Der Traum der Hebamme
Wie geht es weiter mit der Hebamme Marthe und ihren Kindern Thomas und Clara? Der krönende Höhepunkt und voraussichtlich letzte Band der erfolgreichen Hebammen-Reihe.
1191: Marthes Sohn Thomas kehrt vom Kreuzzug mit Kaiser...
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Produktinformationen zu „Der Traum der Hebamme “
Wie geht es weiter mit der Hebamme Marthe und ihren Kindern Thomas und Clara? Der krönende Höhepunkt und voraussichtlich letzte Band der erfolgreichen Hebammen-Reihe.
1191: Marthes Sohn Thomas kehrt vom Kreuzzug mit Kaiser Barbarossa zurück. Doch statt des erhofften Friedens erwarten ihn in der Heimat neue Unruhen. Der grausame Albrecht, der über die Mark Meißen herrscht, greift seinen Bruder Dietrich an. Thomas, der mit Dietrich verbündet ist, steht ihm zur Seite. Doch dafür muss er wieder zu den Waffen greifen. Und Dietrich bleibt keine Wahl: Er geht ein Bündnis mit dem Landgrafen von Thüringen ein. Auch wenn er sich dafür mit dessen Tochter verloben muss. Ein harter Schritt, denn Dietrich liebt seit langem Marthes Tochter Clara.
SPIEGEL Bestseller Platz 1 (41/2011)!
Lese-Probe zu „Der Traum der Hebamme “
Der Traum der Hebamme von Sabine EbertHerbst 1191, einige Meilen vor Weißenfels
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Den halben Tag schon goss es in Strömen. Scheinbar gleichmütig lenkten die durchnässten Reisenden ihre Pferde den Pfad entlang, während der Wind ihnen den Regen ins Gesicht trieb. Von ihren Umhängen liefen Rinnsale, das Banner hing vor Nässe zusammengeklebt und schlaff herab, die Hufe ihrer Pferde ließen das Wasser von den Pfützen aufspritzen.
Schon lange hatte niemand mehr ein Wort gesagt. Lediglich ein Räuspern oder ein Husten waren dann und wann zu hören. Vor allem die beiden Reiter an der Spitze des kleinen Zuges - ein Graf von etwa dreißig Jahren und ein Ritter Anfang zwanzig, beide sonnenverbrannt und sehnig, mit ernsten, düsteren Mienen - wirkten ganz in Gedanken versunken.
Die Überlegungen des einen flogen voraus, was ihn wohl erwarten mochte, wenn er nach zweieinhalbjähriger Abwesenheit auf seine Ländereien heimkehrte.
Die Gedanken des Jüngeren hingegen waren ganz in der Vergangenheit gefangen - bei alldem, was er während des Kreuzzuges erlebt hatte, von dem sie gerade zurückkamen. Bei den Männern, die er sterben sah, unter ihnen sein bester Freund, und bei den unsäglichen Opfern, die dieser Kriegszug durch Verrat und unheilvolle Streitereien gekostet hatte.
Der Graf von Weißenfels drehte sich um und beorderte mit einer Geste den Anführer der Reisigen zu sich, die er unterwegs in seine Dienste genommen hatte.
»Drei Meilen voraus müsste ein Dorf mit einem Wirtshaus sein, sofern es nicht inzwischen niedergebrannt oder aufgegeben ist. Reite vor und kündige uns an. Das Essen soll bereitstehen, wenn wir kommen, die Pferde brauchen Hafer. Wir halten uns dort nur so kurz wie möglich auf. Ich will noch vor Anbruch der Dämmerung die Burg erreichen.«
Der Anführer verneigte sich und galoppierte ohne ein weiteres Wort davon.
Seine Männer hatten den Befehl gehört und blieben stumm. Es war sinnlos, zu hoffen, in der Schankstube die Kleider trocknen zu können, wenn sie sowieso gleich wieder hinausmussten. Und der Himmel sah nicht aus, als würde es heute noch zu regnen aufhören. Je kürzer die Rast, umso eher würden sie auf Dietrichs Burg Weißenfels ankommen und sich dort aufwärmen können.
Das Gasthaus an der Wegkreuzung existierte wirklich noch. Der Wirt, ein behäbiger Mann mit ruß- und fettverschmiertem Kittel, war trotz des Regens nach draußen gekommen, um die Gäste mit einer tiefen Verbeugung zu begrüßen. Wortreich beteuerte er, sie seien hier bestens aufgehoben und ein warmes Mahl vorbereitet.
Er gab seinen Stallknechten ein paar Befehle, dann schlurfte er zurück zum Haus und verharrte kurz unter dem Türbalken, um seine triefend nasse Bundhaube abzunehmen und auszuwringen.
»Ich bleibe bei den Pferden und habe ein Auge darauf, dass sie gut versorgt werden«, bot Thomas, der junge Ritter, dem Grafen an.
Der musterte seinen Gefolgsmann und Kampfgefährten kurz mit prüfendem Blick, stimmte aber mit einem Nicken zu. Den Jüngeren überkam wieder einmal das beunruhigende Gefühl, Graf Dietrich würde seine Gedanken lesen und die Beweggründe für das Angebot erkennen.
Die Pferde, die sie sich nach der Fahrt übers Meer von dem Sold gekauft hatten, den der französische König ihnen im Heiligen Land für ihren Einsatz bei der Belagerung und Eroberung Akkons gezahlt hatte, waren nicht so edel wie die, die sie üblicherweise ritten, jedoch unentbehrlich und völlig erschöpft. Die Pferdeknechte des Schankhauses gaben sich sichtlich Mühe, sie gut zu versorgen. Wahrscheinlich hofften sie auf diesen oder jenen Hälfling zusätzlich für ihre Arbeit.
Allerdings verspürte Thomas schon beim ersten Anblick des Wirtes Misstrauen. Vielleicht lag das auch daran, dass er überhaupt jegliches Vertrauen in die Welt verloren hatte. Hauptsächlich aber wollte er allein sein und seine Gedanken sammeln, bevor sie heute Abend Graf Dietrichs Burg erreichten, zu der sie seit Wochen unterwegs waren. Sich wappnen für das, was ihn dort an schlimmen Nachrichten erwarten mochte. Fern der Heimat, in Outremer, hatten sie vom Machtantritt des neuen Markgrafen von Meißen erfahren, Dietrichs älterem Bruder Albrecht von Wettin. Thomas wusste nicht, wie es seiner Familie seitdem ergangen war. Ob sie in Freiberg bleiben durfte oder vor dem blutrünstigen Herrscher fliehen musste, der schon Thomas' Vater hatte ermorden lassen.
