Der Tod fährt Audi
Roman
Der Werbetexter Asger wird nach einer grandios verpatzten Kampagne gefeuert und fühlt sich von der Welt betrogen. Als er einen Pflegejob bei einem Mann im Rollstuhl annehmen soll, will er sich am liebsten drücken. Aber dann freunden sich Asger und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Tod fährt Audi “
Der Werbetexter Asger wird nach einer grandios verpatzten Kampagne gefeuert und fühlt sich von der Welt betrogen. Als er einen Pflegejob bei einem Mann im Rollstuhl annehmen soll, will er sich am liebsten drücken. Aber dann freunden sich Asger und der todkranke Waldemar an. Mit gnadenlosem Zynismus und viel schwarzem Humor betrachten sie ihr tristes Dasein. Bis Waldemar Asger zu einer verrückten Reise von Dänemark bis nach Marokko überredet, wo es einen Wunderheiler geben soll.
Die Fahrt mit einem schrottreifen VW-Bus durch ganz Europa wird zu einem unvergesslichen Erlebnis voller skurriler Begegnungen und ungeahnter Hürden. Und was hat es mit dem mysteriösen Audi auf sich, der an den unterschiedlichsten Orten der Reise immer wieder auftaucht? Der Tod fährt Audi ist ein herrlich unterhaltsamer, tragikomischer Roman über eine einzigartige Freundschaft und die Abenteuer, die das Leben bis zuletzt bereithält.
Die Fahrt mit einem schrottreifen VW-Bus durch ganz Europa wird zu einem unvergesslichen Erlebnis voller skurriler Begegnungen und ungeahnter Hürden. Und was hat es mit dem mysteriösen Audi auf sich, der an den unterschiedlichsten Orten der Reise immer wieder auftaucht? Der Tod fährt Audi ist ein herrlich unterhaltsamer, tragikomischer Roman über eine einzigartige Freundschaft und die Abenteuer, die das Leben bis zuletzt bereithält.
Klappentext zu „Der Tod fährt Audi “
Der Werbetexter Asger wird nach einer grandios verpatzten Kampagne gefeuert und fühlt sich von der Welt betrogen. Als er einen Pflegejob bei einem Mann im Rollstuhl annehmen soll, will er sich am liebsten drücken. Aber dann freunden sich Asger und der todkranke Waldemar an. Mit gnadenlosem Zynismus und viel schwarzem Humor betrachten sie ihr tristes Dasein. Bis Waldemar Asger zu einer verrückten Reise von Dänemark bis nach Marokko überredet, wo es einen Wunderheiler geben soll.Die Fahrt mit einem schrottreifen VW-Bus durch ganz Europa wird zu einem unvergesslichen Erlebnis voller skurriler Begegnungen und ungeahnter Hürden. Und was hat es mit dem mysteriösen Audi auf sich, der an den unterschiedlichsten Orten der Reise immer wieder auftaucht? Der Tod fährt Audi ist ein herrlich unterhaltsamer, tragikomischer Roman über eine einzigartige Freundschaft und die Abenteuer, die das Leben bis zuletzt bereithält.
Lese-Probe zu „Der Tod fährt Audi “
Der Tod fährt Audi von Kristian Bang FossAus dem Dänischen von Nina Hoyer
Anfangs lief alles noch glatt. Ich lebte mit Sara und Amalie in Kopenhagen, und wenn Amalie abends in ihrem Bett lag, wir vor dem Fernseher saßen und ich mich von der Couch erhob, fragte mich Sara, wo ich hinwolle. Sogar nachts, wenn ich aufs Klo musste, fragte sie, wo ich hinwolle. Ich sagte, aufs Klo, ich sagte, nach Amalie sehen, ich sagte, Kaffee kochen, ich sagte, spazieren gehen.
Ich ging viel spazieren, musste einfach mal ein bisschen raus, so hielt ich mein Gewicht. Bis die Leute anfingen, mich so komisch anzugucken und ich mir einbildete, wie einer dieser Straßenmusiker, Tippelbrüder oder einer von den anderen Umherstrolchenden auszusehen, weshalb ich meine Spaziergänge wieder etwas einschränkte. Doch nach nicht mal einem Monat verfettete ich wieder, ich konnte beim Duschen nicht mehr meine Schamhaare sehen, und so nahm ich meine Geherei wieder auf. »Du mit deiner ewigen Geherei«, sagte Sara. Mein Drang rauszukommen, nervte sie. Ja, wir gingen uns auf die Nerven, und zwar nicht nur dann und wann, sondern ständig - und das jetzt schon, wo Amalie erst vier war und die Wohnung frisch gekauft.
... mehr
Amalie war nicht mein leibliches Kind. Ihr sogenannter biologischer Vater hatte eine Psychose bekommen und war danach nie wieder er selbst geworden. Jetzt hält er sich für Hare Krishna. Ich hab ihn einmal mit anderen Krishnas in orangefarbenen Klamotten Tamburin spielend und tanzend auf der Kopenhagener Haupteinkaufsstraße gesehen; er hat mir so ein kleines Küchlein geschenkt. Meine Lust, es zu essen, hielt sich in Grenzen. Ich hab Sara nie davon erzählt, frag mich nicht, warum. Es war ja nicht weiter schlimm - ich meine, dass ich ihn gesehen und das Küchlein bekommen habe -, aber wir haben nie ausführlicher über ihn gesprochen. Hoffentlich ist es nicht erblich, bei diesem Gedanken ertappte ich mich hin und wieder. Ansonsten wäre wohl besser ich Amalies richtiger Vater gewesen, aber so darf man nicht denken, sonst wäre Amalie ja nicht Amalie, verstehst du? Genau, dachte ich mir - und deshalb zerbrach ich mir auch nicht weiter den Kopf darüber. Amalie nannte mich schließlich Papa.
Eines schönen Tages kam ich um halb eins wieder in die Agentur zurück, nachdem ich in der Mittagspause im Freien ein Bratensandwich gegessen hatte. Mir blieben noch ein paar Stunden, um eine Werbekampagne zusammenzuschustern, die noch am selben Nachmittag dem Kunden präsentiert werden sollte. Mein Kollege Håkon, der mich aus irgendeinem Grund hasste, wusste, dass ich keinen blassen Schimmer im Hinblick auf die Präsentation hatte. Er umkreiste mich mit schadenfrohem Grinsen und versuchte, mich aus dem Konzept zu bringen.
»Wie läuft's mit der Präsentation?«
»Prima, Håkon.«
»Super! Bin schon gespannt auf deine Idee.«
»Da bin ich mir sicher.«
Håkon setzte sich an seinen Schreibtisch und klickte mit dem Kugelschreiber. Klick-klick, klick-klick, klick- klick. Ich weiß übrigens sehr wohl, was er gegen mich hatte - er hatte mir vor ein paar Jahren bei unserer Weihnachtsfeier etwas im Suff erzählt, irgendwas Intimes. Was genau, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur noch an seine kleinen, wässrigen Augen hinter der Bürobrille, als er mir so dicht auf die Pelle rückte, dass mich beinahe sein Gesicht streifte. Und dass ich nun einen Schwachpunkt von ihm kannte, war Grund genug, mich zu hassen, so war es leider. Klick-klick, klick-klick, klick-klick. Dieses Klicken war sein Beitrag zur allgemeinen Wohlfühlatmosphäre.
