Der Wind in den Weiden
Der Wind in den Weiden von Kenneth Grahame
LESEPROBEAm Flussufer
Der Maulwurf hatte den ganzen Morgen schwergeschuftet und in seinem kleinen Heim Frühjahrs putz gehalten. Zuerst mitBesen, dann mit Staubwedeln, dann, mit einer Quaste und einem Eimer weißerTünche, auf Leitern und Tritten und Stühlen. Ihm klebte noch der Staub in Kehleund Augenwinkeln, sein schwarzes Fell war über und über weiß bekleckert, derRücken tat ihm weh und seine Arme konnte er kaum noch bewegen. Der Lenzrumorte oben in den Lüften und unten in der Erde und rings um ihn her und drangselbst in sein dunkles und bescheidenes kleines Haus ein.
Es war also ein Wunder, dass er plötzlich die Quasteauf den Boden schmiss, »Verflucht!« und »Verdammt!« knurrte und auch noch »ZumTeufel mit dem Frühjahrsputz!« und aus dem Hause schoss, ohne an eine warmeJacke zu denken. Etwas da oben schien ihn zu rufen und er musste ihm durchseinen steilen, engen Tunnel folgen. Er scharrte und scharrte und kratzte undkrabbelte und drehte und wendete sich und schob und zwängte sich nach oben undscharrte dabei ununterbrochen mit seinen kleinen, festen Pfoten, wobei er sichimmer wieder anfeuerte: »Rauf geht's, nach oben! Rauf geht's, nach oben!«, bisschließlich, plopp, seine Schnauze ins Sonnenlicht durchbrach und er merkte,dass er sich im warmen Gras einer großen Wiese wälzte.
Das ist schön!, dachte er. Das ist besser, als dieWände zu tünchen! Der Sonnenschein legte sich warm auf sein Fell, linde Lüftefächelten um seine heiße Stirn und nach dem tiefen Schweigen seinesunterirdischen Heimes, in dem er so lange Zeit zugebracht hatte, gellte ihmdas fröhliche Gezwitscher der Vögel wie ein Geschrei in den schwachen Ohren. Ersprang aus reiner Lebenslust und weil der Frühling ohne Hausputz noch vielangenehmer war, mit allen vieren auf einmal in die Luft. Dann trollte er sichund lief quer über die Wiese, bis er die Hecke an ihrem anderen Ende erreichthatte.
»Halt und stillgestanden!«, sagte ein ältlichesKarnickel an der Heckenlücke. »Sechs Pfennig für das Privileg, eine Privatstraßepassieren zu dürfen!« Doch da war es schon vom ungeduldigen Maulwurf über denHaufen gerannt, der einfach an der Hecke entlanglief und alle anderenKarnickel, die den Grund der Aufregung wissen wollten, wieder in ihre Löcherscheuchte.
»Quackel-Kram! Quackel-Kram!«, bemerkte er vergnügtund war vorbei, ehe ihnen auch nur eine einigermaßen befriedigende Antworteingefallen war. Darum fingen sie an, miteinander zu streiten. »Wie blöde dubist! Warum hast du ihm denn nicht gleich gesagt...?«
»Na und du? Warum hast du denn nicht...?«
»Du hättest ihm aber wirklich vorhalten können...«Und so weiter, wie es eben üblich ist. Es war aber natürlich viel zu spät unddas ist in diesen Fällen auch immer so.
Dem Maulwurf kam alles unglaublich gut und herrlichvor und er sprang und kobolzte vor Wonne über die Wiesen, die Hecken entlangund die Hügelhänge hinunter und sah überall die Vögel ihre Nester bauen, dieBlumen ihre Blüten treiben und die Büsche ihre Blätter wedeln - allemiteinander froh und fleißig und auf Fortschritt bedacht. Doch statt dass ihnjetzt sein Gewissen gezwickt und gezwackt und ihm »Wändewitschern!«zugeflüstert hätte, genoss er es nur aus ganzem Herzen, der einzige Faulpelzzwischen lauter fleißigen Lieschen zu sein. Der höchste Spaß an einem freienTag hat vermutlich nichts mit der eigenen Muße zu tun, sondern damit, dass mandie anderen Burschen schuften sehen kann.
Den Gipfel seines Glücks glaubte er erreicht zuhaben, als er, nachdem er eine Weile ohne bestimmtes Ziel durch die Gegendgestreift war, plötzlich vor einem Fluss stand, der reichlich Wasser führte.Er hatte noch nie in seinem Leben einen Fluss gesehen - so ein glattes,geschmeidiges, machtvolles Geschöpf, das wisperte und flüsterte, sich mit einemKichern Dinge griff und gleich wieder mit einem Lachen entließ, um sich aufneue Spielgesellen zu stürzen, die sich nun freischüttelten, um abermalsgefangen zu werden. Alles rieselte und rann, funkelte und blendete, sprühteund schäumte, plätscherte und gurgelte. Der Maulwurf war verzaubert undverzückt, wie in einen Bann geschlagen. Er trottete am Ufer des Flussesentlang, und als er schließlich müde wurde, ließ er sich dort nieder, währendder Fluss weitermurmelte.