Wenn die Dinge schlecht verlaufen waren, würde er seine zwei Jahre jüngere Schwester in Weißenfels vorfinden. Ihr hatte Graf Dietrich auf seiner Burg Zuflucht versprochen. Vielleicht hatte sich sogar seine gesamte Familie dort in Sicherheit bringen können.
Aber wenn die Dinge ganz schlecht in der Mark Meißen standen, dann würde niemand von seiner Familie in Weißenfels auf ihn warten.
Dann waren alle tot. Und Thomas selbst hatte auch noch eine Todesnachricht zu überbringen: an die Eltern seines besten Freundes Roland. Diese bittere Pflicht konnte ihm keiner abnehmen. Auch wenn er den Hals riskierte, indem er Raimunds Ländereien in der Mark Meißen aufsuchte - er musste es tun. Vermutlich war immer noch ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Albrecht von Wettin, der nunmehrige Herrscher der Mark Meißen, würde nicht vergessen haben, dass Thomas dem Kaiser die Nachricht überbrachte, wie er seinen Vater, den alten Markgrafen Otto, gefangen genommen hatte, um die Macht an sich zu reißen. Und noch weniger würde Albrecht ihm nachsehen, in die Dienste seines verhassten jüngeren Bruders getreten zu sein. Dass sie auf Pilgerreise ins Heilige Land gewesen waren, würde weder Thomas noch Dietrich helfen, auch wenn Wallfahrer unter dem Schutz des Papstes standen. Kein Einziger der Kreuzfahrer war bis nach Jerusalem gekommen. Die wenigen vom einst viele tausend Mann starken Heerbann des Kaisers Friedrich von Staufen, die die Angriffe auf dem Marsch, die Hitze, den Weg durch die Steppe ohne Wasser und Nahrung und die Schlachten überlebt hatten, die nicht von Seuchen dahingerafft worden oder bei der fast zweijährigen Belagerung Akkons schlicht verhungert waren, folgten unmittelbar nach der Einnahme der Stadt ihrem Anführer Leopold von Österreich und kehrten zurück in die Heimat, weil der englischen König Richard den Herzog zutiefst beleidigt hatte.
Eine verschlafen wirkende Schankmagd kam in den Stall, sah sich suchend um, dann stakste sie auf den jungen Ritter zu, knickste und reichte ihm einen großen Becher Bier und eine Schüssel mit dampfend heißer Kohlsuppe, in der ein paar gräuliche Fleischbrocken schwammen.
Thomas schüttelte sein tropfnasses dunkles Haar und strich es zurück, ehe er beides entgegennahm. Er stellte die Suppe auf einem Querbalken ab und trank einen Schluck Bier, ohne auf den Geschmack zu achten. Die Knechte hatten den Pferden inzwischen Wasser gegeben und Hafersäcke umgebunden, ihnen die Sättel abgenommen und sie mit Stroh trockengerieben. Dann gingen sie nach einer Verbeugung vor dem Ritter hinaus. Thomas hörte noch, wie ihnen jemand über den Hof zurief, einer solle mehr Brennholz bringen und ein anderer zwei Eimer Wasser vom Brunnen holen.
Er lehnte sich an einen Pfosten und verlor sich in Erinnerungen, während die Suppe neben ihm erkaltete.
Ein leises Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken.
Mit ein paar gewaltigen Sätzen war er in der Ecke, in der er einen Schemen wahrgenommen hatte, riss den Mann hoch, der sich angeschlichen hatte, und wuchtete ihn gegen die hölzerne Rückwand des Stalls, die unter dem Aufprall erbebte.
»Was hast du hier zu suchen?«, brüllte er. Der zu Tode erschrockene Fremde umklammerte das Messer, mit dem er sich am Gurt des prächtigsten Sattels - dem Graf Dietrichs - zu schaffen gemacht hatte.
Ein gedungener Mörder!, war Thomas' einziger Gedanke, als er bemerkte, dass der Gurt angeschnitten war. Plötzlich rauschte ihm wieder das Blut durch die Adern, wie auf dem Schlachtfeld sah er nichts weiter als das Gesicht des Mannes, den es zu töten galt. Er zog sein Schwert mit einer so schnellen Bewegung, dass der andere nicht fliehen konnte, holte aus und schlug ihm mit aller Wucht den Kopf ab.
Dann drehte er sich um, ohne noch einen Blick auf den enthaupteten Leichnam zu werfen, und ging zurück zu dem Pfosten. Keuchend von der Anstrengung, sank er auf ein Knie. Nach einigen Atemzügen stemmte er sich wieder hoch und wischte die blutige Klinge mit einer Handvoll Heu ab.
Sein Geschrei war trotz des trommelnden Regens bis ins Gasthaus durchgedrungen; der erschrockene Wirt, der Anführer der Reisigen und fünf seiner Männer rannten herbei. Augenblicke später folgte ihnen Graf Dietrich mit langen Schritten.
»Dieser Kerl hat Euern Sattelgurt angeschnitten, mein Fürst!«, berichtete Thomas. Beschämt senkte er den Kopf. »Verzeiht meine Unbeherrschtheit. Ich hätte ihn fragen sollen, wer ihn geschickt hat.«
Der Graf betrachtete das abgemagerte, ernste Gesicht des jungen Mannes mit den umschatteten Augen.
»Für Eure Wachsamkeit danke ich Euch«, sagte er und wandte sich an den Wirt, der entsetzt auf den Leichnam starrte. »Kennst du diesen Mann?«, fragte er streng.
Mit der Fußspitze stieß der Wirt gegen den Kopf des Toten, um einen Blick auf dessen Gesicht werfen zu können, und bekreuzigte sich. »Das ist einer von den Gesetzlosen, die hier die Wege unsicher machen. Seht, er hat das Henkersmal! Er sollte letzten Sommer gehenkt werden, weil er eine junge Frau und ihren Säugling erschlagen hatte. Doch der Strick riss, so kam er frei. Sicher wollte er die silbernen Beschläge stehlen.«
Nun sank der Wirt vor Dietrich auf die Knie und verschlang die schmutzigen Finger ineinander.