»Könntest du bitte das Klicken sein lassen, Håkon?«
»Stört's dich?«
»Ja.«
»Entschuldige, mir kommen dabei immer so gute Einfälle. «
Er hörte auf. Sicherheitshalber setzte ich meine iPod- Kopfhörer auf und stellte Bruce Springsteens Nebraska an. Da klingelte mein Telefon, Sara war am Apparat. Ich wisse doch, dass Amalie heute schon um eins vom Kindergarten abgeholt werden müsse? Der Kindergarten schloss nämlich heute früher, weil das Erzieherteam von einem Krisenpsychologen behandelt wurde, nachdem in den Medien Kritik an ihrem Jahresabschluss laut geworden war. Es war 'ne Affäre, die sich gewaschen hatte - und an der ich mich üblicherweise geweidet hätte, wenn sie mir nicht so ungelegen gekommen wäre.
»Na klar«, flunkerte ich, »bin schon unterwegs.« Nun musste ich darauf hoffen, dass mir auf dem Weg zum Kindergarten noch etwas einfiel, und Amalie für ein paar Stunden mit ins Büro nehmen.
Ich sprang in den Wagen und kam um fünf nach eins dort an. Eine Erzieherin saß weinend auf einem Schemel und ließ sich von einer anderen tröstend die Schulter streicheln; mich traf ein vorwurfsvoller Blick. In einer Ecke kloppte Amalie sich mit einem Mädchen um eine Hans-Bellmer-artige Puppe, der ein Arm fehlte.
Es gelang dem Mädchen, die Puppe aus Amalies Hand zu winden; der Puppenarm stand ab, als machte sie den Hitlergruß. Das Mädchen feierte seinen Triumph, indem es der Puppe in den Kopf biss. Ich hob Amalie hoch, küsste sie, raffte ihre Siebensachen zusammen, verabschiedete mich von den Erzieherinnen und saß kurz darauf wieder im Wagen.
In der Agentur holte ich einen Block und Stifte hervor und setzte Amalie neben mich. Ob sie Papa dabei helfen könne, ein paar schöne Reklamebilder zu malen? Von Håkon nirgends eine Spur.
Die Kampagne war im Grunde ein Kinderspiel. Irgendein Kulturfuzzi hatte einen Batzen Kohle von der Gemeinde erhalten, um im Schlachthofviertel eine interkulturelle Kunstmesse zu veranstalten. Ich sollte nur ein Werbeplakat dafür liefern, hatte aber noch nicht mal den Hauch einer Idee, denn ich konnte einfach nicht meinen Widerwillen gegenüber dieser verlogenen Wohlfahrtsveranstaltung überwinden. Ich hatte den Kulturfuzzi nur einmal getroffen, und seine flackernden Augen, die meinem Blick immer auswichen, hatten mir Schauer über den Rücken gejagt.
Amalie hatte mittlerweile ihre fertigen Bilder auf dem Tisch ausgebreitet und malte gerade ein neues. Die Sonne rechts oben in der Ecke bekam Strahlen.
Das Motto der Kunstmesse lautete »Wider alle Vernunft«. Mir kam eine müde Idee. Ich googelte »Spaghetti essen« und fand ein Foto von einem dicken Unternehmer, der eine Nudel einsog - perfekt! Ich googelte weiter und stieß auf einen Sikh mit einem Kussmund, lud beide Fotos herunter - die Auflösung war annehmbar - und machte mich ans Werk. Heraus kam das Bild eines weißen Unternehmers und eines Inders mit Turban, die wie in der Spaghetti-Szene von »Susi und Strolch« an je einem Ende sogen. Ein Agenturfoto wäre natürlich besser gewesen, aber Bäume wachsen ja nicht in den Himmel. Es blieb nur zu hoffen, dass der Kulturfuzzi darauf ansprang. Die Bildrechte konnten mich mal kreuzweise. Die Fotos stammten von einer amerikanischen beziehungsweise italienischen Homepage, und die Wahrscheinlichkeit, dass mein illegales Herunterladen aufflog, war minimal.
Dann kam mir noch der Einfall, T-Shirts mit dem Text »Wider alle Vernunft - Art has no Homeland« zu drucken und sie an die Obdachlosen der Stadt verteilen zu lassen; denn Obdachlose waren bei den sogenannten »Kreativen « gerade der letzte Schrei. Es war hip, wie ein Obdachloser auszusehen, einen zu kennen oder mit einem in Verbindung gebracht zu werden.
Der Kulturfuzzi schluckte die Idee kritiklos, bewunderte den provokanten Aspekt der Kampagne und erkannte nicht, dass es die Arbeit eines Stümpers war. Håkon wurde beinahe schwarz vor Ärger. Ich hatte ihn gebeten, während der Präsentation auf Amalie aufzupassen, und als ich ihm sagte, dass der Deal perfekt sei, verzog er sein Gesicht zu einem so falschen Lächeln, dass Amalie in Tränen ausbrach.
Ich nahm mir den Rest des Tages frei, fuhr mit Amalie nach Hause und überraschte Sara mit einem Abendessen. Als Amalie im Bett lag, setzte ich mich hochzufrieden mit einem Glas Rotwein vor die Kiste. Es war ein selten gelungener Abend.
Es dauerte einen Monat, dann brach die Katastrophe über mich herein. Wie sich herausstellte, war der dicke Unternehmer auf dem Foto gar kein Unternehmer, sondern der Kopf italienischer Faschisten. Ein Journalist hatte ihn wiedererkannt, und so kam der ganze Scheiß ins Rollen. Ein Repräsentant der Dänisch-Indischen Freundschaftsgesellschaft reichte Klage ein und verlangte eine offizielle Entschuldigung von Gott weiß wem. Der Kulturfuzzi schrie herum, das Plakat habe seiner seriösen und erbaulichen Veranstaltung jede Glaubwürdigkeit genommen. Weshalb denn Kunst immer seriös sein müsse, fragte ich ihn und fügte hinzu, er solle sich doch über die kostenlose PR freuen, aber das nahm er mir nicht ab. Zu allem Übel bekam der Faschistenführer auch noch Wind von dieser eigentlich recht unbedeutsamen Sache weit oben im Norden, verbündete sich mit dem Fotografen, der die Bildrechte besaß, und verklagte meinen Arbeitgeber.
Das war Mitte 2008 während der Finanzkrise. Alle Jobs in der Branche hingen am seidenen Faden, und für meinen Chef war es eine willkommene Gelegenheit, einen weiteren Mann zu feuern. Ich musste meinen Mac zusammenklappen und den Kollegen Lebwohl sagen.
Håkon heuchelte große Besorgnis, während ich ihn insgeheim verdächtigte, nicht ganz schuldlos an dem Sturm der Entrüstung gewesen zu sein.
Zunächst nahm ich es nicht so schwer.
Ich schickte Bewerbungen los und hatte auch das eine oder andere Vorstellungsgespräch, aber ich war näher an der vierzig als an der dreißig und damit zu alt für die Werbebranche. Außerdem schienen die Vorstellungsgespräche nicht stattzufinden, weil wirklich eine Stelle besetzt werden musste, sondern aus purer Lust des Gesprächsleiters an der Demütigung. Also gesellte ich mich zu den anderen überqualifizierten Arbeitslosengeldempfängern und gab es schließlich auf, Bewerbungen zu verschicken. Ich erschien zu einem Motivationsgespräch in einem weißen Gemeindebüro, spielte das Spiel mit, ja, hielt es geradezu für meine bürgerliche Pflicht, die Angestellten dort zu beschäftigen.
