Deutsches Haus
"Ironisch und rasant ist Peter Richters Sprache, voll detailliert-pointierter Beobachtungen und Erlebnisse." -- Süddeutsche Zeitung
"Auch in seinem Neuling 'Deutsches Haus' versteht es Richter, sich soziologischen Phänomenen höherer Gewichtsklasse mit klug-amüsanter Leichtigkeit zu nähern." -- die Literarische Welt
DeutschesHaus von Peter Richter
LESEPROBE
Vorwort
Undso verläßt er die Höhle, fest entschlossen, durch seine Geschicklichkeit
derRücksichtslosigkeit und Unaufmerksamkeit der Natur
abzuhelfen.Der Mensch will sich eine Unterkunft schaffen, die ihn
schützt,ohne ihn zu begraben. Er wählt vier starke Äste aus, verbindet
siemit vier anderen, die er quer über sie legt. Darüber breitet er von
zweiSeiten Äste, die sich schräg ansteigend in einem Punkt berühren,
undbedeckt das so entstandene Dach mit Blättern, die vor Hitze und
Regenschützen.
Marc-AntoineLaugier, Essai sur l Architecture, 1753
Nurein paar Jahrtausende, nachdem der Mensch also die Höhlen
verlassenhat, um sich seine erste eigene Urhütte zu zimmern,
siehtdie Sache schon ganz anders aus: Aus den Baumstämmen
sindWände geworden, an der Innenseite der Wände
hängengroße, flache Fernseher, und davor sitze ich. Ich sitze da,
starredie Wand an und sehe: Wohnungen. Wohnungen. Wohnungen.
Einrichtungsmagazine.Wohn-Shows. Deko-Soaps.
Daserfolgreichste Fernsehformat der letzten Jahre. Es sind faktisch
Horrorfilme,und sie handeln davon, wie der einzelne sich
insPrivate flüchtet - aber die Öffentlichkeit rückt gnadenlos
hinterherund hält voll mit der Kamera drauf. Zu sehen sind:
Wohnungenvon völlig fremden Leuten, von Leuten, die es aufgegeben
haben,die einfach nicht mehr weiterwissen. Sie hätte
esauch gern endlich mal ein bißchen schön, sagt abgewirtschaftet
dieFrau, die dort wohnt, sie komme aber nicht dazu.
GanzeLebensläufe liegen da plötzlich vor einem, man kann in
diesenEinrichtungsruinen lesen wie in einem offenen und leider
leerenSparbuch. Die Leute lassen die Hosen weiter herunter
alsin den schlimmsten Nachmittagstalkshows, zur Belohnung
stelleneinem die vom Fernsehen dafür aber auch eine
komplettneue Einrichtung in die Wohnung. Schlichte, klare
Formen,hell, zur Zeit meistens auch irgendwas in Orange,
nächstesJahr vermutlich dann in Gelb, und fast immer mit
»Loungecharakter«.Vorher sah es aus wie bei jemandem zu
Hause,nachher wie bei Ikea. Die Frau weint vor Freude. Ich
weineauch. Aber vor Angst.
Ja,ich habe wirklich Angst vor solchen Sendungen und den
Frauen,die sie moderieren, vor Sonya Kraus und vor Enie van
deMeiklokjes und am allermeisten vor Tine Wittler. Tine Wittler
istangeblich genauso alt wie ich, könnte aber meine Mutter
sein,sie benimmt sich jedenfalls so. Ihre physische Erscheinung
mußman mit dem Wort durchsetzungsfähig beschreiben,
undihre Sendung trägt nicht ohne Grund den martialischen
Namen»Einsatz in vier Wänden«.Tine Wittler ist eine Wohnmatrone,
diemit einer ganz besonders großen Portion Mutterwitz
durchdas Abendprogramm walzt, Haustüren eintritt, keinen
Steinauf dem anderen läßt. Nie war man in seinen eigenen
vierWänden weniger sicher als heute. Immer diese Angst, daß
meineNachbarn sich bei Tine Wittlers Sendung bewerben, und
dannverwechselt die aber aus Versehen die Tür, es klingelt,
ichahne nichts Böses, und draußen steht plötzlich ein Fernsehteam,
Kameralampengehen an, der Ton läuft, ich werde
durchden Flur geschubst, drehe mich um, sehe den Fernseher,
seheim Fernseher, wie sich jemand, der aussieht wie ich, nur
schlechter,nach dem Fernseher umdreht und genau dort das
gleichenoch einmal sieht, und zwar so lange, bis einem ganz
schlechtwird vor lauter Rückkopplungen; daraufhin schiebt
sichdie Decotainment-Mutti ins Bild und sagt: »Hier wohnst
dualso« - und bei dem Wort »wohnen« malt sie mit den Fingern
Gänsefüßchenin die Luft, daß es aussieht, als wolle sie ein
ganzesFlugzeug voller Sarkasmus auf die Landebahn winken.