»Glaubt mir, ich habe nichts damit zu tun, edler Herr!«, barmte er. »Ich führe ein ehrliches Haus. Das wird Euch jeder in der Gegend bezeugen. Die Dörfler werden Euerm Ritter dankbar sein, dass er sie von einem der Unholde befreit hat, die das Land wie eine Plage überziehen.«
Ohne ein weiteres Wort wies Dietrich an, den Wirt für das Essen und die Versorgung der Pferde zu bezahlen, dann ließ er seine Männer wieder aufsitzen.
Einer der Reisigen tauschte den angeschnittenen Sattelgurt gegen einen anderen aus. Danach ritten die Männer erneut durch den strömenden Regen.
Die erkaltete Suppe blieb unbeachtet auf dem Balken stehen, bis einer der Knechte in den Stall huschte und sie gierig ausschlürfte.
Wie zuvor ritt Thomas an Dietrichs Seite, und abermals fiel kein Wort zwischen beiden. Als sie sich Weißenfels näherten, hatten sie Mühe, in dem dichten Regen die Umrisse der Burg zu erkennen.
»Sollte ich nicht lieber vorausreiten und nachschauen, ob Euch nicht Feinde oder eine Falle erwarten?«, fragte Thomas, bevor sie die Siedlung Tauchlitz unterhalb der Burg erreichten. »Nein«, entgegnete Dietrich entschieden. »Ich werde mich weder verstecken noch heranschleichen, wenn ich endlich auf mein Land zurückkehre.«
Er war zweieinhalb Jahre fort gewesen und wollte jetzt mit eigenen Augen sehen, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Deshalb hatte er auch niemanden vorausgeschickt, der seine Ankunft ankündigte.
Thomas zwang nur mit Mühe eine Entgegnung hinunter. Nachdem Albrecht sich gegen seinen Vater erhoben hatte- was sollte ihn daran hindern, auch den jüngeren Bruder aus dem Weg zu räumen? Vielleicht hatte er Weißenfels inzwischen längst eingenommen?
Doch in diesem Punkt schien Dietrich entgegen aller Vernunft so stur wie sein Lehrmeister, Thomas' Vater Christian, den dies das Leben gekostet hattet.
Also blieb dem jungen Ritter vorerst nichts weiter als ein stummes Gebet, dass sie diesen Abend überlebten und nicht unmittelbar den Feinden in die Hände gerieten.
Kein Mensch hielt sich bei diesem Wetter in den schlammigen, mit Pfützen übersäten Gassen von Tauchlitz auf, nicht einmal ein paar streunende Hunde ließen sich blicken. Lediglich ein Schwein wühlte im Unrat nach etwas Fressbarem, ohne die Schar der Ankömmlinge zu beachten.
In mäßigem Tempo ritten sie den Berg hinauf zum Burgtor. Dort hatten sich mehrere Wachen versammelt, um zu sehen, wer sich in Dämmerung und strömendem Regen mit unkenntlichem Banner näherte.
Der Wettiner gab seinen Begleitern das Zeichen zu halten und lenkte seinen Hengst nach vorn. Da erst erkannte ihn einer der Männer, der älteste von ihnen.
»Graf Dietrich! Gott sei gedankt, dass wir Euch hier wieder lebend und gesund begrüßen können! Willkommen daheim, Hoheit! «
Seine Stimme überschlug sich vor Freude bei diesen Worten. Gemeinsam mit den anderen kniete er nieder und senkte den Kopf.
Dietrich begrüßte die Männer der Wachmannschaft, und als er ihnen erlaubte aufzustehen, rannte der Älteste humpelnd los und rief über den ganzen Burghof: »Der Graf ist zurück! Graf Dietrich ist aus dem Heiligen Land zurück! Kommt und heißt Euren Herrn willkommen!«
Rasch füllte sich der Burghof trotz des Regens mit Wachen, Knechten, Mägden, Reisigen, die von allen Seiten herbeigerannt kamen, um das leibhaftige Wunder zu sehen.
Die meisten von ihnen knieten nieder und bekreuzigten sich, andere riefen erleichtert Segenssprüche. Die Stallburschen beeilten sich, den Weitgereisten aus dem Sattel zu helfen und ihnen die erschöpften Pferde abzunehmen.
Unruhig hielt Thomas Ausschau unter den vielen Menschen, aber er vermochte weder seinen Stiefvater noch seine Mutter zu sehen, auch keinen seiner jüngeren Brüder. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Und wo blieb Clara, seine Schwester? Er konnte einfach nicht glauben, dass alle gesund und am Leben waren.
Hatte Albrecht sie am Ende alle töten lassen? Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu.
Dann entdeckte er Clara, die mit aufgewühlten Gesichtszügen auf ihn zulief. Es war für ihn so ungewohnt, seine jüngere Schwester mit Schleier und Gebende zu sehen, dass er sie beinahe nicht erkannt hätte. Also hatte sie nach seiner Flucht geheiratet? War sie jetzt die Ehefrau dieses Reinhard, den er nicht ausstehen konnte, den jedoch sein Stiefvater für sie bestimmt hatte, weil er sie seiner Meinung nach am besten beschützen konnte? Aber wo steckte der? In weniger als einem Lidschlag schossen ihm diese Gedanken durch den Kopf, und schon wollte der alte Hass gegen Reinhard erneut in ihm aufwallen.
Doch dann sah er in Claras Gesicht und fühlte die gleiche Freude wie sie, als sie sich in die Arme fielen.
»Du lebst!«, rief sie glücklich. Einen Moment später löste sie sich vorsichtig von ihrem Bruder, wandte sich Dietrich zu und kniete mit gesenktem Kopf vor ihm nieder.
