Der Torwächter Band 1: Der Torwächter
Ein rätselhafter Turm, der Simon magisch anzieht, zwei leuchtende Augen in der Dunkelheit, die unheimlichen Bilder im Atelier unter dem Dach. Seit Simon in das Haus seines Großvaters umziehen musste, häufen sich die merkwürdigen...
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Produktinformationen zu „Der Torwächter Band 1: Der Torwächter “
Klappentext zu „Der Torwächter Band 1: Der Torwächter “
Ein rätselhafter Turm, der Simon magisch anzieht, zwei leuchtende Augen in der Dunkelheit, die unheimlichen Bilder im Atelier unter dem Dach. Seit Simon in das Haus seines Großvaters umziehen musste, häufen sich die merkwürdigen Ereignisse. Wohin ist sein Großvater so plötzlich verschwunden? Und vor allem, warum? Zusammen mit Ira, einem Mädchen aus dem Dorf, will Simon herausfinden, was hinter all dem steckt, und stößt dabei auf das geheimnisvolle Erbe der Torwächter. Ein Erbe, dem er selbst nicht entgehen kann. Der erfolgreiche Drehbuchautor schafft Spannung bis zur letzten Seite. Das Buch, Auftakt einer Trilogie, ist eine packende Mischung aus Abenteuer-Fantasy und dystopischen Elementen.
Lese-Probe zu „Der Torwächter Band 1: Der Torwächter “
Der Torwächter von Markus Stromiedel© Cecilie Dressler Verlag GmbH, Hamburg, 2012
Vorzeichen
... mehr
Sie gingen den Weg zurück zur Bahnhofshalle, den sie gekommen waren. Simon blickte Ira von der Seite an.
»Danke.« Ira grinste schief.
»Der Kuchen von Tomas' Vater ist echt lecker. Du weißt nicht, was wir verpassen!« Doch sie schien nicht wirklich sauer zu sein, eher gespannt, was sie erwartete.
Gemeinsam durchquerten sie die Halle, vorbei an einem Blumenladen, direkt dahinter sah Simon eine Rolltreppe, sie war lang, er konnte kaum das obere Ende erkennen. Die Stufen glitten an, als sie die Treppe betraten. Langsam fuhren sie hinauf. Simons Magenkribbeln nahm zu.
Im gleichen Augenblick zuckte er zusammen: Wie schon einmal auf der Fahrt hierher, hatte er das Gefühl, als ob die Zeit einen Wimpernschlag lang stoppte.
Er musste sich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Hast du das gespürt?«
»Was denn?«
Simon suchte nach Worten. »So ein ... ein Rucken. So als ob alles ganz kurz anhält. «
Ira schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat die Stufe, auf der du stehst, gewackelt.«
Simon wusste, dass das nicht der Fall gewesen war. Aber er entgegnete nichts - wie sollte er auch etwas erklären, das er selber nicht verstand?
Ein Glitzern ließ ihn aufmerken. Auch Ira war es aufgefallen, denn sie hatte sich so wie Simon umgedreht und blickte die Treppe hinauf. Ein goldenes Glänzen spiegelte sich in der Wand des Treppenschachts.
Es wurde stärker und greller, bis sie das Ende der Rolltreppe erreichten. Geblendet kniffen sie die Augen zusammen: Direkt vor ihnen ragte der Tower in die Höhe. Die Sonne war gerade aufgegangen, sie ließ das gewaltige Hochhaus leuchten. Simon blinzelte in das Licht. Wie ein glühender Feuerdorn ragte der Turm in den Himmel.
Ira war beeindruckt. »Wow!« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Wenn ich nicht wüsste, dass das nicht geht, würde ich sagen, dass er größer geworden ist.«
Sie erzählte, dass sie zuletzt vor einigen Monaten hier gewesen sei, mit Tomas und seinem Vater, er hatte ihnen die Stadt gezeigt.
Simon hörte kaum zu. Fasziniert starrte er den funkelnden Turm an. Er fühlte sich zu ihm hingezogen, aber zugleich auch abgestoßen. Jede Faser seines Körpers sagte ihm, es sei besser, von hier zu verschwinden, doch ein anderer Teil von ihm war fest entschlossen, dem goldglänzenden Gebäude sein Geheimnis zu entreißen. Er würde jetzt nicht umkehren, nicht nach dem langen Weg, den er hierher zurückgelegt hatte. Nicht nach allem, was geschehen war.
Die ersten Anzugträger hatten die City erreicht, sie kamen aus den U-Bahn-Stationen oder strömten aus den Ausgängen der Parkgaragen auf den Platz. Auch Frauen in strengen Business- Kostümen waren unter den Neuankömmlingen.
Ihre Schritte waren schnell und entschlossen und das Klacken ihrer Absätze schallte von den Fassaden zurück. Langsam füllte sich die Fläche zwischen den Hochhäusern. Ira und Simon kletterten auf einen der künstlichen Felsen, die den gepflasterten Teil des Platzes von jenem Teil abgrenzten, der als Park angelegt war. Stumm sahen sie auf die dichter werdende Menschenmenge hinab.
»Siehst du das?« Simon zeigte Ira, was man von hier oben besonders gut beobachten konnte: Obwohl es für viele eine Abkürzung gewesen wäre, direkt am Tower entlangzugehen, mieden alle die Fläche direkt vor dem Haus. Es war, als hätte ein Riese mit einem Zirkel einen Kreis rund um den goldenen Hochhausturm gezogen und jedem Winzling verboten, einen Fuß über die Linie zu setzen. Jeder hielt sich an das Verbot.
Ira stutzte erstaunt und nickte.
»Komm.« Diesmal gab Simon den Ton an, und Ira folgte ihm. Sie durchquerten die Menge und näherten sich der freien Fläche vor dem Tower. An ihrem Rand blieben sie stehen. Keiner der vorbeihastenden Männer und Frauen beachtete sie, so wie auch niemand die kreisrunde freie Fläche rund um das Hochhaus zu bemerken schien. Auch Ira war sie nicht aufgefallen, bis Simon sie darauf hingewiesen hatte.
Ira sah auf. »Was passiert, wenn wir weitergehen?«
»Nichts.«
»Sicher?«
Simon schüttelte den Kopf.
Ira tastete nach seiner Hand, dann schob sie vorsichtig einen Fuß auf die freie Fläche. Nichts geschah. Auch Simon überschritt die unsichtbare Linie, ohne dass etwas passierte.
Gemeinsam, Hand in Hand, gingen sie weiter, bis sie dicht vor dem Gebäude standen. Niemand beachtete sie, es war, als gäbe es sie gar nicht.