Mitstummfilmhaft überdeutlich ausgedrücktem Entsetzen
schautsie in das, wofür ich Miete zahle: »Nun: Jaaaa«, sagt sie
dann,»wie siehst du selbst denn das Problem?«
Esgebe, eigentlich, keines, sage ich.
»Nein?«,fragt mit einem belustigten Kiekser in der Stimme
sie- und dann klingt sie wie jemand, der einem Kleinkind den
Nuckelin den Mund zurückschiebt: »Kein Problem? Wir lösen
estrotzdem!«
Einrichtungsexperten,Psychoanalytiker, Türkengangs - es ist
immerdas gleiche Schema:
Hastdu ein Problem?
Nein.
Doch.
Nein.
Bumm.
Jedesmalbrummt einem der Kopf hinterher mehr als vorher.
Unddas liegt daran, daß es einen Spruch gibt, mit dem man
einenMenschen genauso wirkungsvoll vor den Kopf schlagen
kannwie mit einer Axt.
DieserSpruch lautet: »Zeig mir deine Wohnung, und ich sage
dir,wer du bist.«
Mankann es gar nicht dramatisch genug sagen: Dieser Satz
istfür die moderne Wohnkultur, was in den antiken Mythen
dieBüchse der Pandora war. Seit er in der Welt ist, herrschen
Unglück,Konfusion und Selbsthaß unter den Mietern. Und die
Erfahrungzeigt, daß man besonders bei alleinstehenden Großstädtern
jenseitsder Dreißig mal besser alle spitzen Gegenstände
ausihrer Reichweite räumt, bevor man ihn auspackt, denn wo
allenfallsan Brüsten und Nasen ähnlich verbissen herumgebastelt
wirdwie an der Außenwirkung der eigenen Biographie,
kannes keine Freude sein, wenn man beim Öffnen der Wohnungstür
einemMenschen gegenübertritt, der ganz offensichtlich
einnoch größerer Versager ist, als draußen ohnehin schon
alleglauben.
Dennwas siehst du denn, wenn du in deine Wohnung hineinschaust
wiein einen Spiegel? Biografische Geröllhalden.
WindschiefeKonstruktionen aus gigantischen Ansprüchen,
fehlendenMitteln, Modeirrtümern und traurigen Kompromissen.
Unddas bist dann also du. Du bist: Das Billy-Regal, das alle
haben.Und du bist: Das Teil von Alessi auf dem Billy-Regal,
dasalle haben, die auch mal etwas Besonderes wollten. Du bist:
Sofa+ Bett + Schrank + Fernseher + Eßtisch = Du bist das
Existenzminimum,das nicht einmal ein Gerichtsvollzieher wegpfänden
dürfte,sowie ein paar Urlaubsandenken.
Undfalls jetzt jemand einwenden möchte, daß das doch
immerhinschon mal eine ganze Menge sei, jedenfalls mehr, als
diemeisten sich jahrhundertelang für ihr Leben erhoffen durften,
daßes ja wohl noch ein paar schlimmere Krisenherde auf
derErde gebe als die eigene Wohnung und daß man deswegen
nichtgleich durchdrehen und mit der Axt herumfuchteln
müsse:Nein! Das trifft, leider, nicht zu. In den Industriestaaten
desWestens nicht, und in Deutschland schon gar nicht.