»Seid gegrüßt, Hoheit«, sagte sie leise mit merkwürdig flatternder Stimme, ohne den Blick zu heben. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir hier Schutz und Obdach gewährt habt.«
Dietrich schien ihre Verlegenheit nicht zu bemerken - und wenn er es tat, so gab er das nicht zu erkennen. Er reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, und sagte mit selten gewordenem Lächeln: »Ich freue mich, Euch zu sehen. Doch lasst Euch nicht aufhalten und heißt zuerst Euren Bruder willkommen. Er war in großer Sorge um Euch. Und ich war es auch.«
Mit einem Mal sehr ernst, wandte sich Clara wieder Thomas zu. »Wo ist Roland?«, fragte sie. An der Art, wie sie ihn ansah, wusste er, dass sie die Antwort schon ahnte.
Clara schluchzte auf, als er nichts sagte, sondern sich seine Züge noch mehr verfinsterten.
»Ich soll dir von ihm Grüße ausrichten ... Das waren seine letzten Worte ... Er hat dich sehr geschätzt ...«, brachte er mit Mühe heraus. Dabei zerriss ihn beinahe, was er nicht aussprechen durfte: Er hat dich geliebt, von ganzem Herzen geliebt, er wollte um deine Hand anhalten. Stattdessen mussten wir fliehen und dich diesem Reinhard überlassen. Auf diesem ganzen verfluchten Kriegszug dachte er an dich und hoffte, er könnte dich noch freien, wenn er zurückkehrt. Doch dann traf ihn ein Pfeil, als alles schon fast vorbei war, bei einem sinnlosen Scharmützel vor Akkon. Und seine wahren letzten Worte waren: Sag Clara nichts! Ich soll dir nicht verraten, wie sehr er dich geliebt hat, damit du nicht noch mehr um ihn trauerst...
Thomas zog seine Schwester an sich und hielt sie in seinen Armen, und er hätte beim besten Willen nicht sagen können, wer dabei wem Halt und Stärke gab.
Nur nebenher bekam Thomas mit, dass sich Dietrich nach dem Befinden seiner Mutter erkundigte und jemand ihm mitteilte, die Fürstin Hedwig sei von Markgraf Albrecht auf ihren Witwensitz nach Burg Seußlitz geschickt worden. Doch sie sende regelmäßig Nachricht und sei bei guter Gesundheit.
»Wie geht es Mutter und Lukas? Und unseren Brüdern?«, fragte Thomas seine Schwester leise, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete.
»Sie leben«, antwortete Clara zu seiner großen Erleichterung. »In Eisenach, in Diensten von Landgraf Hermann.«
Sie schniefte, wischte sich die Tränen unbeholfen mit dem Ärmel ab und löste sich aus der Umarmung. Wieder sah sie zu Graf Dietrich, der nahe genug stand, um diese Antwort mitbekommen zu haben.
»Euer Bruder wollte meinen Stiefvater und meine Mutter töten lassen. Es waren schreckliche Tage, doch gegen jede Hoffnung gelang ihnen die Flucht aus dem Kerker. Eure Mutter bat sie, sich Thüringen als Exil zu wählen. Sie sollen dort bei Landgraf Hermann Fürsprache einlegen, damit er Euch beisteht, falls Euer Bruder Euch angreift - was wir alle befürchten.«
»Wie ich sehe, gibt es Dringendes zu besprechen«, meinte Dietrich. Er winkte den untersetzten, graubärtigen Mann herbei, der ihm feierlich den Willkommenspokal überreicht hatte, und einen Hageren von etwa fünfzig Jahren mit dunkelbraunem Haar; der guten Ausrüstung nach wahrscheinlich der Befehlshaber der Burgbesatzung.
»Wünscht Ihr, dass Euch ein Bad bereitet wird?«, erkundigte sich der Graubart.
So verlockend der Gedanke für Dietrich war, im warmen Wasser von der langen Reise auszuruhen - das musste warten.
»Gehen wir in meine Kammer. Ich möchte von Euch zuerst die wichtigsten Dinge erfahren, die sich in meiner Abwesenheit zugetragen haben. Mein Ritter und seine Schwester sollen uns begleiten.«
Die kleine Gruppe überquerte den Burghof Richtung Palas, der sich in der Mitte des Felsplateaus befand, während immer wieder Leute vor Dietrich niederknieten und ihn willkommen hießen.
Auf etlichen Gesichtern stand unübersehbar die Frage, was aus all den Männern geworden war, die mit ihm ins Heilige Land gezogen waren. Doch diese Frage würde er erst nachher beantworten, vor allen in der Halle.
»Lebt Ihr hier unter Euerm wahren Namen?«, wandte sich Dietrich flüsternd an Clara. Mit Bedacht hatte er sie vor aller Ohren nur als »Schwester seines Ritters« bezeichnet. Sie hatten vor seiner Abreise durchaus die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie in Weißenfels unter falschem Namen Zuflucht suchen musste, um vor seinem Bruder sicher zu sein.
»Nur Euer Burgkommandant kennt meine wahre Herkunft«, berichtete Clara ebenso leise. »Er riet mir, hier bloß meinen zweiten Namen zu benutzen, Maria. Die anderen wissen lediglich, dass ich eine junge Witwe bin. Sie glauben, dass Fürstin Hedwig mich und mein Kind hierherschickte, damit ich nach dem Tod meines Gemahls etwas Ruhe und Abgeschiedenheit finde.«
Sie ist Witwe! Und sie hat ein Kind von Reinhard!
Thomas zuckte zusammen bei diesen Neuigkeiten. Dabei entging ihm, dass auch Dietrich Mühe hatte, jede Regung in seinen Gesichtszügen zu unterdrücken.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Den halben Tag schon goss es in Strömen. Scheinbar gleichmütig lenkten die durchnässten Reisenden ihre Pferde den Pfad entlang, während der Wind ihnen den Regen ins Gesicht trieb. Von ihren Umhängen liefen Rinnsale, das Banner hing vor Nässe zusammengeklebt und schlaff herab, die Hufe ihrer Pferde ließen das Wasser von den Pfützen aufspritzen.
Schon lange hatte niemand mehr ein Wort gesagt. Lediglich ein Räuspern oder ein Husten waren dann und wann zu hören. Vor allem die beiden Reiter an der Spitze des kleinen Zuges - ein Graf von etwa dreißig Jahren und ein Ritter Anfang zwanzig, beide sonnenverbrannt und sehnig, mit ernsten, düsteren Mienen - wirkten ganz in Gedanken versunken.