»Und jetzt?«
Wortlos hob Simon seine Hand und berührte mit den Fingerspitzen die Fassade.
Sie war kalt, so wie am Vortag. Ein Schauer durchlief ihn. Dann legte er die gesamte Handfläche auf die Wand, einen kurzen Augenblick nur, bevor er seine Hand wieder zurückzog.
Gespannt warteten sie, was geschah.
Wie aus dem Nichts perlten plötzlich kleine Tröpfchen aus der Fassade, glitzernde Kügelchen, die größer wurden und weiterwuchsen, bis eine Hand aus Eiskristallen auf der glatten Fläche entstanden war.
Ira warf Simon einen erstaunten Blick zu. Vorsichtig berührte sie mit ihrem Zeigefinger die Eishand. »Die ist ja kalt!« Sie war verblüfft. »Wie hast du das gemacht?«
»Keine Ahnung. Es passiert einfach.«
Nun legte auch Ira für einen Moment ihre Hand auf die Fassade, direkt neben die glitzernden Eiskristalle. Ihr Handabdruck blieb auf der glatten Fläche zurück wie ein Fingerabdruck auf einem Spiegel.
Gespannt starrten sie auf die Stelle. Nichts geschah.
Die Eishand schmolz derweil, das Wasser tropfte zu Boden und verdampfte in der Wärme.
»Jetzt versteh ich gar nichts mehr.« Ira war ratlos.
Obwohl er ebenso ratlos war, musste Simon grinsen. »Hast du denn vorher irgendwas verstanden?«
Ira lachte. Dann verstummte sie und warf ihm einen scheuen Blick zu. Irgendwie war das alles unheimlich. Simon hob seine Hand, um sie noch einmal auf die Fassade zu legen.
»Was passiert eigentlich«, fragte Ira unvermittelt, »wenn du mit beiden Händen die Wand berührst?« Ihre Stimme klang nachdenklich. Simon stutzte. Dann verstand er, woran sie dachte: an den Moment, als er sie mit beiden Händen angefasst hatte. Er hatte gefühlt, was sie gefühlt hatte.
Aber das war ein Haus, kein Mensch. Dann erinnerte sich Simon daran, was geschehen war, als er das Bild der verlassenen Stadt in seinen Händen gehalten hatte. Langsam hob er die Arme und legte beide Handflächen auf die Fassade.
Er fühlte nichts.
Enttäuscht zog er seine Hände zurück.
Plötzlich, als wäre im Inneren des Gebäudes etwas erwacht, hörten sie ein Dröhnen, und die Fassade begann zu vibrieren. Im gleichen Moment glitt die glänzende Haut des Gebäudes vor ihnen zur Seite.
Der Tower
Simon war erschrocken zurückgewichen, und auch Ira starrte überrascht auf das, was geschehen war: Die Fassade des goldenen Hochhauses hatte sich vor ihnen geteilt, in der eben noch spiegelglatten Fläche war ein weit geöffnetes Tor zu sehen, groß genug, dass ein Lastwagen hätte hindurchfahren können.
Vorsichtig gingen sie durch den Eingang. Sie fanden sich in einer riesigen Halle wieder, die mehrere Stockwerke hoch war und fast die gesamte Breite des Gebäudes einnahm. Die Halle war leer bis auf einen Tresen in der Mitte, hinter dem ein uniformierter Mann saß. Die Front des Tresens leuchtete, genau wie der Boden davor, er sah aus wie die Landebahn eines Flughafens bei Nacht. Die restliche Halle lag im Dunkeln, bis auf die Wand im Rücken des Mannes. Dort hingen mehr als zwanzig leuchtende Uhren, die langsam ihre Farbe wechselten. Unter jeder Uhr sah Simon eine geschlossene Aufzugtür. Lichter blinkten auf den Anzeigetafeln zwischen den Türen.
Der Wachmann war aufgestanden, er starrte zu ihnen herüber und wirkte genauso überrascht wie Simon und Ira.
»Wie habt ihr das gemacht?«, fragte er, während er um den Tresen herumging und auf sie zu kam.
Simon beobachtete den näher kommenden Mann genau. Dann erkannte er ihn: Es war der gleiche Wachmann, der ihn am Tag zuvor weggeschickt hatte.
Kurz überlegte er, ob es vielleicht besser war, wegzurennen. Doch der Wachmann schien nicht ärgerlich zu sein, nur vollkommen verblüfft. Offenbar geschah es nicht oft, dass sich die Wand vor ihm öffnete.
Er wiederholte seine Frage. »Wie habt ihr das hingekriegt, dass sich das Tor öffnet? «
Simon zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ich habe nur meine Hände auf die Fassade gelegt.«
»Unglaublich.« Der Wachmann betrachtete Simon wie ein seltenes Tier.
»Und was wollt ihr hier?«
»Was ist das für ein Gebäude? Können wir uns mal umschauen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Besser, ihr verschwindet. Bevor ihr noch Ärger bekommt.«
Ira zupfte an Simons Ärmel. »Komm, lass uns abhauen.« Sie sah ängstlich aus. Im gleichen Augenblick summte das Funkgerät des Wachmannes, es ragte aus der Brusttasche seiner Uniform heraus. Simon war es vorher nicht aufgefallen. Der Wachmann holte es hervor und hielt es sich an sein Ohr. »Ja?«
Eine leise Stimme war zu hören, Simon konnte nicht verstehen, was sie sagte.
»Es sind zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen«, antwortete der Wachmann. »Der Junge sagt, er hat das Tor geöffnet.«
Die Stimme aus dem Funkgerät zischelte, während der Wachmann zuhörte. Sein Gesicht verzog sich überrascht.
»Aber ...« Er verstummte und horchte wieder, warf Simon einen erstaunten Blick zu. Schließlich nickte er.
»Ja, ich habe verstanden.« Und er steckte das Funkgerät zurück in seine Tasche. Simon musterte ihn misstrauisch. Ihm gefiel der Gesichtsausdruck gar nicht, mit dem der Wachmann ihn ansah. »Ihr könnt euch gerne umsehen und euch alles anschauen.
« Der Wachmann trat einen Schritt zur Seite und wies einladend in die Halle. Seine Stimme klang freundlich. Doch etwas in seinem Blick ließ Simon zögern. Und dann sah er es: Unmerklich schüttelte der Wachmann den Kopf, und sein Mund formte drei lautlose Worte, Simon musste sie von den Lippen ablesen. »Haut ab! Schnell!«
Er stutzte. Hatte er richtig gelesen?