Eswar der Maler Heinrich Zille, der gesagt hat, daß man
einenMenschen mit einer Wohnung genauso erschlagen
könnewie mit einer Axt. Und damit meinte er vor allem die
tuberkulösenWohnbedingungen in den Arbeitervierteln von
Berlin,wo er, Zille, die vielen dicken Proletarierinnenhintern
gemalthat, die da aus den Souterrains immer so dekorativ ins
Bildragten. Wenn man aber mal in Betracht zieht, daß in
denselbenSouterrains heute Retromöbel und Designer-Lampen
verkauftwerden, während die Leute dort über die Schwierigkeiten
mitder Möblierung ihres Selbstbildes noch viel erbarmungswürdiger
dreinschauenals alle Lumpenproletarier auf
allenZillebildern zusammen: Dann weist das nicht nur ziemlich
eindeutigdarauf hin, daß in der Zwischenzeit eine ganze
Mengepassiert sein muß - es ist vielmehr sogar so, daß im
Grundekaum etwas anderes passiert ist.
Vielleichtlag Friedrich Engels gar nicht so falsch, als er 1872
die»Wohnungsfrage« gewissermaßen zum eigentlichen Kernthema
derWeltgeschichte erklärt hat; und seine These, daß eine
wirklicheLösung dieser Frage nur mit dem Anbruch des Kommunismus
zusammenfallenkönne, die ist zumindest bis heute
nichtwiderlegt. Im Gegenteil, vielleicht muß man vorläufig
auchdas Ziel einer umfassenden Wohnzufriedenheit als eine
Utopiebegreifen, der man einfach nicht näherkommt, egal
überwieviele Leichen man geht.
Wennauch beim Wohnen der Fortschritt ein Wind ist, der
vomParadies her weht, dann müßte zunächst einmal von den
biblischenStrafgerichten der Restauration geredet werden, von
demMoment, als aus Mann und Weib Familienvater und Hausfrau
gemachtwurden, und davon, daß der Unterschied zwischen
»bürgerlichen«und »sozialistischen« Vorstellungen von
derrichtigen Art zu leben von Engels bis heute immer noch
amzuverlässigsten anhand der jeweiligen Wohnkonzeptionen
deutlichwird. Von der ungerechten Rolle, die das Wohneigentum
imWahlrecht des deutschen Kaiserreichs spielte, müßte
gesprochenwerden und von der sogenannten »Hauszinssteuer«,
dievielleicht das Revolutionärste war, was die Weimarer Republik
zubieten hatte, und natürlich davon, was aus diesen Finanzmitteln
wurdeund was uns von den berühmten zwanziger
Jahrenim wesentlichen geblieben ist, nämlich Wohnsiedlungen
undSiedlungswohnungen. Wenn man also wie ein Benjaminscher
Engelder Geschichte rückwärts durch das Entsetzen
flöge,würde man die verwaisten Zimmer der Deportierten zu
Gesichtbekommen, und wie sich das Volk ohne Wohnraum
breitmacht,und wie sich die britischen Bomber dann vor allem
dessenWohnviertel vornehmen. Danach kämen Trümmerfrauen
insBild. Und Kräne. Und die Bauarbeiter von der Stalinallee
am17. Juni 53. Und ein Land, das den seltsam eschatologischen
Beschlußfaßt, die alte Engelssche Wohnungsfrage »als
sozialesProblem bis 1990« zu lösen. Ein Land, das erst von
einemgelernten Tischler regiert wurde und dann von einem
Dachdecker.Selten hat sich ein Staat so verzweifelt über die
Unterbringungseiner Bürger zu legitimieren versucht wie die
DDRmit ihrem wahnwitzigen Wohnungsbauprogramm, und
seltenist einer so tragisch daran gescheitert. Die Massen an Plattenbauwohnungen,
dieüber Deutschlands Osten gekübelt
wurden,hatten einen Mangel beseitigen sollen und standen am
Endeselber als Inbild des Mangels da. Und daß die sozialen Bedürfnisse
nichtbefriedigt werden können, ohne sofort neue,
eherpsychische zu wecken, wird vielleicht nirgends greifbarer
alsin der hilflosen Vertröstung »Erst jedem eine Wohnung, dann
jedemseine Wohnung.« Mit den Folgen muß sich heute ein anderer
Staatherumschlagen, und das wiederum liegt an einem
Ereignis,zu dem es letztlich ja auch vor allem infolge sehr vieler
Wohnungsumzügezwischen Ost und West gekommen war.