Die Überlegungen des einen flogen voraus, was ihn wohl erwarten mochte, wenn er nach zweieinhalbjähriger Abwesenheit auf seine Ländereien heimkehrte.
Die Gedanken des Jüngeren hingegen waren ganz in der Vergangenheit gefangen - bei alldem, was er während des Kreuzzuges erlebt hatte, von dem sie gerade zurückkamen. Bei den Männern, die er sterben sah, unter ihnen sein bester Freund, und bei den unsäglichen Opfern, die dieser Kriegszug durch Verrat und unheilvolle Streitereien gekostet hatte.
Der Graf von Weißenfels drehte sich um und beorderte mit einer Geste den Anführer der Reisigen zu sich, die er unterwegs in seine Dienste genommen hatte.
»Drei Meilen voraus müsste ein Dorf mit einem Wirtshaus sein, sofern es nicht inzwischen niedergebrannt oder aufgegeben ist. Reite vor und kündige uns an. Das Essen soll bereitstehen, wenn wir kommen, die Pferde brauchen Hafer. Wir halten uns dort nur so kurz wie möglich auf. Ich will noch vor Anbruch der Dämmerung die Burg erreichen.«
Der Anführer verneigte sich und galoppierte ohne ein weiteres Wort davon.
Seine Männer hatten den Befehl gehört und blieben stumm. Es war sinnlos, zu hoffen, in der Schankstube die Kleider trocknen zu können, wenn sie sowieso gleich wieder hinausmussten. Und der Himmel sah nicht aus, als würde es heute noch zu regnen aufhören. Je kürzer die Rast, umso eher würden sie auf Dietrichs Burg Weißenfels ankommen und sich dort aufwärmen können.
Das Gasthaus an der Wegkreuzung existierte wirklich noch. Der Wirt, ein behäbiger Mann mit ruß- und fettverschmiertem Kittel, war trotz des Regens nach draußen gekommen, um die Gäste mit einer tiefen Verbeugung zu begrüßen. Wortreich beteuerte er, sie seien hier bestens aufgehoben und ein warmes Mahl vorbereitet.
Er gab seinen Stallknechten ein paar Befehle, dann schlurfte er zurück zum Haus und verharrte kurz unter dem Türbalken, um seine triefend nasse Bundhaube abzunehmen und auszuwringen.
»Ich bleibe bei den Pferden und habe ein Auge darauf, dass sie gut versorgt werden«, bot Thomas, der junge Ritter, dem Grafen an.
Der musterte seinen Gefolgsmann und Kampfgefährten kurz mit prüfendem Blick, stimmte aber mit einem Nicken zu. Den Jüngeren überkam wieder einmal das beunruhigende Gefühl, Graf Dietrich würde seine Gedanken lesen und die Beweggründe für das Angebot erkennen.
Die Pferde, die sie sich nach der Fahrt übers Meer von dem Sold gekauft hatten, den der französische König ihnen im Heiligen Land für ihren Einsatz bei der Belagerung und Eroberung Akkons gezahlt hatte, waren nicht so edel wie die, die sie üblicherweise ritten, jedoch unentbehrlich und völlig erschöpft. Die Pferdeknechte des Schankhauses gaben sich sichtlich Mühe, sie gut zu versorgen. Wahrscheinlich hofften sie auf diesen oder jenen Hälfling zusätzlich für ihre Arbeit.
Allerdings verspürte Thomas schon beim ersten Anblick des Wirtes Misstrauen. Vielleicht lag das auch daran, dass er überhaupt jegliches Vertrauen in die Welt verloren hatte. Hauptsächlich aber wollte er allein sein und seine Gedanken sammeln, bevor sie heute Abend Graf Dietrichs Burg erreichten, zu der sie seit Wochen unterwegs waren. Sich wappnen für das, was ihn dort an schlimmen Nachrichten erwarten mochte. Fern der Heimat, in Outremer, hatten sie vom Machtantritt des neuen Markgrafen von Meißen erfahren, Dietrichs älterem Bruder Albrecht von Wettin. Thomas wusste nicht, wie es seiner Familie seitdem ergangen war. Ob sie in Freiberg bleiben durfte oder vor dem blutrünstigen Herrscher fliehen musste, der schon Thomas' Vater hatte ermorden lassen.
Wenn die Dinge schlecht verlaufen waren, würde er seine zwei Jahre jüngere Schwester in Weißenfels vorfinden. Ihr hatte Graf Dietrich auf seiner Burg Zuflucht versprochen. Vielleicht hatte sich sogar seine gesamte Familie dort in Sicherheit bringen können.
Aber wenn die Dinge ganz schlecht in der Mark Meißen standen, dann würde niemand von seiner Familie in Weißenfels auf ihn warten.
Dann waren alle tot. Und Thomas selbst hatte auch noch eine Todesnachricht zu überbringen: an die Eltern seines besten Freundes Roland. Diese bittere Pflicht konnte ihm keiner abnehmen. Auch wenn er den Hals riskierte, indem er Raimunds Ländereien in der Mark Meißen aufsuchte - er musste es tun. Vermutlich war immer noch ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Albrecht von Wettin, der nunmehrige Herrscher der Mark Meißen, würde nicht vergessen haben, dass Thomas dem Kaiser die Nachricht überbrachte, wie er seinen Vater, den alten Markgrafen Otto, gefangen genommen hatte, um die Macht an sich zu reißen. Und noch weniger würde Albrecht ihm nachsehen, in die Dienste seines verhassten jüngeren Bruders getreten zu sein. Dass sie auf Pilgerreise ins Heilige Land gewesen waren, würde weder Thomas noch Dietrich helfen, auch wenn Wallfahrer unter dem Schutz des Papstes standen. Kein Einziger der Kreuzfahrer war bis nach Jerusalem gekommen. Die wenigen vom einst viele tausend Mann starken Heerbann des Kaisers Friedrich von Staufen, die die Angriffe auf dem Marsch, die Hitze, den Weg durch die Steppe ohne Wasser und Nahrung und die Schlachten überlebt hatten, die nicht von Seuchen dahingerafft worden oder bei der fast zweijährigen Belagerung Akkons schlicht verhungert waren, folgten unmittelbar nach der Einnahme der Stadt ihrem Anführer Leopold von Österreich und kehrten zurück in die Heimat, weil der englischen König Richard den Herzog zutiefst beleidigt hatte.