Der Wachmann wiederholte seine freundliche Einladung, aber sein Blick blieb angespannt. Simon tastete nach Iras Hand. Langsam wichen sie zurück. Im gleichen Moment wechselten die Uhren an der Wand ihre Farbe, sie wurden rot, so wie auch die Lichter im Boden rot aufglühten. Die Aufzugtüren öffneten sich, Männer stürzten heraus, es waren Soldaten in silbergrauen Kampfanzügen, sie trugen Helme mit verspiegelten Visieren. Auch in den Seitenwänden der Halle hatten sich Türen geöffnet, von dort kamen ebenfalls Soldaten auf sie zugerannt. Ira reagierte als Erste, sie drehte sich um und rannte los. Simon folgte ihr. Er stolperte, spürte eine Hand, Ira half ihm hoch. Gemeinsam hasteten sie durch das Tor aus der Halle hinaus, um den Soldaten zu entkommen. Aber die uniformierten Männer waren überall. Sie kamen aus Türen, die sich im Turm geöffnet hatten, und verteilten sich auf der freien Fläche vor dem Gebäude, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. Panisch sah Simon sich um. Es gab keine Möglichkeit, zu entkommen, die Soldaten hatten sie eingekreist. Schnell kamen die Männer näher.
»Hilfe!« Simon schrie in seiner Verzweiflung.
»Hilfe!« Auch Ira schrie. Irgendjemand musste sie doch bemerken, irgendwer musste doch sehen, was hier geschah. Doch die Menschen auf dem Platz beachteten sie nicht. Es war, als würde das, was gerade passierte, keinen interessieren.
»Es tut mir leid.« Der Wachmann war ihnen nachgekommen, er sah Simon und Ira mitleidig an. Dann legte er sich auf den Boden, schloss die Augen und bedeckte schützend seinen Kopf mit den Armen.
Simon starrte ihn entsetzt an. Noch einmal schrie er um Hilfe, vergeblich, niemand hörte ihn. Er spürte Iras Hand, sie klammerte sich an die seine. Die Soldaten kamen immer näher. Simon spürte eine eisige Kälte, sie kam von allen Seiten auf sie zu, eine Welle, die heranrollte und über ihnen zusammenschlug. Nur noch wenige Schritte, und die Soldaten würden bei ihnen sein.
Plötzlich huschte etwas quer über den Platz, wie ein heller Blitz, Simon konnte nicht erkennen, was es war, so schnell bewegte es sich. Dann geschah etwas Unglaubliches: Die Soldaten blieben stehen. Nicht, weil sie stehen bleiben wollten. Sie stoppten mitten in der Bewegung, im Laufen, im Sprung, als hätte die Kälte, die sie mit sich brachten, sie eingefroren. Direkt vor Simon hing ein breitschultriger Soldat in der Luft, er hatte die Hände ausgestreckt, um Simon zu packen und zu Boden zu werfen. Jetzt war er ohne Regung, so wie alles um Simon herum. Seine silberne Uniform blinkte matt im Licht der Sonne.
Simon richtete sich auf. Verblüfft sah er sich um. Nichts und niemand bewegte sich. Nicht nur die Soldaten, auch Ira neben ihm stand wie versteinert. Ihr Gesicht war verzerrt, ihr Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Auch auf dem Platz zwischen den Hochhäusern war alles wie eingefroren, die Menschen standen regungslos, als wären sie Teil eines Fotos, das jemand von ihnen gemacht hatte. Selbst das Wasser der Brunnen und Wasserfälle war erstarrt. Doch das hier war kein Foto. Simon konnte sich bewegen, er konnte aufstehen, sich zwischen den Soldaten hindurchschlängeln und fortgehen, als Einziger auf dem ganzen Platz. Fassungslos drehte er sich zu den Soldaten um. Sie sahen aus wie Statuen eines gigantischen Standbildes. Da bemerkte er etwas Seltsames: Die silbergrauen Uniformen der Soldaten waren rissig, und die Fäden schillerten.
Neugierig betrachtete er die Uniform von einem der Männer genauer. Die Fäden waren nicht gewebt, sondern miteinander verklebt, von winzigen Spinnen, die in den Ritzen und Falten des Stoffes saßen. Erstaunt starrte Simon auf das Spinnengewebe, in das der Soldat eingekleidet war.
Langsam wich er zurück. Das, was hier geschah, konnte auf keinen Fall wirklich sein! Er würde gleich aufwachen und in seinem Bett liegen. Oder er würde davonfliegen und in einen anderen Traum eintauchen, und morgen früh wäre alles vorbei.
Doch er flog nicht davon. Und er würde auch nicht in seinem Bett aufwachen. Das hier war die Wirklichkeit.
Panik stieg in ihm auf. Er musste weg hier! Simon begann zu rennen, weg von den Spinnen, weg von den Soldaten, weg von dem goldenen Hochhausturm. Dann fiel ihm Ira ein. Sie war immer noch dort, alleine zwischen den heranstürmenden Soldaten, regungslos wie sie. Er lief zurück zu ihr und versuchte, sie mit sich zu ziehen, doch es war vergeblich, er hätte genauso gut versuchen können, einen Felsbrocken zu bewegen. Hilflos ließ er die Arme sinken.
Da bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er fuhr herum. Nichts rührte sich. Angestrengt spähte Simon durch die erstarrten Soldaten hindurch. Und dann sah er es: Ein Raubtier schlängelte sich zwischen den Beinen der Männer durch, es war ein Leopard, er sprang auf Simon zu.
Die Augen des Tiers leuchteten.
Ashakida
Der Leopard näherte sich ihm bis auf wenige Meter. Simon hielt den Atem an. Dann blieb das Tier stehen. Es musterte ihn forschend. Aus der Nähe sahen seine Augen klug aus und ihr Leuchten wirkte warm anstatt unheimlich. Simons Furcht wich gespannter Aufmerksamkeit. »Wer bist du?« Simon sprach, ohne darüber nachzudenken, ob ein Leopard ihm antworten könnte. Alles war möglich in diesem Augenblick, und so verblüffte es ihn keinen Moment, als das Tier antwortete.
»Ich bin Ashakida.«
Simon stutzte, als er die Stimme hörte: Sie klang weich und sanft, wie die eines Mädchens, und schien nichts mit dem Raubtier zu tun zu haben, das vor ihm stand. Erst als die Leopardin sich umdrehte und ein paar Schritte davonlief, sah Simon, dass die eleganten Bewegungen des Tiers und seine Stimme zueinander passten.
Die Leopardin blickte zurück zu ihm.
»Worauf wartest du? Komm!«
Simon zögerte, der Aufforderung zu folgen.
»Was ist hier passiert?«
»Ich erklär es dir später.«
»Hast du alles angehalten?« Simon wies auf den Platz, auf dem alles erstarrt war.
Die Leopardin nickte ungeduldig.