Mit der Geherei hörte ich auf. Es brachte mir keinen Spaß mehr. Von nun an lag ich auf der Couch oder tigerte in der Wohnung umher. Wenn Sara an der Reihe war, Amalie in den Kindergarten zu bringen, zog ich mich noch nicht einmal mehr richtig an. Ich merkte, wie es sie nervte, mich beim Nachhausekommen immer noch im Morgenmantel vorzufinden, sodass ich darauf achtete, mir etwas anzuziehen, bevor sie Feierabend hatte. Doch nach einer Weile konnte ich mich nicht mehr dazu aufraffen, und es blieben nur noch die Couch und der Kühlschrank. Ich aß immer mehr, ja, hatte nahezu ständig Kohldampf. Nachts wachte ich auf und fantasierte über den Schinkensalat im Dunkel des Kühlschranks, stand auf und schlang ihn stehend hinunter und schüttete literweise Orangensaft in mich hinein. Mittags um zwölf öffnete ich in der Regel das erste Dosenbier, zum Abendessen gab's Wein und abends Whisky. Das sei nur vorübergehend, versuchte ich mir einzureden, wenn es keine Arbeit gab, gab es auch keinen Grund, sich zu bewerben. Aber in einem Jahr oder so, wenn die Konjunktur wieder anzog, würde sich alles bessern, und die Wartezeit bekam ich schon irgendwie rum. Die leeren Bierdosen entsorgte ich, bevor Sara nach Hause kam. Ich weiß nicht, ob ihr auffiel, dass ich schon vor dem Abendessen eine Bierfahne und einen kleinen Schwips hatte, jedenfalls sagte sie nichts.
Eines Tages - ich hatte schon früh mit dem Trinken begonnen und gerade das erste Sixpack geleert und die Dosen entsorgt - rief Sara an und bat mich, Amalie abzuholen, sie müsse Überstunden machen.
Ich lieh mir ihr Fahrrad mit dem Kindersitz. Amalie plapperte über alles Mögliche, während ich mit ihr durch die Stadt nach Hause radelte und Ja und Nein antwortete und hier und da eine Frage stellte. Der Himmel war blau, und die Sonne schien wie auf Amalies Bildern. Eine Familie packte ihr Auto für einen Strandausflug, und ich wurde so sehr von der Stimmung angesteckt, dass ich den Kopf drehte und Amalie fragte, ob wir nicht Vanilleeis und Sprite kaufen sollten. In dem Moment fuhr ich mit dem Vorderreifen gegen einen Bordstein, meine Füße rutschten von den Pedalen, ich verlor die Kontrolle über das Fahrrad, und wir stürzten.
Es sei ja glücklicherweise nur ein Milchzahn, sagten sie in der Ambulanz. Auf meinem zerknitterten Hemd war Amalies Blut. Ich selbst war nicht zu Schaden gekommen.
In der folgenden Woche ertrug ich es nicht, Amalie lächeln zu sehen. Wann immer beim Abendessen ihre Zahnlücke aufblitzte, musste ich einen großen Schluck Rotwein nehmen. Amalie selbst nahm es gelassen. Sara jedoch war total sauer, und nach einer Woche war alles vorbei - sie machte Schluss, als ich wieder mal fressend und trinkend auf der Couch lag. Im Hintergrund lief der Fernseher.
Ich quartierte mich übergangsweise bei meinem Freund Stanley ein, verschickte Sammelmails, sah mir die Wohnungsanzeigen an und schrieb Status-Updates auf Facebook, um schnellstmöglich an eine Wohnung zu kommen. Ab und zu rief ich Sara an, aber sie nahm nicht ab. Ich schlief auf Stanleys Sofa und räumte tagsüber ein bisschen auf, räumte zum Beispiel die Spülmaschine aus, um mich irgendwie für den Schlafplatz zu revanchieren. Stanley schien nichts gegen meine Anwesenheit zu haben. Das Wochenende kam, und wir gingen aus. Stanley war Wirtschaftsjurist, und sie hätten in seiner Firma gerade einen Prozess gewonnen, was wir feiern müssten, wie er sagte. »Außerdem musst du mal rauskommen«, fügte er hinzu. Schließlich landeten wir in einer Konzept- Bar in der Innenstadt. Bis auf uns bestand das Publikum nur aus Amerikanern, die uns gewaltig auf den Senkel gingen, und als sich herausstellte, dass der College-Boy am Tischende heute Geburtstag hatte, improvisierten wir folgendes Ständchen:
How old are you now?
How old are you now?
You'll get cancer in the asshole
And then you'll die.
Ich bog mich vor Lachen. Hochzufrieden verließen wir die Bar. Zu Hause sank ich auf Stanleys Couch, er setzte sich auf einen Stuhl daneben. Wir redeten über Politik und konnten uns nicht darauf einigen, was wir am meisten verabscheuten: den sogenannten rechten Flügel, den sogenannten linken Flügel oder die sogenannte Mitte. Stanley nahm eine Flasche Whisky aus dem Schrank, schenkte uns ein und verfiel in einen Monolog über Single Malt. Wir sprachen von Sara und Amalie. Dann fing Stanley plötzlich an zu weinen und erzählte, dass er schon seit Langem unter seinen dünnen Beinen leide und deshalb zwei Hosen übereinander trage.
Am nächsten Morgen hatten wir einen Kater. Ich briet uns Spiegeleier mit Speck. Stanley aß ein Viertel vom Eiweiß, stach Löcher ins Dotter und verfolgte, wie es herausfloss. Am Sonntag wurde mir eine Einzimmerwohnung im Südhafen angeboten, und ich schlug zu. Stanley und ein Freund halfen mir beim Umzug. Sara war nicht zu Hause, als wir meine Sachen holten. Ich kaufte Stanley als Dank dafür, dass ich auf seinem Sofa hatte schlafen dürfen, eine Flasche Highland Park.
Ein halbes Jahr verging. Ich nahm fünfzehn Kilo zu. Nachdem ich wiederholt wegen eines Katers oder einfach, weil mir in dem Durcheinander das Zeitgefühl abhandengekommen war, die Vorladungen beim Arbeitsamt verpennt hatte, wurde mir der Geldhahn zugedreht - tschüs und auf Wiedersehen! Es folgte die Zeit des Nachtfernsehens. An Werktagen nachts fernzusehen hat etwas. Wenn es fast drei und totenstill in der Wohnung ist und man von einem Eishockeymatch über einen TV-Shop zu einer amerikanischen Serie zappt und sich nach und nach die Sender verabschieden, bis der Bildschirm nur noch Schnee zeigt. Man tritt ans Fenster und betrachtet die Hausfassaden, wo fast alles dunkel ist; dort wohnen vernünftige Menschen, die einen Job haben, und sie schlafen den gesegneten Schlaf der arbeitenden Bevölkerung. Aber in einigen Fenstern brennt noch Licht; nicht der goldorange Schein einer Kerze, sondern das nächtliche Fernsehlicht, der kalte blaue Schein einer Flimmerkiste, die schon seit dem Abendessen läuft. Oder das stoßweise Aufflackern eines Pornos, Pornolicht nenne ich es, man sieht es am rhythmischen Wechsel des Scheins, dieses fleischfarbenen Lichtscheins, der hinter den Gardinen pulsiert. Ich wagte es erst, den Fernseher auszuschalten, wenn ich mich vor lauter Müdigkeit so betäubt fühlte, dass die plötzliche Stille kein zu brutaler Schock wurde.