Eine verschlafen wirkende Schankmagd kam in den Stall, sah sich suchend um, dann stakste sie auf den jungen Ritter zu, knickste und reichte ihm einen großen Becher Bier und eine Schüssel mit dampfend heißer Kohlsuppe, in der ein paar gräuliche Fleischbrocken schwammen.
Thomas schüttelte sein tropfnasses dunkles Haar und strich es zurück, ehe er beides entgegennahm. Er stellte die Suppe auf einem Querbalken ab und trank einen Schluck Bier, ohne auf den Geschmack zu achten. Die Knechte hatten den Pferden inzwischen Wasser gegeben und Hafersäcke umgebunden, ihnen die Sättel abgenommen und sie mit Stroh trockengerieben. Dann gingen sie nach einer Verbeugung vor dem Ritter hinaus. Thomas hörte noch, wie ihnen jemand über den Hof zurief, einer solle mehr Brennholz bringen und ein anderer zwei Eimer Wasser vom Brunnen holen.
Er lehnte sich an einen Pfosten und verlor sich in Erinnerungen, während die Suppe neben ihm erkaltete.
Ein leises Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken.
Mit ein paar gewaltigen Sätzen war er in der Ecke, in der er einen Schemen wahrgenommen hatte, riss den Mann hoch, der sich angeschlichen hatte, und wuchtete ihn gegen die hölzerne Rückwand des Stalls, die unter dem Aufprall erbebte.
»Was hast du hier zu suchen?«, brüllte er. Der zu Tode erschrockene Fremde umklammerte das Messer, mit dem er sich am Gurt des prächtigsten Sattels - dem Graf Dietrichs - zu schaffen gemacht hatte.
Ein gedungener Mörder!, war Thomas' einziger Gedanke, als er bemerkte, dass der Gurt angeschnitten war. Plötzlich rauschte ihm wieder das Blut durch die Adern, wie auf dem Schlachtfeld sah er nichts weiter als das Gesicht des Mannes, den es zu töten galt. Er zog sein Schwert mit einer so schnellen Bewegung, dass der andere nicht fliehen konnte, holte aus und schlug ihm mit aller Wucht den Kopf ab.
Dann drehte er sich um, ohne noch einen Blick auf den enthaupteten Leichnam zu werfen, und ging zurück zu dem Pfosten. Keuchend von der Anstrengung, sank er auf ein Knie. Nach einigen Atemzügen stemmte er sich wieder hoch und wischte die blutige Klinge mit einer Handvoll Heu ab.
Sein Geschrei war trotz des trommelnden Regens bis ins Gasthaus durchgedrungen; der erschrockene Wirt, der Anführer der Reisigen und fünf seiner Männer rannten herbei. Augenblicke später folgte ihnen Graf Dietrich mit langen Schritten.
»Dieser Kerl hat Euern Sattelgurt angeschnitten, mein Fürst!«, berichtete Thomas. Beschämt senkte er den Kopf. »Verzeiht meine Unbeherrschtheit. Ich hätte ihn fragen sollen, wer ihn geschickt hat.«
Der Graf betrachtete das abgemagerte, ernste Gesicht des jungen Mannes mit den umschatteten Augen.
»Für Eure Wachsamkeit danke ich Euch«, sagte er und wandte sich an den Wirt, der entsetzt auf den Leichnam starrte. »Kennst du diesen Mann?«, fragte er streng.
Mit der Fußspitze stieß der Wirt gegen den Kopf des Toten, um einen Blick auf dessen Gesicht werfen zu können, und bekreuzigte sich. »Das ist einer von den Gesetzlosen, die hier die Wege unsicher machen. Seht, er hat das Henkersmal! Er sollte letzten Sommer gehenkt werden, weil er eine junge Frau und ihren Säugling erschlagen hatte. Doch der Strick riss, so kam er frei. Sicher wollte er die silbernen Beschläge stehlen.«
Nun sank der Wirt vor Dietrich auf die Knie und verschlang die schmutzigen Finger ineinander.
»Glaubt mir, ich habe nichts damit zu tun, edler Herr!«, barmte er. »Ich führe ein ehrliches Haus. Das wird Euch jeder in der Gegend bezeugen. Die Dörfler werden Euerm Ritter dankbar sein, dass er sie von einem der Unholde befreit hat, die das Land wie eine Plage überziehen.«
Ohne ein weiteres Wort wies Dietrich an, den Wirt für das Essen und die Versorgung der Pferde zu bezahlen, dann ließ er seine Männer wieder aufsitzen.
Einer der Reisigen tauschte den angeschnittenen Sattelgurt gegen einen anderen aus. Danach ritten die Männer erneut durch den strömenden Regen.
Die erkaltete Suppe blieb unbeachtet auf dem Balken stehen, bis einer der Knechte in den Stall huschte und sie gierig ausschlürfte.
Wie zuvor ritt Thomas an Dietrichs Seite, und abermals fiel kein Wort zwischen beiden. Als sie sich Weißenfels näherten, hatten sie Mühe, in dem dichten Regen die Umrisse der Burg zu erkennen.
»Sollte ich nicht lieber vorausreiten und nachschauen, ob Euch nicht Feinde oder eine Falle erwarten?«, fragte Thomas, bevor sie die Siedlung Tauchlitz unterhalb der Burg erreichten. »Nein«, entgegnete Dietrich entschieden. »Ich werde mich weder verstecken noch heranschleichen, wenn ich endlich auf mein Land zurückkehre.«
Er war zweieinhalb Jahre fort gewesen und wollte jetzt mit eigenen Augen sehen, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Deshalb hatte er auch niemanden vorausgeschickt, der seine Ankunft ankündigte.
Thomas zwang nur mit Mühe eine Entgegnung hinunter. Nachdem Albrecht sich gegen seinen Vater erhoben hatte- was sollte ihn daran hindern, auch den jüngeren Bruder aus dem Weg zu räumen? Vielleicht hatte er Weißenfels inzwischen längst eingenommen?
Doch in diesem Punkt schien Dietrich entgegen aller Vernunft so stur wie sein Lehrmeister, Thomas' Vater Christian, den dies das Leben gekostet hattet.