»Komm jetzt. Wir haben keine Zeit, hier zu reden.«
Simon stutzte. »Die Zeit, natürlich! Du hältst die Zeit an!« Beeindruckt betrachtete er die Leopardin. »Das Rucken, auf dem Weg hierher, das warst auch du, richtig? Und heute Nacht, als ich fast aus dem Fenster gefallen bin, da hast du auch die Zeit gestoppt.«
Die Leopardin fauchte nervös.
»Aber wenn die Zeit stillsteht«, fuhr Simon fort, »warum kann ich mich bewegen? Und Ira nicht?«
Unruhig sah Ashakida sich um. »Hier ist nicht der richtige Ort, um zu reden! Lass uns gehen!«
Simon spürte die Anspannung der Leopardin, die Gefahr war noch nicht gebannt. Dennoch schüttelte er den Kopf.
»Ich kann hier nicht weg. Nicht ohne Ira.«
»Aber du musst!« Nervös peitschte Ashakidas Schwanz hin und her. »Ich weiß nicht, wie lange ich die Zeit noch halten kann.« Simon sah zurück zu Ira, die regungslos zwischen den angreifenden Soldaten stand. Die Soldaten würden sich auf sie stürzen, sobald die Zeit weiterlief. Sie würde keine Chance haben.
»Du musst ihr helfen!«
Die Leopardin bleckte ungeduldig die Zähne. »Dir muss ich helfen. Sie ist unwichtig. «
Simon spürte bei den Worten der Leopardin einen Stich in seinem Herzen.
Obwohl er Ira gerade erst kennengelernt hatte, war der Gedanke, sie hier zurückzulassen, für ihn unvorstellbar. Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist sie nicht! Sie ist nicht unwichtig.«
Ashakida seufzte. »Dein Großvater hatte mich gewarnt, dass du ein Dickkopf wärst.«
»Mein Großvater? Was ist mit ihm? Weißt du, wo er ist?«
Plötzlich ging ein Rucken durch die Soldaten um sie herum, so als hätte ein unsichtbarer Dirigent ihnen ein Zeichen gegeben. Es war nur ein winziger Augenblick, dann standen sie wieder still.
»Was war das?« Simon war erschrocken zurückgewichen.
Statt einer Antwort fletschte die Leopardin ihre Zähne, sie kämpfte mit etwas und sie brauchte ihre ganze Kraft. Ein Stöhnen entwich ihr. Erneut ging ein Ruck durch die Soldaten. Auch die Menschen auf dem Platz bewegten sich ein Stück, bevor sie wieder wie eingefroren dastanden.
Mit drei Sprüngen war Ashakida bei Simon. »Wir müssen uns beeilen!« Sie schnappte nach seiner Hose, um ihn mit sich zu ziehen.
Simon wehrte sich. Die Zähne der Leopardin zerfetzten sein Hosenbein. »Ira muss mit uns kommen!«, sagte er entschlossen.
»Ohne sie gehe ich nicht.«
Ashakida knurrte ärgerlich. Für einen Moment befürchtete Simon, dass sie ihn angreifen würde, doch sie fauchte nur laut und starrte ihn an. Simon sah, wie ihre Augen aufglühten, so als ob sie ihn mit ihren Blicken durchbohren wollte.
Dann spürte er Ashakidas Geist. Es war, als würden ihre Gedanken in ihn eindringen. Obwohl er so etwas zum ersten Mal erlebte, wusste er sofort, was sie vorhatte: Sie wollte ihm ihren Willen aufzwingen. Doch das ließ er nicht zu. Er wollte Ira retten, das war das Einzige, was jetzt zählte.
Sie kämpften eine Weile, dann wich Ashakida zurück. Sie schloss ihre Augen. Erschöpft sah sie ihn an, ihr Blick war nachdenklich geworden. »Dein Großvater hat recht: Wenn uns einer helfen kann, dann du.« Erneut ging ein Ruck durch die Zeit, dann ein zweiter. Simon sah erschrocken, dass der Erste der Soldaten Ira gepackt hatte. Jetzt war ihr Gesicht vor Schmerz verzerrt.
»Hilf ihr! Bitte!«
Ashakida seufzte, dann lief sie zu Ira und biss zu. Krachend bohrten sich die Zähne der Leopardin in Iras steinhartes Bein. Ein Zittern durchlief Ashakida, doch sie ließ nicht locker. Simon sah, wie sich erst Iras Bein zu bewegen begann, dann der Rumpf, die Arme, ihr Kopf. Er sprang der Leopardin zu Hilfe: Gemeinsam zogen sie Iras Arm aus dem Griff des Soldaten, dann packte Simon ihre Hand, um sie aus dem Kreis der Angreifer fortzuführen. Sie stöhnte auf und stolperte mit ihm. Ihre Augen blieben geschlossen. Simon griff ihren Arm, spürte ihren Herzschlag unter seinem Griff, er war unendlich langsam, so als wäre sie betäubt. Wie in Trance stolperte Ira ihm nach. Sie strauchelte, fiel auf die Knie. Mühsam zog Simon sie hoch. »Ashakida, hilf mir.«
Als die Leopardin nicht antwortete, sah Simon zurück zu ihr. Ashakida war dort stehen geblieben, wo er sie zurückgelassen hatte: zwischen den angreifenden Soldaten. Sie wirkte schmaler als zuvor, als habe sie das, was sie getan hatte, unendlich viel Kraft gekostet.
»Geh jetzt«, sagte sie, »schnell! Verlass die Stadt!«
»Aber ...«
»Geh, verdammt noch mal!« Ashakida fauchte auf, Simon wusste nicht, ob aus Wut oder aus Verzweiflung. Ohne ein weiteres Wort packte Simon Iras Arm und zog sie mit sich, an den Soldaten vorbei und weiter über die freie Fläche vor dem Tower. Bevor sie in die Menge der regungslos dastehenden Menschen eintauchten, drehte Simon sich noch einmal um.
Ashakida hatte den Ring der angreifenden Soldaten verlassen, sie stand jetzt am Rand der freien Fläche und sah ihnen nach. Obwohl die Entfernung zwischen ihnen groß war, konnte er verstehen, was sie ihm sagte. »Wir sehen uns wieder. Sehr bald.«
Ihr Körper spannte sich an und mit einigen schnellen, eleganten Sprüngen war sie verschwunden.
Dieser rätselhafte Tower, die seltsam leuchtenden Augen der Leopardin, die eingefrorene Zeit ... Seit Simon in das Haus seines Großvaters umziehen musste, häufen sich solche merkwürdigen Ereignisse. Wo ist sein Großvater jetzt? Und vor allem, warum ist er überhaupt verschwunden? Zusammen mit Ira will Simon mehr über all das herausfinden. Aber dann passieren Dinge, die jede irdische Vorstellungskraft übersteigen ...