In meinem Flur häuften sich Mahnungen und Reklame, an der Küchentür volle Müll- und Leerguttüten. Auf meinem Küchentisch wuchsen die Stapel mit schmutzigem Geschirr, an meinem Körper die Fettdepots. Alles türmte und sammelte sich an, bis auf das Geld. Eines Tages war im Supermarkt meine Kreditkarte gesperrt, sodass ich ohne meine Einkäufe von dannen ziehen musste. Ich lieh mir Geld von Freunden, ja, ich schuldete Stanley schon zehntausend Kronen.
Schließlich ging es so nicht mehr weiter. Geplagt von Übelkeit und dem üblichen Kater, nahm ich die S-Bahn in die westlichen Vororte und stieg in Stentofte aus. Ich hatte ein Bewerbungsgespräch.
Ich hatte nochmals fünftausend von Stanley geschnorrt, um die Miete bezahlen zu können, und er hatte mir das Versprechen abgerungen, mir einen Job zu suchen. Ich sagte, dass das unmöglich sei, immerhin hätten wir gerade Finanzkrise. Er erwiderte, wenn man nicht wählerisch sei, lasse sich trotzdem immer irgendwas finden: McD, 7-Eleven, ISS-Gebäudereinigung.
»Es wird dir guttun, du musst mal aus diesem Loch raus«, sagte er grinsend. Er rief mich an jenem Morgen sogar an, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich aufstand. Ich trällerte mit schlaftrunkener, verbitterter Stimme Jodle Birges Wahre Freunde in den Hörer und legte energisch auf. Aber ich kam tatsächlich aus dem Bett, schlüpfte irgendwie in meine Klamotten und schleppte mich zur Station Dybbølsbro. Es handelte sich um eine Stelle als Pflegehelfer.
Ich war noch nie in Stentofte gewesen, und als ich an der S-Bahnstation stand, wusste ich auch, warum. Falls Hieronymus Bosch oder Bruegel 2008 gelebt hätten, hätten sie nicht Skelette missbrauchter Freudenmädchen, im Fegefeuer brutzelnde Menschen oder alles verwüstende Totenheere gemalt, sondern Stentoftes Beton. Wenn du nicht an die Hölle glaubst, setz dich in die Linie B und fahr nach Stentofte.
Natürlich war ich schon mal auf dem Weg nach Jütland mit dem Zug hier durchgefahren, hatte aus dem Abteil das grauenvolle, postmoderne Bahnhofsgebäude gesehen und die übergroße Skulptur Sockel der Lebensfreude, die das Rathaus überragte. Aber ich hatte noch nie auf dem Bahnsteig gestanden. Ich ging zu den Rolltreppen und fuhr hinauf in die Halle. Ein paar junge Männer lungerten oben an den Rolltreppen herum, und es blieb einem nichts anderes übrig, als dicht an ihnen vorbeizugehen. Auch wenn sie einfach nur herumstanden, jagten sie den Passanten Angst ein. Einer warf hinter mir eine Kippe auf die Rolltreppe. Ein anderer räusperte sich und rotzte laut auf den Boden. In der Halle hielten sich ein paar Pendler auf, ein Penner lag schlafend auf einer Bank.
Draußen guckte ich auf die Seite des alten Stadtplans, die ich herausgerissen und in die Hosentasche gesteckt hatte. Ich musste nach rechts, ließ den Sockel der Lebensfreude hinter mir, der wie ein Leuchtturm in den Himmel ragte und mit seiner fröhlichen Farbgebung die Trostlosigkeit dieses Ortes nur noch unterstrich.
An der Ecke des Bahnhofsgebäudes war ein Chinarestaurant. Hier lag der Hund schon lange begraben, und die Fensterscheiben waren weiß getüncht. Trotzdem stand ein magerer Köter davor und kläffte, als ob er hineinwollte. Hinter dem Bahnhofsgebäude schloss sich eine Brache an. Man war wohl davon ausgegangen, dass hier nach der Fertigstellung des Bahnhofs der Wohnungsbau florieren würde, aber daraus war nichts geworden. Danach kam eine viel befahrene Straße, auf der anderen Seite lagen eine Kindertagesstätte und ein Fußballplatz hinter einem hohen Maschendrahtzaun. Dann tauchten die Wohnblöcke auf - und hier wohnte Waldemar.
Es heißt, das perfekte Labyrinth bestehe aus so vielen einheitlichen Modulen wie möglich, und so dauerte es auch nicht lange, bis ich orientierungslos zwischen den identischen grauen Betongebäuden umherirrte. Ich kam zu einem Spielplatz, an dem ich gerade eben schon einmal vorbeigekommen war - dachte ich zumindest -, bis ich die Reste eines Lagerfeuers auf der Rutsche sah. An einer Stelle rückten die Häuser etwas voneinander ab und machten einer ausgedehnten Grünfläche Platz. Ich überquerte sie, es stank nach Hundekacke. Inzwischen war es kurz nach neun, und ich beschloss, wieder nach Hause zu fahren, wenn ich die Nummer 36 in Block 3A nicht binnen zehn Minuten finden würde. Aber das Glück war nicht auf meiner Seite, denn natürlich war der Block am Ende der Rasenfläche genau die 3A.
Waldemar wohnte links im Parterre. Gegenüber waren die Jalousien heruntergelassen, aber ich sah, dass sich jemand von innen daran zu schaffen machte. Waldemars Klingel schien beim ersten Mal nicht zu funktionieren, aber nachdem ich das Plastikrechteck etwas bearbeitet hatte, summte das Schloss, und ich betrat das Treppenhaus.
Während ich vor der Wohnungstür wartete, hörte ich Waldemar auf der anderen Seite mit dem Riegel und der Sicherheitskette rasseln. Ich ahnte, dass sein Nachbar mich durch den Türspion beobachtete. Dann wurde geöffnet.
Waldemar war klein. Kein Zwerg, aber so klein, dass ich erst einmal über seinen Kopf hinweg ins Leere sah. Als ich meinen Blick ein bisschen senkte, sah ich sein Gesicht: Die Haut war weiß wie bei einem Vampir und die Stirn von unzähligen Pickeln übersät. Er hatte ein schwarzes Brillengestell auf, dessen dicke Gläser seine grünen Augen deutlich vergrößerten. Seine schulterlangen schwarzen Haare lagen oben auf dem Kopf platt an und kräuselten sich weiter unten in Korkenzieherlöckchen. Sein Scheitel erinnerte mich an einen Riss in einem Verdunklungsrollo, durch den eisiges Licht hindurchschimmerte. Durch seine schlechte Haltung, die stark an einen Buckel erinnerte, wirkte er noch kleiner.
Auf einem Couchtisch im Wohnzimmer standen zwei Tassen und eine Thermoskanne. Das Zimmer war seltsam unpersönlich; auch wenn ich keinen sonderlich großen Wert darauf lege, dass alles einen persönlichen Stempel tragen muss, wirkte diese Einrichtung so gemütlich wie ein Wartezimmer im Krankenhaus.
»Ich habe echten Kaffee gekocht«, sagte er.
Wir setzten uns an den Tisch, und Waldemar erzählte mir von seinen Krankheiten und Syndromen. Er war ein wandelndes Lexikon seltener und unschöner Leiden, ja, er hatte so viele Krankheiten, dass ich wohl ohne Weiteres einen Mord begangen hätte, um vor derlei verschont zu bleiben.