Also blieb dem jungen Ritter vorerst nichts weiter als ein stummes Gebet, dass sie diesen Abend überlebten und nicht unmittelbar den Feinden in die Hände gerieten.
Kein Mensch hielt sich bei diesem Wetter in den schlammigen, mit Pfützen übersäten Gassen von Tauchlitz auf, nicht einmal ein paar streunende Hunde ließen sich blicken. Lediglich ein Schwein wühlte im Unrat nach etwas Fressbarem, ohne die Schar der Ankömmlinge zu beachten.
In mäßigem Tempo ritten sie den Berg hinauf zum Burgtor. Dort hatten sich mehrere Wachen versammelt, um zu sehen, wer sich in Dämmerung und strömendem Regen mit unkenntlichem Banner näherte.
Der Wettiner gab seinen Begleitern das Zeichen zu halten und lenkte seinen Hengst nach vorn. Da erst erkannte ihn einer der Männer, der älteste von ihnen.
»Graf Dietrich! Gott sei gedankt, dass wir Euch hier wieder lebend und gesund begrüßen können! Willkommen daheim, Hoheit! «
Seine Stimme überschlug sich vor Freude bei diesen Worten. Gemeinsam mit den anderen kniete er nieder und senkte den Kopf.
Dietrich begrüßte die Männer der Wachmannschaft, und als er ihnen erlaubte aufzustehen, rannte der Älteste humpelnd los und rief über den ganzen Burghof: »Der Graf ist zurück! Graf Dietrich ist aus dem Heiligen Land zurück! Kommt und heißt Euren Herrn willkommen!«
Rasch füllte sich der Burghof trotz des Regens mit Wachen, Knechten, Mägden, Reisigen, die von allen Seiten herbeigerannt kamen, um das leibhaftige Wunder zu sehen.
Die meisten von ihnen knieten nieder und bekreuzigten sich, andere riefen erleichtert Segenssprüche. Die Stallburschen beeilten sich, den Weitgereisten aus dem Sattel zu helfen und ihnen die erschöpften Pferde abzunehmen.
Unruhig hielt Thomas Ausschau unter den vielen Menschen, aber er vermochte weder seinen Stiefvater noch seine Mutter zu sehen, auch keinen seiner jüngeren Brüder. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Und wo blieb Clara, seine Schwester? Er konnte einfach nicht glauben, dass alle gesund und am Leben waren.
Hatte Albrecht sie am Ende alle töten lassen? Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu.
Dann entdeckte er Clara, die mit aufgewühlten Gesichtszügen auf ihn zulief. Es war für ihn so ungewohnt, seine jüngere Schwester mit Schleier und Gebende zu sehen, dass er sie beinahe nicht erkannt hätte. Also hatte sie nach seiner Flucht geheiratet? War sie jetzt die Ehefrau dieses Reinhard, den er nicht ausstehen konnte, den jedoch sein Stiefvater für sie bestimmt hatte, weil er sie seiner Meinung nach am besten beschützen konnte? Aber wo steckte der? In weniger als einem Lidschlag schossen ihm diese Gedanken durch den Kopf, und schon wollte der alte Hass gegen Reinhard erneut in ihm aufwallen.
Doch dann sah er in Claras Gesicht und fühlte die gleiche Freude wie sie, als sie sich in die Arme fielen.
»Du lebst!«, rief sie glücklich. Einen Moment später löste sie sich vorsichtig von ihrem Bruder, wandte sich Dietrich zu und kniete mit gesenktem Kopf vor ihm nieder.
»Seid gegrüßt, Hoheit«, sagte sie leise mit merkwürdig flatternder Stimme, ohne den Blick zu heben. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir hier Schutz und Obdach gewährt habt.«
Dietrich schien ihre Verlegenheit nicht zu bemerken - und wenn er es tat, so gab er das nicht zu erkennen. Er reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, und sagte mit selten gewordenem Lächeln: »Ich freue mich, Euch zu sehen. Doch lasst Euch nicht aufhalten und heißt zuerst Euren Bruder willkommen. Er war in großer Sorge um Euch. Und ich war es auch.«
Mit einem Mal sehr ernst, wandte sich Clara wieder Thomas zu. »Wo ist Roland?«, fragte sie. An der Art, wie sie ihn ansah, wusste er, dass sie die Antwort schon ahnte.
Clara schluchzte auf, als er nichts sagte, sondern sich seine Züge noch mehr verfinsterten.
»Ich soll dir von ihm Grüße ausrichten ... Das waren seine letzten Worte ... Er hat dich sehr geschätzt ...«, brachte er mit Mühe heraus. Dabei zerriss ihn beinahe, was er nicht aussprechen durfte: Er hat dich geliebt, von ganzem Herzen geliebt, er wollte um deine Hand anhalten. Stattdessen mussten wir fliehen und dich diesem Reinhard überlassen. Auf diesem ganzen verfluchten Kriegszug dachte er an dich und hoffte, er könnte dich noch freien, wenn er zurückkehrt. Doch dann traf ihn ein Pfeil, als alles schon fast vorbei war, bei einem sinnlosen Scharmützel vor Akkon. Und seine wahren letzten Worte waren: Sag Clara nichts! Ich soll dir nicht verraten, wie sehr er dich geliebt hat, damit du nicht noch mehr um ihn trauerst...
Thomas zog seine Schwester an sich und hielt sie in seinen Armen, und er hätte beim besten Willen nicht sagen können, wer dabei wem Halt und Stärke gab.
Nur nebenher bekam Thomas mit, dass sich Dietrich nach dem Befinden seiner Mutter erkundigte und jemand ihm mitteilte, die Fürstin Hedwig sei von Markgraf Albrecht auf ihren Witwensitz nach Burg Seußlitz geschickt worden. Doch sie sende regelmäßig Nachricht und sei bei guter Gesundheit.
»Wie geht es Mutter und Lukas? Und unseren Brüdern?«, fragte Thomas seine Schwester leise, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete.
»Sie leben«, antwortete Clara zu seiner großen Erleichterung. »In Eisenach, in Diensten von Landgraf Hermann.«
Sie schniefte, wischte sich die Tränen unbeholfen mit dem Ärmel ab und löste sich aus der Umarmung. Wieder sah sie zu Graf Dietrich, der nahe genug stand, um diese Antwort mitbekommen zu haben.