Sie gingen den Weg zurück zur Bahnhofshalle, den sie gekommen waren. Simon blickte Ira von der Seite an.
»Danke.« Ira grinste schief.
»Der Kuchen von Tomas' Vater ist echt lecker. Du weißt nicht, was wir verpassen!« Doch sie schien nicht wirklich sauer zu sein, eher gespannt, was sie erwartete.
Gemeinsam durchquerten sie die Halle, vorbei an einem Blumenladen, direkt dahinter sah Simon eine Rolltreppe, sie war lang, er konnte kaum das obere Ende erkennen. Die Stufen glitten an, als sie die Treppe betraten. Langsam fuhren sie hinauf. Simons Magenkribbeln nahm zu.
Im gleichen Augenblick zuckte er zusammen: Wie schon einmal auf der Fahrt hierher, hatte er das Gefühl, als ob die Zeit einen Wimpernschlag lang stoppte.
Er musste sich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Hast du das gespürt?«
»Was denn?«
Simon suchte nach Worten. »So ein ... ein Rucken. So als ob alles ganz kurz anhält. «
Ira schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat die Stufe, auf der du stehst, gewackelt.«
Simon wusste, dass das nicht der Fall gewesen war. Aber er entgegnete nichts - wie sollte er auch etwas erklären, das er selber nicht verstand?
Ein Glitzern ließ ihn aufmerken. Auch Ira war es aufgefallen, denn sie hatte sich so wie Simon umgedreht und blickte die Treppe hinauf. Ein goldenes Glänzen spiegelte sich in der Wand des Treppenschachts.
Es wurde stärker und greller, bis sie das Ende der Rolltreppe erreichten. Geblendet kniffen sie die Augen zusammen: Direkt vor ihnen ragte der Tower in die Höhe. Die Sonne war gerade aufgegangen, sie ließ das gewaltige Hochhaus leuchten. Simon blinzelte in das Licht. Wie ein glühender Feuerdorn ragte der Turm in den Himmel.
Ira war beeindruckt. »Wow!« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Wenn ich nicht wüsste, dass das nicht geht, würde ich sagen, dass er größer geworden ist.«
Sie erzählte, dass sie zuletzt vor einigen Monaten hier gewesen sei, mit Tomas und seinem Vater, er hatte ihnen die Stadt gezeigt.
Simon hörte kaum zu. Fasziniert starrte er den funkelnden Turm an. Er fühlte sich zu ihm hingezogen, aber zugleich auch abgestoßen. Jede Faser seines Körpers sagte ihm, es sei besser, von hier zu verschwinden, doch ein anderer Teil von ihm war fest entschlossen, dem goldglänzenden Gebäude sein Geheimnis zu entreißen. Er würde jetzt nicht umkehren, nicht nach dem langen Weg, den er hierher zurückgelegt hatte. Nicht nach allem, was geschehen war.
Die ersten Anzugträger hatten die City erreicht, sie kamen aus den U-Bahn-Stationen oder strömten aus den Ausgängen der Parkgaragen auf den Platz. Auch Frauen in strengen Business- Kostümen waren unter den Neuankömmlingen.
Ihre Schritte waren schnell und entschlossen und das Klacken ihrer Absätze schallte von den Fassaden zurück. Langsam füllte sich die Fläche zwischen den Hochhäusern. Ira und Simon kletterten auf einen der künstlichen Felsen, die den gepflasterten Teil des Platzes von jenem Teil abgrenzten, der als Park angelegt war. Stumm sahen sie auf die dichter werdende Menschenmenge hinab.
»Siehst du das?« Simon zeigte Ira, was man von hier oben besonders gut beobachten konnte: Obwohl es für viele eine Abkürzung gewesen wäre, direkt am Tower entlangzugehen, mieden alle die Fläche direkt vor dem Haus. Es war, als hätte ein Riese mit einem Zirkel einen Kreis rund um den goldenen Hochhausturm gezogen und jedem Winzling verboten, einen Fuß über die Linie zu setzen. Jeder hielt sich an das Verbot.
Ira stutzte erstaunt und nickte.
»Komm.« Diesmal gab Simon den Ton an, und Ira folgte ihm. Sie durchquerten die Menge und näherten sich der freien Fläche vor dem Tower. An ihrem Rand blieben sie stehen. Keiner der vorbeihastenden Männer und Frauen beachtete sie, so wie auch niemand die kreisrunde freie Fläche rund um das Hochhaus zu bemerken schien. Auch Ira war sie nicht aufgefallen, bis Simon sie darauf hingewiesen hatte.
Ira sah auf. »Was passiert, wenn wir weitergehen?«
»Nichts.«
»Sicher?«
Simon schüttelte den Kopf.
Ira tastete nach seiner Hand, dann schob sie vorsichtig einen Fuß auf die freie Fläche. Nichts geschah. Auch Simon überschritt die unsichtbare Linie, ohne dass etwas passierte.
Gemeinsam, Hand in Hand, gingen sie weiter, bis sie dicht vor dem Gebäude standen. Niemand beachtete sie, es war, als gäbe es sie gar nicht.
»Und jetzt?«
Wortlos hob Simon seine Hand und berührte mit den Fingerspitzen die Fassade.
Sie war kalt, so wie am Vortag. Ein Schauer durchlief ihn. Dann legte er die gesamte Handfläche auf die Wand, einen kurzen Augenblick nur, bevor er seine Hand wieder zurückzog.
Gespannt warteten sie, was geschah.
Wie aus dem Nichts perlten plötzlich kleine Tröpfchen aus der Fassade, glitzernde Kügelchen, die größer wurden und weiterwuchsen, bis eine Hand aus Eiskristallen auf der glatten Fläche entstanden war.
Ira warf Simon einen erstaunten Blick zu. Vorsichtig berührte sie mit ihrem Zeigefinger die Eishand. »Die ist ja kalt!« Sie war verblüfft. »Wie hast du das gemacht?«
»Keine Ahnung. Es passiert einfach.«
Nun legte auch Ira für einen Moment ihre Hand auf die Fassade, direkt neben die glitzernden Eiskristalle. Ihr Handabdruck blieb auf der glatten Fläche zurück wie ein Fingerabdruck auf einem Spiegel.
Gespannt starrten sie auf die Stelle. Nichts geschah.
Die Eishand schmolz derweil, das Wasser tropfte zu Boden und verdampfte in der Wärme.
»Jetzt versteh ich gar nichts mehr.« Ira war ratlos.