Daßeinige besonders kluge Leute das gleich als »Ende der Geschichte
«bejubelt haben, heißt aber noch lange nicht, daß damit
auchdie Wohnungsfrage schon vom Tisch wäre. Wohinein
fließendenn ganz beträchtliche Teile der Aufbau-Ost-Milliarden?
Undworum genau geht es noch mal, wenn von schrumpfenden
Städtendie Rede ist? Und von Eigenheimzulagen,
Pendlerpauschalen,privater Altersversorgung, anrechenbarem
Vermögenusw. usf.?
Wohnungen,Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen.
DeutschePolitik ist seit über hundert Jahren im wesentlichen
Wohnungspolitik.Es gibt zwischen Arbeitsmarkt, Energiekrise,
innererSicherheit und Rente praktisch kein Thema, das nicht
irgendwieauch mit der eigenen Wohnung zu tun hätte. Und
wennnach so vielen Jahren und so vielen Anstrengungen alles
immernur besser, aber nichts endlich auch einmal gut geworden
ist,dann weist das sehr eindringlich darauf hin, daß das
Wohneneines jener selbsterhaltenden Probleme ist, die nie gelöst,
sondernimmer nur auf neue Niveaus gehoben und unendlich
verfeinertwerden.
Nochnie haben die Deutschen, oder zumindest die Westdeutschen,
sovielPlatz für sich selbst gehabt wie heute. Durchschnittlich
vierzigQuadratmeter pro Kopf. Vor ein paar Jahrzehnten
mußtensich noch ganze Großfamilien den Raum
teilen,den heute im Schnitt jeder einzelne hat, fast alle anderen
Europäerverfügen über weniger Quadratmeter an Privatsphäre.
Allesist über die Jahre immer größer, hygienischer oder
sonstwiebesser geworden, und der Wert der Wohnungsausstattung
istdabei sogar sprunghaft angestiegen: Deutsche Wohnungen
sindheute Geldspeicher; wenn man den Zahlen der
Wohnsoziologenglaubt, müßte man sich den Durchschnitts-
Mieterals einen Dagobert Duck vorstellen, der seine von Verlustangst
gepeinigtenNerven pausenlos in den angesammelten
Wertenseiner Wohnung badet. Tatsächlich trägt aber die Wohnung
zudiesen Verlustängsten schon dadurch selber bei, daß sie
dasist, wofür die meisten Menschen das meiste Geld ausgeben
müssen.Trotz der vielen sozialpolitischen Gewaltanstrengungen
hatsich in all diesen Jahren an einem Sachverhalt nichts geändert,
derschon 1868 von einem Berliner Statistiker mit dem
NamenHermann Schwabe formuliert worden ist und seitdem
alsSchwabesches Gesetz durch alle privaten Haushaltspläne
spukt:Je ärmer jemand ist, desto größer ist die Summe, die er
imVerhältnis zu seinem Einkommen für die Wohnung ausgeben
muß.
Eswäre natürlich schön, wenn diese Wohnung einen dann
auchwirklich für die Strapazen entschädigen würde, die man an
seinemArbeitsplatz ihretwegen auf sich nimmt. Wie üblich
beißtsich da aber die Katze mal wieder in den eigenen Schwanz,
weilein gelungenes und glückliches Wohnen nach dem Vorbild
vonEinrichtungszeitschriften, Prominenten-Homestorys und
Fernsehfilmen,wie die Soziologen Harald Häußermann und
WalterSiebel einmal lakonisch festgestellt haben, sowohl sehr viel
Geldals auch sehr viel Freizeit erfordert. Die Tragik einerErwerbstätigengesellschaft
wieder unseren, möchte man ergänzen,
bestehtaber nun mal leider darin, daß die meisten nur entweder
daseine oder das andere haben: Wer sich eine teure Wohnung
leistet,muß dafür dermaßen viel arbeiten, daß er kaum noch
nachHause kommt, und wer arbeitslos ist, hat kein Geld für eine
schöneWohnung.