»Euer Bruder wollte meinen Stiefvater und meine Mutter töten lassen. Es waren schreckliche Tage, doch gegen jede Hoffnung gelang ihnen die Flucht aus dem Kerker. Eure Mutter bat sie, sich Thüringen als Exil zu wählen. Sie sollen dort bei Landgraf Hermann Fürsprache einlegen, damit er Euch beisteht, falls Euer Bruder Euch angreift - was wir alle befürchten.«
»Wie ich sehe, gibt es Dringendes zu besprechen«, meinte Dietrich. Er winkte den untersetzten, graubärtigen Mann herbei, der ihm feierlich den Willkommenspokal überreicht hatte, und einen Hageren von etwa fünfzig Jahren mit dunkelbraunem Haar; der guten Ausrüstung nach wahrscheinlich der Befehlshaber der Burgbesatzung.
»Wünscht Ihr, dass Euch ein Bad bereitet wird?«, erkundigte sich der Graubart.
So verlockend der Gedanke für Dietrich war, im warmen Wasser von der langen Reise auszuruhen - das musste warten.
»Gehen wir in meine Kammer. Ich möchte von Euch zuerst die wichtigsten Dinge erfahren, die sich in meiner Abwesenheit zugetragen haben. Mein Ritter und seine Schwester sollen uns begleiten.«
Die kleine Gruppe überquerte den Burghof Richtung Palas, der sich in der Mitte des Felsplateaus befand, während immer wieder Leute vor Dietrich niederknieten und ihn willkommen hießen.
Auf etlichen Gesichtern stand unübersehbar die Frage, was aus all den Männern geworden war, die mit ihm ins Heilige Land gezogen waren. Doch diese Frage würde er erst nachher beantworten, vor allen in der Halle.
»Lebt Ihr hier unter Euerm wahren Namen?«, wandte sich Dietrich flüsternd an Clara. Mit Bedacht hatte er sie vor aller Ohren nur als »Schwester seines Ritters« bezeichnet. Sie hatten vor seiner Abreise durchaus die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie in Weißenfels unter falschem Namen Zuflucht suchen musste, um vor seinem Bruder sicher zu sein.
»Nur Euer Burgkommandant kennt meine wahre Herkunft«, berichtete Clara ebenso leise. »Er riet mir, hier bloß meinen zweiten Namen zu benutzen, Maria. Die anderen wissen lediglich, dass ich eine junge Witwe bin. Sie glauben, dass Fürstin Hedwig mich und mein Kind hierherschickte, damit ich nach dem Tod meines Gemahls etwas Ruhe und Abgeschiedenheit finde.«
Sie ist Witwe! Und sie hat ein Kind von Reinhard!
Thomas zuckte zusammen bei diesen Neuigkeiten. Dabei entging ihm, dass auch Dietrich Mühe hatte, jede Regung in seinen Gesichtszügen zu unterdrücken.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Sabine Ebert
Sabine Ebert wurde in Aschersleben geboren, ist in Berlin aufgewachsen und hat in Rostock Sprach- und Lateinamerikawissenschaften studiert. In ihrer Wahlheimat Freiberg arbeitete sie als Journalistin für Presse, Funk und Fernsehen. Sie schrieb einige Sachbücher zur Freiberger Regionalgeschichte, doch berühmt wurde sie mit ihren historischen Romanen, die alle zu Bestsellern wurden.
Autoren-Interview mit Sabine Ebert
Beschreiben Sie sich mit drei Worten!Sabine Ebert: Freigeist, rastlos, bodenständig.
Was macht Ihnen schlechte Laune, was macht Ihnen Freude?
Sabine Ebert: Bei der Arbeit gestört zu werden ist sehr ärgerlich, es reißt einen völlig aus der Konzentration.
Freuen kann ich mich, wenn es beim Schreiben gut läuft und die Figuren ein Eigenleben entwickeln.
Wie sieht ein perfekter Tag für Sie aus?
Sabine Ebert: Frei von Terminen und Verpflichtungen, ganz aus dem Bauch heraus leben zu können.
Neben der Arbeit als Schriftsteller - was wären alternative Berufe für Sie? Und warum?
Sabine Ebert: Journalistin. Ich habe ja viele Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Ich liebe das Schreiben. Es ist meine Art, die Welt um mich herum zu filtern und zu spiegeln.
Welche Person - aus Roman, Film oder dem öffentlichen Leben - würden Sie gerne treffen? Und was würden Sie zu ihm/ihr sagen?
Sabine Ebert: Die historischen Figuren, die in meinen Romanen vorkommen. Ich würde sie einfach nur beobachten wollen, um zu sehen, ob sie so waren, wie ich sie mir vorstelle anhand der wenigen Dinge, die wir über sie wissen.
Wenn Sie die berühmten drei Wünsche frei hätten, wie sähen sie aus?
Sabine Ebert: Mehr Zeit, um an meinen Büchern zu feilen - aber dann würde ich vermutlich nie fertig werden.
Mehr Zeit für die Begegnungen mit den Lesern. Derzeit kann ich kaum einem Zehntel aller Wünsche nach Lesungen nachkommen, wenn die nächsten Bücher pünktlich erscheinen sollen. Das tut mir leid, und ich bitte dafür um Verständnis.
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Und ein wenig Zeit für mich, um mich öfter mit Freunden zu treffen, einfach mal zu faulenzen oder einmal Urlaub ohne Laptop machen zu können.
Haben Sie schon das nächste Projekt im Kopf?
Sabine Ebert: Nach dem letzten „Hebammen"-Band die Völkerschlacht bei Leipzig 1813. Und dann gibt es schon Ideen für zwei, drei weitere Projekte.
Und ein wenig Zeit für mich, um mich öfter mit Freunden zu treffen, einfach mal zu faulenzen oder einmal Urlaub ohne Laptop machen zu können.
Haben Sie schon das nächste Projekt im Kopf?
Sabine Ebert: Nach dem letzten „Hebammen"-Band die Völkerschlacht bei Leipzig 1813. Und dann gibt es schon Ideen für zwei, drei weitere Projekte.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Ebert
- 712 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009450
- ISBN-13: 9783868009453
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