Als er nun im Grase saß und über den Fluss blickte,wurde sein Auge von einem dunklen Loch im anderen Ufer gefangen, geradeoberhalb der Wasserfläche, und er stellte sich träumerisch vor, was das für eingemütliches, nettes Plätzchen für ein Tier mit bescheidenen Ansprüchen und einemHang zum Haus am Fluss wäre, gerade oberhalb der Hochwassergrenze und fern vonLärm und Staub. Während er noch schaute, schien dort drüben, genau im Herzendes Loches, etwas Helles und Kleines aufzublinken, verschwand und funkeltedann wieder wie ein kleiner Stern. An so einem unwahrscheinlichen Ort konnte esjedoch kein Stern sein und für ein Glühwürmchen war es zu klein und auch zuglänzend. Als er wieder hinüberschaute, zwinkerte es ihm zu, und er kam mitsich überein, dass es ein Auge sein müsse, und da begann sich auch ein Gesichtdrum herum zu runden, wie ein Rahmen um ein Bild.
Ein braunes, kleines Gesicht, mit einem Schnurrbart.Ein ernsthaftes, rundes Gesicht, mit demselben Zwinkern in den Augen, das seineAufmerksamkeit zuerst erregt hatte. Kleine, hübsche Ohren und ein dichtesSeidenfell. Es war die Wasserratte!
Die beiden Tiere standen da und beäugten sichvorsichtig. »Hallo, Maulwurf!«, sagte die Wasserratte. »Hallo, Ratz«, sagte derMaulwurf.
»Willst du nicht rüberkommen?«, fragte die Rattenach einer Weile.
»Ach, reden ist auch ganz gut«, erwiderte derMaulwurf etwas ärgerlich, schließlich war ihm alles neu: ein Fluss, das Lebenam Fluss mit all seinen Sitten und Gebräuchen.
Der Ratz sagte nichts, aber er beugte sich vor undmachte eine Leine los und holte sie ein. Dann stieg er leichtfüßig in einkleines Boot, das der Maulwurf gar nicht bemerkt hatte. Es war außen blau undinnen weiß angestrichen und gerade groß genug für zwei Tiere; des Maulwurfsganzes Herz flog ihm sofort entgegen, obgleich er noch gar nicht rechtbegriffen hatte, wozu es diente.
Der Ratz ruderte flott herüber und machte das Bootfest. Als jetzt Maulwurf ängstlich den Uferhang hinuntertrippelte, hielt erdie Vorderpfote in die Höhe. »Stütz dich drauf!«, sagte er. »Und los jetzt,kräftig zugetreten!« Und schon fand sich der Maulwurf zu seinem Entzückentatsächlich auf dem hinteren Sitz eines echten Bootes.
»Das ist ein herrlicher Tag gewesen!«, sagte er,während die Ratte das Boot abstieß und sich wieder in die Riemen legte. »Undweißt du was, ich hab noch nie in meinem Leben in einem Boot gesessen.«
»Was!«, rief die Ratte und kriegte das Maul nichtwieder zu, »du hast noch nie in einem - du bist noch nie - also, was hast dudenn dann bloß getrieben?«
»Ist alles so hübsch wie das da?«, fragte derMaulwurf scheu, obgleich er es nur zu gern glaubte, während er sich auf seinemSitz zurücklehnte und die Kissen betrachtete, die Ruderblätter, die Dollen undall das andere faszinierende Zubehör und dabei spürte, wie das Boot leise unterihm tanzte.
»Hübsch? Es gibt nichts anderes«, erwiderte dieWasserratte mit Nachdruck und beugte sich zum nächsten Ruderschlag vor. »Glaubmir, mein junger Freund, es gibt nichts, absolut gar nichts auf der ganzenWelt, das auch nur halb so viel wert wäre, wie einfach mit Bootenherumzuplantschen. Einfach herumzuplantschen«, fuhr sie träumerisch fort,»plantschen in Booten; herumzuplantschen -«
»Pass auf, Ratz!«, schrie der Maulwurf plötzlich.
Es war zu spät. Das Boot stieß mit voller Wucht ansUfer. Der Träumer, der fröhliche Ruderknecht, lag auf dem Boden seines Bootesund streckte alle viere in die Luft.