Undwer diese Probleme nicht mehr hat, hat dafür andere:
Wennman aus dem Gröbsten raus ist, beginnt nämlich mehr
oderweniger automatisch schon der Ärger mit den Feinheiten.
Nachdemdie Grundversorgung geklärt ist, muß das Ich möbliert
werden,und es sieht ganz so aus, als müßte jeder einzelne
inseiner Wohnkarriere unter Schmerzen noch einmal nachvollziehen,
wofürdie Geschichte des Wohnens Jahrhunderte
gebrauchthat. Es ist offenbar ein bißchen so wie mit der Phylound
derOntogenese in der Biologie, und der Moment, wenn
jemandzum ersten Mal im Möbelmarkt vor der Frage steht,
wiedenn jetzt bitte eigentlich sein ganz persönlicher Wohnstil
aussehenmüßte, der entspricht dabei jenem historischen
Augenblick,als im Wohnen der Zunftzwang fiel.
Bisins neunzehnte Jahrhundert hinein hatte man es sich
nämlichgar nicht aussuchen können. Wie man zu wohnen
hattewar schon durch den sozialen Stand unentrinnbar festgeschrieben.
Beiden Bauern, Handwerkern und Arbeitern war
dasdurch die Arbeitsabläufe und die Armut ziemlich eindeutig
geregeltund bei Aristokraten durch Etikette. Es sind die bürgerlichen
Wohnungengewesen, wo das dann anfing mit dem
Anspruch,sich in seinem Zuhause selbst zu erkennen, zu spie-
geln,zu definieren. Und wie immer, wenn jemand in die Freiheit
entlassenwird, fehlte es nicht an Leuten, die ihm sagen
wollten,was er damit anzufangen habe, die ihm bei der Gestaltung
seinerselbst unter die Arme greifen wollten und für
schlechteLaune und schlechtes Gewissen sorgten. Mit der Freiheit
kamenwie üblich auch die Unsicherheit und die Angst
unddie Sehnsucht nach klaren, orientierenden Worten. Erst in
demMoment, als das Wohnen endlich als Privatangelegenheit
undganz persönliche Geschmackssache galt, wurde ein öffentliches
Themadaraus, und das war auch der Zeitpunkt, als mit
großemGedonner eine völlig neue publizistische Gattung auf
denMarkt gerollt kam, die bis heute ganze Regalmeter in den
Buchgeschäftenund Zeitungskiosken füllt: die Wohnratgeber
undEinrichtungsfibeln.
Seitdemist das moderne Wohnen eine hochgradig paradoxe
Veranstaltung,was man unter anderem schon an den Formulierungen
erkennenkann, mit denen der Verband der deutschen
Möbelindustriefür seine Belange wirbt, zum Beispiel: »Massentrend
Individualität«.Das klingt nicht ganz zufällig nach dem
sogenanntenParadox der Mode, das vor ziemlich genau hundert
Jahrenschon von Leuten wie Georg Simmel mehr oder
wenigerfasziniert bestaunt wurde; es ist tatsächlich so, daß das
Wohneninzwischen zu einer ähnlich wichtigen Waffe in den
sozialenDistinktionskämpfen geworden ist wie die Mode. Die
Leutewollen nicht nur angezogen sein, sie wollen nach Möglichkeit
modischangezogen sein und ihrem Typ entsprechend.