Obwohl er ebenso ratlos war, musste Simon grinsen. »Hast du denn vorher irgendwas verstanden?«
Ira lachte. Dann verstummte sie und warf ihm einen scheuen Blick zu. Irgendwie war das alles unheimlich. Simon hob seine Hand, um sie noch einmal auf die Fassade zu legen.
»Was passiert eigentlich«, fragte Ira unvermittelt, »wenn du mit beiden Händen die Wand berührst?« Ihre Stimme klang nachdenklich. Simon stutzte. Dann verstand er, woran sie dachte: an den Moment, als er sie mit beiden Händen angefasst hatte. Er hatte gefühlt, was sie gefühlt hatte.
Aber das war ein Haus, kein Mensch. Dann erinnerte sich Simon daran, was geschehen war, als er das Bild der verlassenen Stadt in seinen Händen gehalten hatte. Langsam hob er die Arme und legte beide Handflächen auf die Fassade.
Er fühlte nichts.
Enttäuscht zog er seine Hände zurück.
Plötzlich, als wäre im Inneren des Gebäudes etwas erwacht, hörten sie ein Dröhnen, und die Fassade begann zu vibrieren. Im gleichen Moment glitt die glänzende Haut des Gebäudes vor ihnen zur Seite.
Der Tower
Simon war erschrocken zurückgewichen, und auch Ira starrte überrascht auf das, was geschehen war: Die Fassade des goldenen Hochhauses hatte sich vor ihnen geteilt, in der eben noch spiegelglatten Fläche war ein weit geöffnetes Tor zu sehen, groß genug, dass ein Lastwagen hätte hindurchfahren können.
Vorsichtig gingen sie durch den Eingang. Sie fanden sich in einer riesigen Halle wieder, die mehrere Stockwerke hoch war und fast die gesamte Breite des Gebäudes einnahm. Die Halle war leer bis auf einen Tresen in der Mitte, hinter dem ein uniformierter Mann saß. Die Front des Tresens leuchtete, genau wie der Boden davor, er sah aus wie die Landebahn eines Flughafens bei Nacht. Die restliche Halle lag im Dunkeln, bis auf die Wand im Rücken des Mannes. Dort hingen mehr als zwanzig leuchtende Uhren, die langsam ihre Farbe wechselten. Unter jeder Uhr sah Simon eine geschlossene Aufzugtür. Lichter blinkten auf den Anzeigetafeln zwischen den Türen.
Der Wachmann war aufgestanden, er starrte zu ihnen herüber und wirkte genauso überrascht wie Simon und Ira.
»Wie habt ihr das gemacht?«, fragte er, während er um den Tresen herumging und auf sie zu kam.
Simon beobachtete den näher kommenden Mann genau. Dann erkannte er ihn: Es war der gleiche Wachmann, der ihn am Tag zuvor weggeschickt hatte.
Kurz überlegte er, ob es vielleicht besser war, wegzurennen. Doch der Wachmann schien nicht ärgerlich zu sein, nur vollkommen verblüfft. Offenbar geschah es nicht oft, dass sich die Wand vor ihm öffnete.
Er wiederholte seine Frage. »Wie habt ihr das hingekriegt, dass sich das Tor öffnet? «
Simon zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ich habe nur meine Hände auf die Fassade gelegt.«
»Unglaublich.« Der Wachmann betrachtete Simon wie ein seltenes Tier.
»Und was wollt ihr hier?«
»Was ist das für ein Gebäude? Können wir uns mal umschauen?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Besser, ihr verschwindet. Bevor ihr noch Ärger bekommt.«
Ira zupfte an Simons Ärmel. »Komm, lass uns abhauen.« Sie sah ängstlich aus. Im gleichen Augenblick summte das Funkgerät des Wachmannes, es ragte aus der Brusttasche seiner Uniform heraus. Simon war es vorher nicht aufgefallen. Der Wachmann holte es hervor und hielt es sich an sein Ohr. »Ja?«
Eine leise Stimme war zu hören, Simon konnte nicht verstehen, was sie sagte.
»Es sind zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen«, antwortete der Wachmann. »Der Junge sagt, er hat das Tor geöffnet.«
Die Stimme aus dem Funkgerät zischelte, während der Wachmann zuhörte. Sein Gesicht verzog sich überrascht.
»Aber ...« Er verstummte und horchte wieder, warf Simon einen erstaunten Blick zu. Schließlich nickte er.
»Ja, ich habe verstanden.« Und er steckte das Funkgerät zurück in seine Tasche. Simon musterte ihn misstrauisch. Ihm gefiel der Gesichtsausdruck gar nicht, mit dem der Wachmann ihn ansah. »Ihr könnt euch gerne umsehen und euch alles anschauen.
« Der Wachmann trat einen Schritt zur Seite und wies einladend in die Halle. Seine Stimme klang freundlich. Doch etwas in seinem Blick ließ Simon zögern. Und dann sah er es: Unmerklich schüttelte der Wachmann den Kopf, und sein Mund formte drei lautlose Worte, Simon musste sie von den Lippen ablesen. »Haut ab! Schnell!«
Er stutzte. Hatte er richtig gelesen?
Der Wachmann wiederholte seine freundliche Einladung, aber sein Blick blieb angespannt. Simon tastete nach Iras Hand. Langsam wichen sie zurück. Im gleichen Moment wechselten die Uhren an der Wand ihre Farbe, sie wurden rot, so wie auch die Lichter im Boden rot aufglühten. Die Aufzugtüren öffneten sich, Männer stürzten heraus, es waren Soldaten in silbergrauen Kampfanzügen, sie trugen Helme mit verspiegelten Visieren. Auch in den Seitenwänden der Halle hatten sich Türen geöffnet, von dort kamen ebenfalls Soldaten auf sie zugerannt. Ira reagierte als Erste, sie drehte sich um und rannte los. Simon folgte ihr. Er stolperte, spürte eine Hand, Ira half ihm hoch. Gemeinsam hasteten sie durch das Tor aus der Halle hinaus, um den Soldaten zu entkommen. Aber die uniformierten Männer waren überall. Sie kamen aus Türen, die sich im Turm geöffnet hatten, und verteilten sich auf der freien Fläche vor dem Gebäude, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden. Panisch sah Simon sich um. Es gab keine Möglichkeit, zu entkommen, die Soldaten hatten sie eingekreist. Schnell kamen die Männer näher.
»Hilfe!« Simon schrie in seiner Verzweiflung.
»Hilfe!« Auch Ira schrie. Irgendjemand musste sie doch bemerken, irgendwer musste doch sehen, was hier geschah. Doch die Menschen auf dem Platz beachteten sie nicht. Es war, als würde das, was gerade passierte, keinen interessieren.