»In Booten - oder mit Booten«, fuhr die Ratte fortund rappelte sich mit einem freundlichen Auflachen wieder hoch. »Drinnen oderdraußen, das ist ganz egal. Alles ist egal und das ist gerade das Reizvolle.Ob du dich davonmachst oder ob du es bleiben lässt - ob du dein Ziel erreichstoder ob du ganz woanders ankommst oder niemals irgendwo, beschäftigt bist duimmer und was Besonderes tust du nie; und wenn du es erledigt hast, gibt esimmer wieder etwas Neues zu tun, und wenn du Lust hast, kannst du's anpacken,wenn's auch gescheiter wäre, du ließest es bleiben. Hör mal! Wenn du heuteMorgen wirklich nichts Besseres vorhast, warum bummeln wir nicht zusammen denFluss entlang und machen uns einen guten Tag?«
Der Maulwurf wackelte vor lauter Wonne mit denZehen, holte vor lauter Zufriedenheit so tief Luft, dass es ihm die Brustweitete, und lehnte sich genussvoll in die weichen Kissen. »Das ist vielleichtein Tag!«, sagte er. »Lass uns gleich aufbrechen!«
»Dann warte nur noch einen Augenblick!«, sagte derRatz. Er zog das Tau durch einen Ring am Pfahl seines Anlegestegs, klettertezu seiner Höhle hinauf und tauchte nach einer Weile wieder auf, schwankendunter dem Gewicht eines umfangreichen Picknickkorbes.
»Schieb das unter die Bank«, sagte er zum Maulwurf,als er den Korb ins Boot wuchtete. Dann machte er die Leine los und ergriffwieder die Riemen.
»Was ist denn da drin?«, fragte der Maulwurf, ganzzappelig vor Neugier.
»Kaltes Huhn ist da drin«, erwiderte die Ratte kurzangebunden. »Kaltezungekalterschinkenkaltesroastbeefgewürzgurkengrünersalatbrötchenkressestulleneingelegtesfleischingwerbierzitronensaftsodawasser...«
»Halt, o halt«, rief der Maulwurf, »das ist dochviel zu viel!«
»Glaubst du das wirklich?«, erkundigte sich dieRatte ernsthaft. »Es ist nur das, was ich immer auf meine kleinen Ausflügemitnehme. Die andern Tiere sagen mir jedes Mal, ich sei ein gemeinerGeizkragen und schnitte dabei nicht schlecht ab.«
Der Maulwurf konnte schon kein Wort mehr aufnehmen.Er war von dem neuen Leben, in das er eintrat, ganz bezaubert und überwältigt,vom Funkeln und Murmeln des Wassers, von den Düften und den Lauten und demSonnenlicht, und er tauchte eine Pfote ins Wasser und versank in lange,liebliche Tagträume. Die Wasserratte, die ein guter, verständnisvoller Kerlwar, ruderte friedlich weiter und störte ihn nicht. Nachdem jedoch eine halbeStunde oder mehr verstrichen war, bemerkte sie schließlich: »Deine Klamottengefallen mir, alter Freund. Wenn ich genug Geld habe, muss ich mir auch mal soeinen Staatsfrack aus schwarzem Samt zulegen.«
»Ich bitte um Vergebung«, sagte der Maulwurf undriss sich mit einem Ruck zusammen, »du musst mich für sehr unhöflich halten,aber das ist alles so neu für mich. Das also, das also ist ein Fluss!«
»Der Fluss«, verbesserte die Ratte.
»Und du lebst wirklich am Fluss? Was für einvergnügliches Leben!«
»An ihm und mit ihm und auf ihm und in ihm«, erwidertedie Ratte, »er ist mir Bruder und Schwester, Tante und Bekannte, Essen undTrinken und natürlich auch Waschwasser. Er ist meine Welt und ich wünsch mirkeine andere. Was er mir nicht zu bieten hat, das lohnt sich nicht zu haben,und was er nicht weiß, das lohnt sich nicht zu wissen. Hach! Was wir schon zusammenerlebt haben! Ob Winter- oder Sommerzeit, ob Frühling oder Herbst, er stecktimmer voll Spaß und Aufregung.
© cbj Verlag
Übersetzung: Sybil Gräfin Schönfeldt
Kenneth Grahame wurde 1859 im schottischen Edinburghgeboren. Nach einer Ausbildung in Oxford war er von 1879 bis 1908 Angestellerder Bank von England. Er schrieb in verschiedenen Zeitschriften satirischeBeiträge und 1908 erschien sein Buch »The Wind in the Willows«, das ihnweltberühmt machte und das zu den unvergänglichen Klassikern derKinderliteratur zählt.
- Autor: Kenneth Grahame
- Altersempfehlung: 8 - 10 Jahre
- 2005, Maße: 13,5 x 20,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570129969
- ISBN-13: 9783570129968
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