Genaudas gleiche hat Elisabeth Noelle-Neumann, die Queen
Momdes deutschen Umfragewesens, in den siebziger Jahren
auchvon der Wohnfront melden können: Die Nachkriegszeiten,
indenen die Leute schon froh waren, wenn sie überhaupt
einDach über dem Kopf hatten, waren definitiv vorbei, jetzt
kames darauf an, sich durch die Einrichtung von den anderen
zuunterscheiden. Allerspätestens seit diesem Zeitpunkt kann
leiderauch keiner mehr behaupten, das ginge ihn alles nichts
an.Wer nämlich der Ansicht ist, daß ihm das Maklergesülze von
dengehobenen und den weniger feinen Wohnlagen egal sein
könneund daß er dann doch lieber da wohne, wo es billig ist:
Derwird sich unter Umständen wundern, wenn er mal einen
Bankkreditbeantragt und nicht bekommt, weil die SCHUFA,
dieSchutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung, die
denBanken und Mobilfunkfirmen zuflüstert, wen sie für solvent
undzuverlässig hält und wen nicht, ihre Kunden gnadenlos
auchnach deren Wohnlage beurteilt. Schon die falsche Straßenseite
kanneinen da zum Loser machen. Und wer meint, daß
dieganzen Verfeinerungszwänge und Dekorationsexzesse, von
denenin den Wohnzeitschriften ständig die Rede ist, nur für
hysterischeWohnschwuchteln relevant seien, die sich aufführen
wieJean des Esseintes, der dandyhafte Held aus Huysmans
»Gegenden Strich«, und ihre Wohnungen zu ästhetizistischen
Bollwerkengegen die Verkommenheit ihrer Umwelt ausbauen,
weralso so wahnsinnig ist anzunehmen, wenigstens daheim
könneman die Dinge schleifen lassen: Der wiederum sollte unbedingt
zusehen,daß er soziale und berufliche Kontakte, die
ihmwichtig sind, lieber in öffentlichen Gaststätten pflegt, statt
dieLeute zu sich nach Hause einzuladen, wo sie meistens gar
nichterst »Guten Tag« sagen, sondern gleich »Wieviel zahlst du
hier«,wo sie mit schrägem Kopf vor der Bücherwand stehen,
vordem Essen unter die Teller schauen und auf dem Klo in den
Badschränkenstöbern, bevor sie einem sagen, wie die Stühle,
aufdenen man da immer unbehaglicher herumrutscht, mit
Vornamenheißen und wieviel sie kosten würden, wenn sie echt
wären.Wer sich heute noch Gäste einlädt, ist selber schuld,
wenner am Ende mit Gefühlen zwischen seinen Möbeln
hockt,wie sie sonst nur von falsch ausgesprochenen Fremdwörtern
ausgelöstwerden oder von offenstehenden Hosentüren.
Nirgendwokann man sich schwerer blamieren als da, wo man
sicheigentlich wie zu Hause und in Sicherheit fühlen sollte;
undnirgendwo wird genauer hingeschaut als da,wo es eigentlich
niemandenwas angeht. Wer in so einer Situation das Fernsehteam
vonTine Wittler zu Besuch hat, kann immerhin noch
vonGlück sagen,daß er wenigstens dabei sein darf, wenn er von
seinereigenen Wohnung beschämt wird. Bei MTV schmeißen
siedie Leute nämlich zusätzlich noch raus aus ihrem Zimmer,
bevorsie die UV-Lampe holen und nach »verräterischen Flekken
«im Bettzeug suchen, denn von der DDR-Staatssicherheit
biszu den Moderatoren von Dating-Shows im Musikfernsehen
herrschtdie Überzeugung, daß man das wahre Wesen eines
Menschenam besten bei ihm zu Hause erkennt, und zwar idealerweise
dann,wenn er selber gar nicht da ist. Seit das Zuhause
derOrt ist, an dem man endlich ganz man selbst sein kann, ist
diewirklich wahre Wahrheit als das genaue Gegenteil dessen
definiert,was jemand von sich zeigen möchte, als ein Blick hinter
dieKulissen. Seitdem finden dort die eigentlichen Inszenierungen
statt,im Privaten, nicht mehr in der Öffentlichkeit: Auf
derStraße kann man sich einigermaßen gehen lassen, zu Hause
nicht.
Insofernist es auch kein Wunder, daß ein durchschnittlicher
deutscherFernsehzuschauer eher sagen kann, wie Guido Westerwelle
wohntund was er für Noppensocken dabei anhat, als
wasder Mann eigentlich beruflich macht. Das ist es, was Angela
Merkelzum Beispiel stur und altmodisch nicht wahrhaben will,
wennsie ihr Privatleben zur Privatsache erklärt und sich auf
keinenFall in die Wohnung schauen lassen will: daß Gerhard
SchrödersReihenendhaus in Hannover eben kein Rückzugsort
war,sondern eine Wahlkampfbühne. Und daß sie die von
Schrödergesetzten Maßstäbe in der Zurschaustellung des Privaten
eigentlichnur noch dadurch übertreffen könnte, daß sie
dielange Geschichte vom Wohnen und von der Privatheit und
vonder Selbstinszenierung endgültig zu einer großen reprä-
sentationshistorischenVolte biegt und es mit den Regierungsgeschäften
hältwie Ludwig XIV. in Versailles: im Nachthemd
vomBett aus.