»Es tut mir leid.« Der Wachmann war ihnen nachgekommen, er sah Simon und Ira mitleidig an. Dann legte er sich auf den Boden, schloss die Augen und bedeckte schützend seinen Kopf mit den Armen.
Simon starrte ihn entsetzt an. Noch einmal schrie er um Hilfe, vergeblich, niemand hörte ihn. Er spürte Iras Hand, sie klammerte sich an die seine. Die Soldaten kamen immer näher. Simon spürte eine eisige Kälte, sie kam von allen Seiten auf sie zu, eine Welle, die heranrollte und über ihnen zusammenschlug. Nur noch wenige Schritte, und die Soldaten würden bei ihnen sein.
Plötzlich huschte etwas quer über den Platz, wie ein heller Blitz, Simon konnte nicht erkennen, was es war, so schnell bewegte es sich. Dann geschah etwas Unglaubliches: Die Soldaten blieben stehen. Nicht, weil sie stehen bleiben wollten. Sie stoppten mitten in der Bewegung, im Laufen, im Sprung, als hätte die Kälte, die sie mit sich brachten, sie eingefroren. Direkt vor Simon hing ein breitschultriger Soldat in der Luft, er hatte die Hände ausgestreckt, um Simon zu packen und zu Boden zu werfen. Jetzt war er ohne Regung, so wie alles um Simon herum. Seine silberne Uniform blinkte matt im Licht der Sonne.
Simon richtete sich auf. Verblüfft sah er sich um. Nichts und niemand bewegte sich. Nicht nur die Soldaten, auch Ira neben ihm stand wie versteinert. Ihr Gesicht war verzerrt, ihr Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Auch auf dem Platz zwischen den Hochhäusern war alles wie eingefroren, die Menschen standen regungslos, als wären sie Teil eines Fotos, das jemand von ihnen gemacht hatte. Selbst das Wasser der Brunnen und Wasserfälle war erstarrt. Doch das hier war kein Foto. Simon konnte sich bewegen, er konnte aufstehen, sich zwischen den Soldaten hindurchschlängeln und fortgehen, als Einziger auf dem ganzen Platz. Fassungslos drehte er sich zu den Soldaten um. Sie sahen aus wie Statuen eines gigantischen Standbildes. Da bemerkte er etwas Seltsames: Die silbergrauen Uniformen der Soldaten waren rissig, und die Fäden schillerten.
Neugierig betrachtete er die Uniform von einem der Männer genauer. Die Fäden waren nicht gewebt, sondern miteinander verklebt, von winzigen Spinnen, die in den Ritzen und Falten des Stoffes saßen. Erstaunt starrte Simon auf das Spinnengewebe, in das der Soldat eingekleidet war.
Langsam wich er zurück. Das, was hier geschah, konnte auf keinen Fall wirklich sein! Er würde gleich aufwachen und in seinem Bett liegen. Oder er würde davonfliegen und in einen anderen Traum eintauchen, und morgen früh wäre alles vorbei.
Doch er flog nicht davon. Und er würde auch nicht in seinem Bett aufwachen. Das hier war die Wirklichkeit.
Panik stieg in ihm auf. Er musste weg hier! Simon begann zu rennen, weg von den Spinnen, weg von den Soldaten, weg von dem goldenen Hochhausturm. Dann fiel ihm Ira ein. Sie war immer noch dort, alleine zwischen den heranstürmenden Soldaten, regungslos wie sie. Er lief zurück zu ihr und versuchte, sie mit sich zu ziehen, doch es war vergeblich, er hätte genauso gut versuchen können, einen Felsbrocken zu bewegen. Hilflos ließ er die Arme sinken.
Da bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er fuhr herum. Nichts rührte sich. Angestrengt spähte Simon durch die erstarrten Soldaten hindurch. Und dann sah er es: Ein Raubtier schlängelte sich zwischen den Beinen der Männer durch, es war ein Leopard, er sprang auf Simon zu.
Die Augen des Tiers leuchteten.
Ashakida
Der Leopard näherte sich ihm bis auf wenige Meter. Simon hielt den Atem an. Dann blieb das Tier stehen. Es musterte ihn forschend. Aus der Nähe sahen seine Augen klug aus und ihr Leuchten wirkte warm anstatt unheimlich. Simons Furcht wich gespannter Aufmerksamkeit. »Wer bist du?« Simon sprach, ohne darüber nachzudenken, ob ein Leopard ihm antworten könnte. Alles war möglich in diesem Augenblick, und so verblüffte es ihn keinen Moment, als das Tier antwortete.
»Ich bin Ashakida.«
Simon stutzte, als er die Stimme hörte: Sie klang weich und sanft, wie die eines Mädchens, und schien nichts mit dem Raubtier zu tun zu haben, das vor ihm stand. Erst als die Leopardin sich umdrehte und ein paar Schritte davonlief, sah Simon, dass die eleganten Bewegungen des Tiers und seine Stimme zueinander passten.
Die Leopardin blickte zurück zu ihm.
»Worauf wartest du? Komm!«
Simon zögerte, der Aufforderung zu folgen.
»Was ist hier passiert?«
»Ich erklär es dir später.«
»Hast du alles angehalten?« Simon wies auf den Platz, auf dem alles erstarrt war.
Die Leopardin nickte ungeduldig.
»Komm jetzt. Wir haben keine Zeit, hier zu reden.«
Simon stutzte. »Die Zeit, natürlich! Du hältst die Zeit an!« Beeindruckt betrachtete er die Leopardin. »Das Rucken, auf dem Weg hierher, das warst auch du, richtig? Und heute Nacht, als ich fast aus dem Fenster gefallen bin, da hast du auch die Zeit gestoppt.«
Die Leopardin fauchte nervös.
»Aber wenn die Zeit stillsteht«, fuhr Simon fort, »warum kann ich mich bewegen? Und Ira nicht?«
Unruhig sah Ashakida sich um. »Hier ist nicht der richtige Ort, um zu reden! Lass uns gehen!«
Simon spürte die Anspannung der Leopardin, die Gefahr war noch nicht gebannt. Dennoch schüttelte er den Kopf.
»Ich kann hier nicht weg. Nicht ohne Ira.«
»Aber du musst!« Nervös peitschte Ashakidas Schwanz hin und her. »Ich weiß nicht, wie lange ich die Zeit noch halten kann.« Simon sah zurück zu Ira, die regungslos zwischen den angreifenden Soldaten stand. Die Soldaten würden sich auf sie stürzen, sobald die Zeit weiterlief. Sie würde keine Chance haben.
»Du musst ihr helfen!«
Die Leopardin bleckte ungeduldig die Zähne. »Dir muss ich helfen. Sie ist unwichtig. «
Simon spürte bei den Worten der Leopardin einen Stich in seinem Herzen.
