu, mehrere zerdrückte M & Ms und nicht identifizierbarer Abfall verfilzt waren. Ich scheuerte die drei Waschbecken, die zwei Klos, die Badewanne und die Dusche, bis sie weiß waren. Ich putzte die Küche, entstaubte und reinigte die völlig verdreckten Deckenlampen. Die Säuberungsaktion dauerte zwei Tage, mir tat danach alles weh, und ich hatte mehrere Schnittwunden an den Händen, aber die Zimmer sahen nach der heftigen Maßnahme konturierter aus. Die muffigen, unbestimmten Kanten jedes Gegenstands in meinem Gesichtsfeld hatten eine Präzision und Deutlichkeit bekommen, die mich, zumindest vorübergehend, aufmunterte. Ich packte meine Bücher aus, richtete mich in dem Raum ein, der das Arbeitszimmer des Hausherrn zu sein schien (Indiz: Pfeifenraucherutensilien), setzte mich hin und schrieb:
Verlust.
Eine gewusste Abwesenheit.
Wüsstest du nicht von ihr,
wäre sie nichts,
was sie natürlich ist,
ein Nichts von anderer Art,
so stark empfunden wie eine Blase, aber auch ein Aufruhr
in der Gegend von Herz und Lunge, eine Leere mit einem Namen: Du.
...
Übersetzung: Uli Aumüller
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Siri Hustvedt
Es gab eine Zeit, da hieß es in Texten über Siri Hustvedt (Jahrgang 1955) gerne, dass sie die Frau des bekannten Schriftstellers Paul Auster sei. Heute sprechen Kritiker davon nur noch selten, sehr selten - es scheint so, als hätte Siri mit ihrem Ehemann und Kollegen „gleichgezogen", was die literarische Bekanntheit und Wertschätzung angeht. Als Siri Hustvedt 2011 in Deutschland aus ihrem Buch „Sommer ohne Männer" las, waren die großen Säle und Theater voll und schon Wochen vorher ausverkauft; alle wollten die aparte New Yorkerin live erleben. Sie wirkt auf den ersten Blick ein wenig, als wäre sie nicht ganz von dieser Welt - das mag an ihrem Äußeren liegen, ihrer Größe, Eleganz, den blauen Augen und den oft lässig hochgesteckten blonden Haaren. Doch sie ist, auf eine ganz eigene Art, geerdet - und blitzgescheit. Ihre Leser, das muss man sagen, sind in großer Mehrheit Leserinnen. Männern ist ihre Kombination aus attraktiv, intellektuell und durchaus feministisch scheinbar nicht geheuer... Siri Hustvedt interessiert sich eben für vieles, lässt sich ein, z. B. auf die Neurobiologie oder Psychoanalyse - und die Früchte dieser Arbeit präsentiert sie an renommierten Instituten. 2011 hielt sie eine Sigmund-Freud-Lecture in Wien oder einen Vortrag am „New Yorker Psychoanalytic Society and Institute". Hustvedt versteht es eben, ihre gesamte Energie, ihr gesamtes Wesen - als Schriftstellerin, Künstlerin und interessierter Mensch - in das Erkunden eines Themas zu stecken und verwebt bei ihren darauffolgenden schriftlichen Arbeiten all diese Ebenen miteinander. Das merkt man den Vorträgen und gelehrten Betrachtungen, z. B. über das Sehen von Kunst oder ihre eigene neurologischen Beschwerden (Buch: „Die zitternde Frau"), wahrlich an. Sie sind kenntnisreich und geistreich, sensibel und genau, künstlerisch tiefschichtig und doch geerdet -
... mehr
und das sind sie, weil für Siri Hustvedt die ganzheitliche Betrachtung etwas Selbstverständliches ist. Über Siri Hustvedt, die mit drei Schwestern als Tochter norwegischer Einwanderer in Amerika geboren wurde, sagte ihre Mutter einmal, sie sei zu empfindlich für diese Welt. Für ihre Kunst, ihr Scheiben, ist diese Sensibilität sicher eine der Energiequellen - eine andere mag ihr Mann Paul Auster sein, über den sie selbst in einem Interview mit der „Zeit" sagte: „Wir haben seit 30 Jahren eine Unterhaltung, die ich immer noch genieße. Es könnte morgen vorbei sein. Aber der Punkt ist, dass es seit so Langem eine Freundschaft ist." Hört sich sehr gut an, reflektiert, sensibel und realistisch zugleich - Siri Hustvedt eben...
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Siri Hustvedt
- 2012, 300 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650980
- ISBN-13: 9783863650988
Kommentare zu "Der Sommer ohne Männer"
0 Gebrauchte Artikel zu „Der Sommer ohne Männer“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
2 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der Sommer ohne Männer".
Kommentar verfassen