Wasich damit eigentlich nur sagen will, ist folgendes:
Esgibt heute keine öffentlicheren Bühnen als die private
Wohnung.Was hier aufgeführt wird, sind meistens Dramen,
manchmalist es aber auch eher komisch. Und davon handelt
diesesBuch. Es handelt von der wichtigsten Sache der Welt, von
einemProblem, das wirklich alle betrifft, von einer Aufgabe, die
jederfür sich bewältigen muß: Es handelt vom Wohnen. Wohnen
seigleichbedeutend mit dem Sein, sagt Heidegger irgendwo.
Wohnstdu noch, oder lebst du schon, sagt dagegen
neuerdingsIkea und will damit offenbar andeuten, daß das
Wohnenals Daseinszustand irgendwie noch steigerungsfähig
wäre.Ich aber wiederum sage: Es ist genau umgekehrt. Wenn,
dannist das Wohnen eher eine Steigerungsstufe des menschlichen
Daseins,es dauert zum Beispiel wesentlich länger. Das
Problemist da, bevor man auf die Welt kommt, und man hat es
nochan der Hacke, wenn man längst in der Kiste liegt. Denn
dannfragt sich immer noch, in welcher. Grab, Urne oder Mausoleum.
Undwas dazwischen alles passiert, das läßt sich eigentlich
ganzgut mit zwei Schlagworten zusammenfassen, die
schonin den ersten Einrichtungsfibeln und Möbelmagazinen
fürordentlich Streit gesorgt hatten: Serienproduktion oder Einzelanfertigung.
DieserKonflikt betrifft aber nicht nur die Kommoden
undSchrankwände und Türgriffe, er betrifft auch das
Leben,das zwischen diesen Dingen stattfindet, es handelt sich
alsoum einen inneren Werkbundkonflikt, den jeder mit sich
selbstausmachen muß.
MeineEmpfehlung, um das gleich mal vorwegzunehmen,
läuftdarauf hinaus, als Plattenbau zu beginnen und als zugemüllte
Villazu enden. Wenn dieses Buch ein Wohnratgeber
wäre,dann würde der Rat, den es gibt, darin bestehen, sich ganz
entschlossenvon seinem eigenen biografischen Efeu überwuchern
zulassen und mit dem Einsatz von Feuerwaffen zu drohen,
wenndie Tine Wittlers dieser Welt mit ihren Heckenscheren
anrücken.Denn dieses Buch hält eben nichts von
Wohnratgebernund Einrichtungspädagogen, jedenfalls nicht
mehrals von Rahmenhandlungen in Pornofilmen. Die sozialpädagogischen
Dekotipsvon Tine Wittler und ihren Kolleginnen
sindfür Zuschauer wie mich nur der lästige Aufhänger für
etwasganz anderes: für einen Voyeurismus, der beim Blick
durchdas Schlüsselloch nicht auf die nackte Frau auf dem Sofa
ausist, sondern nur auf das Sofa. Irgendwelche Handlungsimpulse
lösendiese Heimwerkersendungen ansonsten nicht aus.
Aberbeim zweiterfolgreichsten Fernsehformat der letzten
Jahreist das ja nicht anders. Fernsehköche kochen im Fernsehen,
undman sitzt davor und staunt und kaut, und zwar ein Fertiggericht.
©Goldmann
- Das Geburtshaus
- Die Kinderstube
- Das Jugendzimmer
- Wohnkarrieren
- Der Umzug
- Die Wohnlage
- M nner und Frauen
- Das M belhaus
- Die Heimerziehung
- Wohnen und Fernsehen
- Die Kindergartentantenhaftigkeit der Moderne
- Miete oder Eigentum
- Wohnen im Alter
- Das Sterbezimmer
- Das Grab
- Autor: Peter Richter
- 2006, 3, 223 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442301114
- ISBN-13: 9783442301119
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