Mir fiel ein Dokumentarfilm ein, der von einer Frau handelte, die sechsmal vom Blitz getroffen worden war - die gleiche Unwahrscheinlichkeit kam hier zum Tragen.
Waldemar hatte eine Muskelkrankheit, die bewirkte, dass er sich nicht besonders lange bewegen konnte, ohne müde zu werden, außerdem einen Herzfehler. Zweimal schon hatten die Ärzte ihn aufgeschnitten, am Ende aber einhellig konstatiert, dass das Herz wahrscheinlich nicht mehr sonderlich lange durchhalte. Für sie war es vielmehr ein medizinisches Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war. Später dachte ich, dass Waldemar eine übermenschliche körperliche Widerstandsfähigkeit und Ausdauer gehabt haben musste, um auch nur einen Tag mit diesen unzähligen Krankheiten zu überleben. Ein weiteres Syndrom hatte sein Wachstum gehemmt. Heute bin ich mir sicher, dass er ungeheuer stark und ein Riese von mindestens zwei Metern geworden wäre und es unendlich weit gebracht hätte, wenn ihm nicht diese Muskelkrankheit in die Quere gekommen wäre - und er nicht sein ganzes Leben in dieser geistigen Wüste zugebracht hätte. Denn sein Dasein war frei von jeglicher Inspiration und geprägt von menschlicher Abgestumpftheit und der herablassenden Behandlung der Behörden. Außerdem war er der sturste Mensch, dem ich jemals begegnet bin, und ich glaube, dass es vor allem seiner gewaltigen Sturheit geschuldet war, dass der letzte Fetzen seines Herzens noch nicht aufgegeben hatte.
Wie ich im Nachhinein erfuhr, redete Waldemar normalerweise gar nicht so viel über seine Krankheiten, aber in dem Moment dachte er anscheinend, dass das mit zur Arbeitsbeschreibung gehörte. Vielleicht wollte er mich auch damit konfrontieren, dass er jederzeit tot umfallen konnte.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 bei carl's books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Amalie war nicht mein leibliches Kind. Ihr sogenannter biologischer Vater hatte eine Psychose bekommen und war danach nie wieder er selbst geworden. Jetzt hält er sich für Hare Krishna. Ich hab ihn einmal mit anderen Krishnas in orangefarbenen Klamotten Tamburin spielend und tanzend auf der Kopenhagener Haupteinkaufsstraße gesehen; er hat mir so ein kleines Küchlein geschenkt. Meine Lust, es zu essen, hielt sich in Grenzen. Ich hab Sara nie davon erzählt, frag mich nicht, warum. Es war ja nicht weiter schlimm - ich meine, dass ich ihn gesehen und das Küchlein bekommen habe -, aber wir haben nie ausführlicher über ihn gesprochen. Hoffentlich ist es nicht erblich, bei diesem Gedanken ertappte ich mich hin und wieder. Ansonsten wäre wohl besser ich Amalies richtiger Vater gewesen, aber so darf man nicht denken, sonst wäre Amalie ja nicht Amalie, verstehst du? Genau, dachte ich mir - und deshalb zerbrach ich mir auch nicht weiter den Kopf darüber. Amalie nannte mich schließlich Papa.
Eines schönen Tages kam ich um halb eins wieder in die Agentur zurück, nachdem ich in der Mittagspause im Freien ein Bratensandwich gegessen hatte. Mir blieben noch ein paar Stunden, um eine Werbekampagne zusammenzuschustern, die noch am selben Nachmittag dem Kunden präsentiert werden sollte. Mein Kollege Håkon, der mich aus irgendeinem Grund hasste, wusste, dass ich keinen blassen Schimmer im Hinblick auf die Präsentation hatte. Er umkreiste mich mit schadenfrohem Grinsen und versuchte, mich aus dem Konzept zu bringen.
»Wie läuft's mit der Präsentation?«
»Prima, Håkon.«
»Super! Bin schon gespannt auf deine Idee.«
»Da bin ich mir sicher.«
Håkon setzte sich an seinen Schreibtisch und klickte mit dem Kugelschreiber. Klick-klick, klick-klick, klick- klick. Ich weiß übrigens sehr wohl, was er gegen mich hatte - er hatte mir vor ein paar Jahren bei unserer Weihnachtsfeier etwas im Suff erzählt, irgendwas Intimes. Was genau, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur noch an seine kleinen, wässrigen Augen hinter der Bürobrille, als er mir so dicht auf die Pelle rückte, dass mich beinahe sein Gesicht streifte. Und dass ich nun einen Schwachpunkt von ihm kannte, war Grund genug, mich zu hassen, so war es leider. Klick-klick, klick-klick, klick-klick. Dieses Klicken war sein Beitrag zur allgemeinen Wohlfühlatmosphäre.
»Könntest du bitte das Klicken sein lassen, Håkon?«
»Stört's dich?«
»Ja.«
»Entschuldige, mir kommen dabei immer so gute Einfälle. «
Er hörte auf. Sicherheitshalber setzte ich meine iPod- Kopfhörer auf und stellte Bruce Springsteens Nebraska an. Da klingelte mein Telefon, Sara war am Apparat. Ich wisse doch, dass Amalie heute schon um eins vom Kindergarten abgeholt werden müsse? Der Kindergarten schloss nämlich heute früher, weil das Erzieherteam von einem Krisenpsychologen behandelt wurde, nachdem in den Medien Kritik an ihrem Jahresabschluss laut geworden war. Es war 'ne Affäre, die sich gewaschen hatte - und an der ich mich üblicherweise geweidet hätte, wenn sie mir nicht so ungelegen gekommen wäre.
»Na klar«, flunkerte ich, »bin schon unterwegs.« Nun musste ich darauf hoffen, dass mir auf dem Weg zum Kindergarten noch etwas einfiel, und Amalie für ein paar Stunden mit ins Büro nehmen.
Ich sprang in den Wagen und kam um fünf nach eins dort an. Eine Erzieherin saß weinend auf einem Schemel und ließ sich von einer anderen tröstend die Schulter streicheln; mich traf ein vorwurfsvoller Blick. In einer Ecke kloppte Amalie sich mit einem Mädchen um eine Hans-Bellmer-artige Puppe, der ein Arm fehlte.
Es gelang dem Mädchen, die Puppe aus Amalies Hand zu winden; der Puppenarm stand ab, als machte sie den Hitlergruß. Das Mädchen feierte seinen Triumph, indem es der Puppe in den Kopf biss. Ich hob Amalie hoch, küsste sie, raffte ihre Siebensachen zusammen, verabschiedete mich von den Erzieherinnen und saß kurz darauf wieder im Wagen.
In der Agentur holte ich einen Block und Stifte hervor und setzte Amalie neben mich. Ob sie Papa dabei helfen könne, ein paar schöne Reklamebilder zu malen? Von Håkon nirgends eine Spur.
Die Kampagne war im Grunde ein Kinderspiel. Irgendein Kulturfuzzi hatte einen Batzen Kohle von der Gemeinde erhalten, um im Schlachthofviertel eine interkulturelle Kunstmesse zu veranstalten. Ich sollte nur ein Werbeplakat dafür liefern, hatte aber noch nicht mal den Hauch einer Idee, denn ich konnte einfach nicht meinen Widerwillen gegenüber dieser verlogenen Wohlfahrtsveranstaltung überwinden. Ich hatte den Kulturfuzzi nur einmal getroffen, und seine flackernden Augen, die meinem Blick immer auswichen, hatten mir Schauer über den Rücken gejagt.