Obwohl er Ira gerade erst kennengelernt hatte, war der Gedanke, sie hier zurückzulassen, für ihn unvorstellbar. Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein, das ist sie nicht! Sie ist nicht unwichtig.«
Ashakida seufzte. »Dein Großvater hatte mich gewarnt, dass du ein Dickkopf wärst.«
»Mein Großvater? Was ist mit ihm? Weißt du, wo er ist?«
Plötzlich ging ein Rucken durch die Soldaten um sie herum, so als hätte ein unsichtbarer Dirigent ihnen ein Zeichen gegeben. Es war nur ein winziger Augenblick, dann standen sie wieder still.
»Was war das?« Simon war erschrocken zurückgewichen.
Statt einer Antwort fletschte die Leopardin ihre Zähne, sie kämpfte mit etwas und sie brauchte ihre ganze Kraft. Ein Stöhnen entwich ihr. Erneut ging ein Ruck durch die Soldaten. Auch die Menschen auf dem Platz bewegten sich ein Stück, bevor sie wieder wie eingefroren dastanden.
Mit drei Sprüngen war Ashakida bei Simon. »Wir müssen uns beeilen!« Sie schnappte nach seiner Hose, um ihn mit sich zu ziehen.
Simon wehrte sich. Die Zähne der Leopardin zerfetzten sein Hosenbein. »Ira muss mit uns kommen!«, sagte er entschlossen.
»Ohne sie gehe ich nicht.«
Ashakida knurrte ärgerlich. Für einen Moment befürchtete Simon, dass sie ihn angreifen würde, doch sie fauchte nur laut und starrte ihn an. Simon sah, wie ihre Augen aufglühten, so als ob sie ihn mit ihren Blicken durchbohren wollte.
Dann spürte er Ashakidas Geist. Es war, als würden ihre Gedanken in ihn eindringen. Obwohl er so etwas zum ersten Mal erlebte, wusste er sofort, was sie vorhatte: Sie wollte ihm ihren Willen aufzwingen. Doch das ließ er nicht zu. Er wollte Ira retten, das war das Einzige, was jetzt zählte.
Sie kämpften eine Weile, dann wich Ashakida zurück. Sie schloss ihre Augen. Erschöpft sah sie ihn an, ihr Blick war nachdenklich geworden. »Dein Großvater hat recht: Wenn uns einer helfen kann, dann du.« Erneut ging ein Ruck durch die Zeit, dann ein zweiter. Simon sah erschrocken, dass der Erste der Soldaten Ira gepackt hatte. Jetzt war ihr Gesicht vor Schmerz verzerrt.
»Hilf ihr! Bitte!«
Ashakida seufzte, dann lief sie zu Ira und biss zu. Krachend bohrten sich die Zähne der Leopardin in Iras steinhartes Bein. Ein Zittern durchlief Ashakida, doch sie ließ nicht locker. Simon sah, wie sich erst Iras Bein zu bewegen begann, dann der Rumpf, die Arme, ihr Kopf. Er sprang der Leopardin zu Hilfe: Gemeinsam zogen sie Iras Arm aus dem Griff des Soldaten, dann packte Simon ihre Hand, um sie aus dem Kreis der Angreifer fortzuführen. Sie stöhnte auf und stolperte mit ihm. Ihre Augen blieben geschlossen. Simon griff ihren Arm, spürte ihren Herzschlag unter seinem Griff, er war unendlich langsam, so als wäre sie betäubt. Wie in Trance stolperte Ira ihm nach. Sie strauchelte, fiel auf die Knie. Mühsam zog Simon sie hoch. »Ashakida, hilf mir.«
Als die Leopardin nicht antwortete, sah Simon zurück zu ihr. Ashakida war dort stehen geblieben, wo er sie zurückgelassen hatte: zwischen den angreifenden Soldaten. Sie wirkte schmaler als zuvor, als habe sie das, was sie getan hatte, unendlich viel Kraft gekostet.
»Geh jetzt«, sagte sie, »schnell! Verlass die Stadt!«
»Aber ...«
»Geh, verdammt noch mal!« Ashakida fauchte auf, Simon wusste nicht, ob aus Wut oder aus Verzweiflung. Ohne ein weiteres Wort packte Simon Iras Arm und zog sie mit sich, an den Soldaten vorbei und weiter über die freie Fläche vor dem Tower. Bevor sie in die Menge der regungslos dastehenden Menschen eintauchten, drehte Simon sich noch einmal um.
Ashakida hatte den Ring der angreifenden Soldaten verlassen, sie stand jetzt am Rand der freien Fläche und sah ihnen nach. Obwohl die Entfernung zwischen ihnen groß war, konnte er verstehen, was sie ihm sagte. »Wir sehen uns wieder. Sehr bald.«
Ihr Körper spannte sich an und mit einigen schnellen, eleganten Sprüngen war sie verschwunden.
Dieser rätselhafte Tower, die seltsam leuchtenden Augen der Leopardin, die eingefrorene Zeit ... Seit Simon in das Haus seines Großvaters umziehen musste, häufen sich solche merkwürdigen Ereignisse. Wo ist sein Großvater jetzt? Und vor allem, warum ist er überhaupt verschwunden? Zusammen mit Ira will Simon mehr über all das herausfinden. Aber dann passieren Dinge, die jede irdische Vorstellungskraft übersteigen ...
... weniger
Autoren-Porträt von Markus Stromiedel
Markus Stromiedel hat schon als Kind davon geträumt, irgendwann einmal eine Tür zu öffnen, hindurchzugehen und sich plötzlich in einer neuen fremden Welt wiederzufinden. Aber er musste erst die Schulzeit, seine Ausbildung zum Journalisten und sein Studium abwarten, bis ihm das gelang: Sein erstes Drehbuch entwarf er mit fast 30 Jahren. Seither schreibt Markus Stromiedel vor allem Krimis für das Fernsehen. Aus seiner Feder stammt zum Beispiel die Figur des Kieler Tatort-Kommissar Klaus Borowski. Seit einigen Jahren schreibt Markus Stromiedel auch als Buchautor erfolgreiche Thriller für Erwachsene. „Der Torwächter" ist sein erstes Buch für jüngere Leser - wieder ein Schritt in eine neue aufregende Welt. Wenn Markus Stromiedel nicht in fremden Welten unterwegs ist, lebt er mit seiner Familie in Bonn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Markus Stromiedel
- Altersempfehlung: 11 - 13 Jahre
- 2012, 302 Seiten, Maße: 16 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Dressler Verlag GmbH
- ISBN-10: 3791519433
- ISBN-13: 9783791519432
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