Amalie hatte mittlerweile ihre fertigen Bilder auf dem Tisch ausgebreitet und malte gerade ein neues. Die Sonne rechts oben in der Ecke bekam Strahlen.
Das Motto der Kunstmesse lautete »Wider alle Vernunft«. Mir kam eine müde Idee. Ich googelte »Spaghetti essen« und fand ein Foto von einem dicken Unternehmer, der eine Nudel einsog - perfekt! Ich googelte weiter und stieß auf einen Sikh mit einem Kussmund, lud beide Fotos herunter - die Auflösung war annehmbar - und machte mich ans Werk. Heraus kam das Bild eines weißen Unternehmers und eines Inders mit Turban, die wie in der Spaghetti-Szene von »Susi und Strolch« an je einem Ende sogen. Ein Agenturfoto wäre natürlich besser gewesen, aber Bäume wachsen ja nicht in den Himmel. Es blieb nur zu hoffen, dass der Kulturfuzzi darauf ansprang. Die Bildrechte konnten mich mal kreuzweise. Die Fotos stammten von einer amerikanischen beziehungsweise italienischen Homepage, und die Wahrscheinlichkeit, dass mein illegales Herunterladen aufflog, war minimal.
Dann kam mir noch der Einfall, T-Shirts mit dem Text »Wider alle Vernunft - Art has no Homeland« zu drucken und sie an die Obdachlosen der Stadt verteilen zu lassen; denn Obdachlose waren bei den sogenannten »Kreativen « gerade der letzte Schrei. Es war hip, wie ein Obdachloser auszusehen, einen zu kennen oder mit einem in Verbindung gebracht zu werden.
Der Kulturfuzzi schluckte die Idee kritiklos, bewunderte den provokanten Aspekt der Kampagne und erkannte nicht, dass es die Arbeit eines Stümpers war. Håkon wurde beinahe schwarz vor Ärger. Ich hatte ihn gebeten, während der Präsentation auf Amalie aufzupassen, und als ich ihm sagte, dass der Deal perfekt sei, verzog er sein Gesicht zu einem so falschen Lächeln, dass Amalie in Tränen ausbrach.
Ich nahm mir den Rest des Tages frei, fuhr mit Amalie nach Hause und überraschte Sara mit einem Abendessen. Als Amalie im Bett lag, setzte ich mich hochzufrieden mit einem Glas Rotwein vor die Kiste. Es war ein selten gelungener Abend.
Es dauerte einen Monat, dann brach die Katastrophe über mich herein. Wie sich herausstellte, war der dicke Unternehmer auf dem Foto gar kein Unternehmer, sondern der Kopf italienischer Faschisten. Ein Journalist hatte ihn wiedererkannt, und so kam der ganze Scheiß ins Rollen. Ein Repräsentant der Dänisch-Indischen Freundschaftsgesellschaft reichte Klage ein und verlangte eine offizielle Entschuldigung von Gott weiß wem. Der Kulturfuzzi schrie herum, das Plakat habe seiner seriösen und erbaulichen Veranstaltung jede Glaubwürdigkeit genommen. Weshalb denn Kunst immer seriös sein müsse, fragte ich ihn und fügte hinzu, er solle sich doch über die kostenlose PR freuen, aber das nahm er mir nicht ab. Zu allem Übel bekam der Faschistenführer auch noch Wind von dieser eigentlich recht unbedeutsamen Sache weit oben im Norden, verbündete sich mit dem Fotografen, der die Bildrechte besaß, und verklagte meinen Arbeitgeber.
Das war Mitte 2008 während der Finanzkrise. Alle Jobs in der Branche hingen am seidenen Faden, und für meinen Chef war es eine willkommene Gelegenheit, einen weiteren Mann zu feuern. Ich musste meinen Mac zusammenklappen und den Kollegen Lebwohl sagen.
Håkon heuchelte große Besorgnis, während ich ihn insgeheim verdächtigte, nicht ganz schuldlos an dem Sturm der Entrüstung gewesen zu sein.
Zunächst nahm ich es nicht so schwer.
Ich schickte Bewerbungen los und hatte auch das eine oder andere Vorstellungsgespräch, aber ich war näher an der vierzig als an der dreißig und damit zu alt für die Werbebranche. Außerdem schienen die Vorstellungsgespräche nicht stattzufinden, weil wirklich eine Stelle besetzt werden musste, sondern aus purer Lust des Gesprächsleiters an der Demütigung. Also gesellte ich mich zu den anderen überqualifizierten Arbeitslosengeldempfängern und gab es schließlich auf, Bewerbungen zu verschicken. Ich erschien zu einem Motivationsgespräch in einem weißen Gemeindebüro, spielte das Spiel mit, ja, hielt es geradezu für meine bürgerliche Pflicht, die Angestellten dort zu beschäftigen.
Mit der Geherei hörte ich auf. Es brachte mir keinen Spaß mehr. Von nun an lag ich auf der Couch oder tigerte in der Wohnung umher. Wenn Sara an der Reihe war, Amalie in den Kindergarten zu bringen, zog ich mich noch nicht einmal mehr richtig an. Ich merkte, wie es sie nervte, mich beim Nachhausekommen immer noch im Morgenmantel vorzufinden, sodass ich darauf achtete, mir etwas anzuziehen, bevor sie Feierabend hatte. Doch nach einer Weile konnte ich mich nicht mehr dazu aufraffen, und es blieben nur noch die Couch und der Kühlschrank. Ich aß immer mehr, ja, hatte nahezu ständig Kohldampf. Nachts wachte ich auf und fantasierte über den Schinkensalat im Dunkel des Kühlschranks, stand auf und schlang ihn stehend hinunter und schüttete literweise Orangensaft in mich hinein. Mittags um zwölf öffnete ich in der Regel das erste Dosenbier, zum Abendessen gab's Wein und abends Whisky. Das sei nur vorübergehend, versuchte ich mir einzureden, wenn es keine Arbeit gab, gab es auch keinen Grund, sich zu bewerben. Aber in einem Jahr oder so, wenn die Konjunktur wieder anzog, würde sich alles bessern, und die Wartezeit bekam ich schon irgendwie rum. Die leeren Bierdosen entsorgte ich, bevor Sara nach Hause kam. Ich weiß nicht, ob ihr auffiel, dass ich schon vor dem Abendessen eine Bierfahne und einen kleinen Schwips hatte, jedenfalls sagte sie nichts.
Eines Tages - ich hatte schon früh mit dem Trinken begonnen und gerade das erste Sixpack geleert und die Dosen entsorgt - rief Sara an und bat mich, Amalie abzuholen, sie müsse Überstunden machen.
Ich lieh mir ihr Fahrrad mit dem Kindersitz. Amalie plapperte über alles Mögliche, während ich mit ihr durch die Stadt nach Hause radelte und Ja und Nein antwortete und hier und da eine Frage stellte. Der Himmel war blau, und die Sonne schien wie auf Amalies Bildern. Eine Familie packte ihr Auto für einen Strandausflug, und ich wurde so sehr von der Stimmung angesteckt, dass ich den Kopf drehte und Amalie fragte, ob wir nicht Vanilleeis und Sprite kaufen sollten. In dem Moment fuhr ich mit dem Vorderreifen gegen einen Bordstein, meine Füße rutschten von den Pedalen, ich verlor die Kontrolle über das Fahrrad, und wir stürzten.
Es sei ja glücklicherweise nur ein Milchzahn, sagten sie in der Ambulanz. Auf meinem zerknitterten Hemd war Amalies Blut. Ich selbst war nicht zu Schaden gekommen.
In der folgenden Woche ertrug ich es nicht, Amalie lächeln zu sehen. Wann immer beim Abendessen ihre Zahnlücke aufblitzte, musste ich einen großen Schluck Rotwein nehmen. Amalie selbst nahm es gelassen. Sara jedoch war total sauer, und nach einer Woche war alles vorbei - sie machte Schluss, als ich wieder mal fressend und trinkend auf der Couch lag. Im Hintergrund lief der Fernseher.
Ich quartierte mich übergangsweise bei meinem Freund Stanley ein, verschickte Sammelmails, sah mir die Wohnungsanzeigen an und schrieb Status-Updates auf Facebook, um schnellstmöglich an eine Wohnung zu kommen. Ab und zu rief ich Sara an, aber sie nahm nicht ab. Ich schlief auf Stanleys Sofa und räumte tagsüber ein bisschen auf, räumte zum Beispiel die Spülmaschine aus, um mich irgendwie für den Schlafplatz zu revanchieren. Stanley schien nichts gegen meine Anwesenheit zu haben. Das Wochenende kam, und wir gingen aus. Stanley war Wirtschaftsjurist, und sie hätten in seiner Firma gerade einen Prozess gewonnen, was wir feiern müssten, wie er sagte. »Außerdem musst du mal rauskommen«, fügte er hinzu. Schließlich landeten wir in einer Konzept- Bar in der Innenstadt. Bis auf uns bestand das Publikum nur aus Amerikanern, die uns gewaltig auf den Senkel gingen, und als sich herausstellte, dass der College-Boy am Tischende heute Geburtstag hatte, improvisierten wir folgendes Ständchen:
How old are you now?
How old are you now?
You'll get cancer in the asshole
And then you'll die.
Ich bog mich vor Lachen. Hochzufrieden verließen wir die Bar. Zu Hause sank ich auf Stanleys Couch, er setzte sich auf einen Stuhl daneben. Wir redeten über Politik und konnten uns nicht darauf einigen, was wir am meisten verabscheuten: den sogenannten rechten Flügel, den sogenannten linken Flügel oder die sogenannte Mitte. Stanley nahm eine Flasche Whisky aus dem Schrank, schenkte uns ein und verfiel in einen Monolog über Single Malt. Wir sprachen von Sara und Amalie. Dann fing Stanley plötzlich an zu weinen und erzählte, dass er schon seit Langem unter seinen dünnen Beinen leide und deshalb zwei Hosen übereinander trage.
Am nächsten Morgen hatten wir einen Kater. Ich briet uns Spiegeleier mit Speck. Stanley aß ein Viertel vom Eiweiß, stach Löcher ins Dotter und verfolgte, wie es herausfloss. Am Sonntag wurde mir eine Einzimmerwohnung im Südhafen angeboten, und ich schlug zu. Stanley und ein Freund halfen mir beim Umzug. Sara war nicht zu Hause, als wir meine Sachen holten. Ich kaufte Stanley als Dank dafür, dass ich auf seinem Sofa hatte schlafen dürfen, eine Flasche Highland Park.
Ein halbes Jahr verging. Ich nahm fünfzehn Kilo zu. Nachdem ich wiederholt wegen eines Katers oder einfach, weil mir in dem Durcheinander das Zeitgefühl abhandengekommen war, die Vorladungen beim Arbeitsamt verpennt hatte, wurde mir der Geldhahn zugedreht - tschüs und auf Wiedersehen! Es folgte die Zeit des Nachtfernsehens. An Werktagen nachts fernzusehen hat etwas. Wenn es fast drei und totenstill in der Wohnung ist und man von einem Eishockeymatch über einen TV-Shop zu einer amerikanischen Serie zappt und sich nach und nach die Sender verabschieden, bis der Bildschirm nur noch Schnee zeigt. Man tritt ans Fenster und betrachtet die Hausfassaden, wo fast alles dunkel ist; dort wohnen vernünftige Menschen, die einen Job haben, und sie schlafen den gesegneten Schlaf der arbeitenden Bevölkerung. Aber in einigen Fenstern brennt noch Licht; nicht der goldorange Schein einer Kerze, sondern das nächtliche Fernsehlicht, der kalte blaue Schein einer Flimmerkiste, die schon seit dem Abendessen läuft. Oder das stoßweise Aufflackern eines Pornos, Pornolicht nenne ich es, man sieht es am rhythmischen Wechsel des Scheins, dieses fleischfarbenen Lichtscheins, der hinter den Gardinen pulsiert. Ich wagte es erst, den Fernseher auszuschalten, wenn ich mich vor lauter Müdigkeit so betäubt fühlte, dass die plötzliche Stille kein zu brutaler Schock wurde.
In meinem Flur häuften sich Mahnungen und Reklame, an der Küchentür volle Müll- und Leerguttüten. Auf meinem Küchentisch wuchsen die Stapel mit schmutzigem Geschirr, an meinem Körper die Fettdepots. Alles türmte und sammelte sich an, bis auf das Geld. Eines Tages war im Supermarkt meine Kreditkarte gesperrt, sodass ich ohne meine Einkäufe von dannen ziehen musste. Ich lieh mir Geld von Freunden, ja, ich schuldete Stanley schon zehntausend Kronen.
Schließlich ging es so nicht mehr weiter. Geplagt von Übelkeit und dem üblichen Kater, nahm ich die S-Bahn in die westlichen Vororte und stieg in Stentofte aus. Ich hatte ein Bewerbungsgespräch.
Ich hatte nochmals fünftausend von Stanley geschnorrt, um die Miete bezahlen zu können, und er hatte mir das Versprechen abgerungen, mir einen Job zu suchen. Ich sagte, dass das unmöglich sei, immerhin hätten wir gerade Finanzkrise. Er erwiderte, wenn man nicht wählerisch sei, lasse sich trotzdem immer irgendwas finden: McD, 7-Eleven, ISS-Gebäudereinigung.
»Es wird dir guttun, du musst mal aus diesem Loch raus«, sagte er grinsend. Er rief mich an jenem Morgen sogar an, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich aufstand. Ich trällerte mit schlaftrunkener, verbitterter Stimme Jodle Birges Wahre Freunde in den Hörer und legte energisch auf. Aber ich kam tatsächlich aus dem Bett, schlüpfte irgendwie in meine Klamotten und schleppte mich zur Station Dybbølsbro. Es handelte sich um eine Stelle als Pflegehelfer.
Ich war noch nie in Stentofte gewesen, und als ich an der S-Bahnstation stand, wusste ich auch, warum. Falls Hieronymus Bosch oder Bruegel 2008 gelebt hätten, hätten sie nicht Skelette missbrauchter Freudenmädchen, im Fegefeuer brutzelnde Menschen oder alles verwüstende Totenheere gemalt, sondern Stentoftes Beton. Wenn du nicht an die Hölle glaubst, setz dich in die Linie B und fahr nach Stentofte.
Natürlich war ich schon mal auf dem Weg nach Jütland mit dem Zug hier durchgefahren, hatte aus dem Abteil das grauenvolle, postmoderne Bahnhofsgebäude gesehen und die übergroße Skulptur Sockel der Lebensfreude, die das Rathaus überragte. Aber ich hatte noch nie auf dem Bahnsteig gestanden. Ich ging zu den Rolltreppen und fuhr hinauf in die Halle. Ein paar junge Männer lungerten oben an den Rolltreppen herum, und es blieb einem nichts anderes übrig, als dicht an ihnen vorbeizugehen. Auch wenn sie einfach nur herumstanden, jagten sie den Passanten Angst ein. Einer warf hinter mir eine Kippe auf die Rolltreppe. Ein anderer räusperte sich und rotzte laut auf den Boden. In der Halle hielten sich ein paar Pendler auf, ein Penner lag schlafend auf einer Bank.
Draußen guckte ich auf die Seite des alten Stadtplans, die ich herausgerissen und in die Hosentasche gesteckt hatte. Ich musste nach rechts, ließ den Sockel der Lebensfreude hinter mir, der wie ein Leuchtturm in den Himmel ragte und mit seiner fröhlichen Farbgebung die Trostlosigkeit dieses Ortes nur noch unterstrich.
An der Ecke des Bahnhofsgebäudes war ein Chinarestaurant. Hier lag der Hund schon lange begraben, und die Fensterscheiben waren weiß getüncht. Trotzdem stand ein magerer Köter davor und kläffte, als ob er hineinwollte. Hinter dem Bahnhofsgebäude schloss sich eine Brache an. Man war wohl davon ausgegangen, dass hier nach der Fertigstellung des Bahnhofs der Wohnungsbau florieren würde, aber daraus war nichts geworden. Danach kam eine viel befahrene Straße, auf der anderen Seite lagen eine Kindertagesstätte und ein Fußballplatz hinter einem hohen Maschendrahtzaun. Dann tauchten die Wohnblöcke auf - und hier wohnte Waldemar.
Es heißt, das perfekte Labyrinth bestehe aus so vielen einheitlichen Modulen wie möglich, und so dauerte es auch nicht lange, bis ich orientierungslos zwischen den identischen grauen Betongebäuden umherirrte. Ich kam zu einem Spielplatz, an dem ich gerade eben schon einmal vorbeigekommen war - dachte ich zumindest -, bis ich die Reste eines Lagerfeuers auf der Rutsche sah. An einer Stelle rückten die Häuser etwas voneinander ab und machten einer ausgedehnten Grünfläche Platz. Ich überquerte sie, es stank nach Hundekacke. Inzwischen war es kurz nach neun, und ich beschloss, wieder nach Hause zu fahren, wenn ich die Nummer 36 in Block 3A nicht binnen zehn Minuten finden würde. Aber das Glück war nicht auf meiner Seite, denn natürlich war der Block am Ende der Rasenfläche genau die 3A.
Waldemar wohnte links im Parterre. Gegenüber waren die Jalousien heruntergelassen, aber ich sah, dass sich jemand von innen daran zu schaffen machte. Waldemars Klingel schien beim ersten Mal nicht zu funktionieren, aber nachdem ich das Plastikrechteck etwas bearbeitet hatte, summte das Schloss, und ich betrat das Treppenhaus.
Während ich vor der Wohnungstür wartete, hörte ich Waldemar auf der anderen Seite mit dem Riegel und der Sicherheitskette rasseln. Ich ahnte, dass sein Nachbar mich durch den Türspion beobachtete. Dann wurde geöffnet.
Waldemar war klein. Kein Zwerg, aber so klein, dass ich erst einmal über seinen Kopf hinweg ins Leere sah. Als ich meinen Blick ein bisschen senkte, sah ich sein Gesicht: Die Haut war weiß wie bei einem Vampir und die Stirn von unzähligen Pickeln übersät. Er hatte ein schwarzes Brillengestell auf, dessen dicke Gläser seine grünen Augen deutlich vergrößerten. Seine schulterlangen schwarzen Haare lagen oben auf dem Kopf platt an und kräuselten sich weiter unten in Korkenzieherlöckchen. Sein Scheitel erinnerte mich an einen Riss in einem Verdunklungsrollo, durch den eisiges Licht hindurchschimmerte. Durch seine schlechte Haltung, die stark an einen Buckel erinnerte, wirkte er noch kleiner.
Auf einem Couchtisch im Wohnzimmer standen zwei Tassen und eine Thermoskanne. Das Zimmer war seltsam unpersönlich; auch wenn ich keinen sonderlich großen Wert darauf lege, dass alles einen persönlichen Stempel tragen muss, wirkte diese Einrichtung so gemütlich wie ein Wartezimmer im Krankenhaus.
»Ich habe echten Kaffee gekocht«, sagte er.
Wir setzten uns an den Tisch, und Waldemar erzählte mir von seinen Krankheiten und Syndromen. Er war ein wandelndes Lexikon seltener und unschöner Leiden, ja, er hatte so viele Krankheiten, dass ich wohl ohne Weiteres einen Mord begangen hätte, um vor derlei verschont zu bleiben.
Mir fiel ein Dokumentarfilm ein, der von einer Frau handelte, die sechsmal vom Blitz getroffen worden war - die gleiche Unwahrscheinlichkeit kam hier zum Tragen.
Waldemar hatte eine Muskelkrankheit, die bewirkte, dass er sich nicht besonders lange bewegen konnte, ohne müde zu werden, außerdem einen Herzfehler. Zweimal schon hatten die Ärzte ihn aufgeschnitten, am Ende aber einhellig konstatiert, dass das Herz wahrscheinlich nicht mehr sonderlich lange durchhalte. Für sie war es vielmehr ein medizinisches Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war. Später dachte ich, dass Waldemar eine übermenschliche körperliche Widerstandsfähigkeit und Ausdauer gehabt haben musste, um auch nur einen Tag mit diesen unzähligen Krankheiten zu überleben. Ein weiteres Syndrom hatte sein Wachstum gehemmt. Heute bin ich mir sicher, dass er ungeheuer stark und ein Riese von mindestens zwei Metern geworden wäre und es unendlich weit gebracht hätte, wenn ihm nicht diese Muskelkrankheit in die Quere gekommen wäre - und er nicht sein ganzes Leben in dieser geistigen Wüste zugebracht hätte. Denn sein Dasein war frei von jeglicher Inspiration und geprägt von menschlicher Abgestumpftheit und der herablassenden Behandlung der Behörden. Außerdem war er der sturste Mensch, dem ich jemals begegnet bin, und ich glaube, dass es vor allem seiner gewaltigen Sturheit geschuldet war, dass der letzte Fetzen seines Herzens noch nicht aufgegeben hatte.
Wie ich im Nachhinein erfuhr, redete Waldemar normalerweise gar nicht so viel über seine Krankheiten, aber in dem Moment dachte er anscheinend, dass das mit zur Arbeitsbeschreibung gehörte. Vielleicht wollte er mich auch damit konfrontieren, dass er jederzeit tot umfallen konnte.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 bei carl's books, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Kristian Bang Foss
Kristian Bang Foss, geboren 1977, veröffentlichte mehrere hochgelobte Romane und gehört zu den wichtigsten jüngeren Autoren seines Landes.Nina Hoyer, geboren 1974, übersetzt seit 15 Jahren aus dem Schwedischen, Dänischen und Norwegischen, u. a. Bücher von Joakim Zander, Leif G. W. Persson und Ingrid Elfberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristian Bang Foss
- 2014, 223 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Nina Hoyer
- Verlag: carl's books
- ISBN-10: 3570585298
- ISBN-13: 9783570585290
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
Rezension zu „Der Tod fährt Audi “
"Zwei Männer, ein Auto, die Liebe und der Tod - das sind die Zutaten für diesen herrlich schrägen Roadtrip." Annabelle
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