Die 27ste Stadt
"Die 27ste Stadt ist atemlos zu lesen, fesselnder zuweilen als Die Korrekturen. Diesen Roman als Thriller zu besprechen, das unterschätzt die epische Wucht des Buchs."
FAZ
''Man tut sich schwer, den Roman überhaupt einmal aus der Hand zu legen.''
NZZ
Die 27ste Stadt von Jonathan Franzen
LESEPROBE
1870 warSt. Louis die viertgrößte Stadt Amerikas. Ein bedeutenderEisenbahnknotenpunkt, der größte Binnenhafen des Landes, ein Umschlagplatz fürden halben Kontinent. Nur New York, Philadelphia und Brooklyn hatten mehrEinwohner - Zeitungen in Chicago, der dichtauf folgenden fünftgrößten Stadt, stelltenallerdings die Behauptung auf, bei der Volkszählung von 1870 seien neunzigtausend St. Louisianerzu viel gezählt worden, und hatten Recht damit. Alle Städte aber sind Ideen.Sie erschaffen sich selbst, und die Welt nimmt sie nach Belieben wahr oder ignoriertsie.
Als St.Louis 1875 von seinenLokalpropheten zur natürlichen Hauptstadt der Nation erklärt wurde, der esbestimmt sei, zur größten Stadt des Landes aufzusteigen, machte man sich daran,ein entscheidendes Hindernis auf diesem Weg beiseite zu räumen. Das Hinderniswar die St. Louis County, der Teil des Staates Missouri, zu dem die Stadtnominell gehörte. Ohne die Stadt war die St. Louis County gar nichts - einegroße Fläche Farmland und Wald im Gebiet zwischen zwei Flüssen. Trotzdembeherrschte die County seit Jahrzehnten schon die Stadt. Instrument war eine urtümlicheVerwaltungsbehörde, der County Court. Die sieben «Richter» waren notorischkorrupt und gegenüber den städtischen Belangen gleichgültig. Ein Farmer, dereine Straße zu seinem Hof bauen lassen wollte, konnte die Richter billig kaufen- mit Geld oder Wählerstimmen. Wenn aber die Stadt Grünanlagen oderStraßenbeleuchtung brauchte, hatte der County Court nichts beizusteuern. Füreine aufstrebende Provinzstadt war die engstirnige Behörde ein Ärgernis; fürdie viertgrößte Stadt Amerikas war sie untragbar.
Eine Gruppeeinflussreicher Geschäftsleute und Juristen überzeugte die Vordenker einerneuen Verfassung für den Staat Missouri, dass Vorkehrungen für eineGemeindereform in den Entwurf einzubringen seien. Ungeachtet allerBehinderungen durch den County Court entwarf die Gruppe eine Strategie für dieAusgliederung von St. Louis aus der St. Louis County, über die im August 1876 von den Bewohnern desVerwaltungsbezirks abgestimmt werden sollte.
Vor derWahl hatte sich die Kritik an dieser Strategie vor allem auf einen Punktkonzentriert - die Ausweitung des städtischen Landbesitzes von einundzwanzigauf einundsechzig Quadratmeilen, wobei so etwas wie Abfindungen gezahltwurden. Die Landbewohner erhoben Einspruch gegen den «Landraub» der Stadt. DerGlobe-Democrat sah in derAnnexion «von Getreidefeldern und Melonenäckern und in deren Besteuerung alsstädtisches Eigentum» ein empörendes Unrecht. Die Verfechter der Ausgliederungaber beharrten darauf, dass die Stadt diese Flächen für Parks undIndustrieanlagen der Zukunft dringend nötig habe.
Bei einerWahl, die der County Court durchführte, entschieden sich die Wähler mit knapperMehrheit dagegen. Betrugsvorwürfe wurden laut. Den Kritikern fiel es nichtschwer, einen Richter des Oberlandesgerichts (einen Louis Gottschalk, der denReformvorbehalt für die Verfassung von 1875persönlich ausgearbeitet hatte) dafür zu gewinnen, dass er eineUntersuchungskommission einsetzte und die Wahl überprüfen ließ. Ende Dezemberpräsentierte die Kommission ihr Ergebnis: Die Ausgliederung war befürwortetworden, mit einer Mehrheit von 1253 Stimmen.Sofort erhob die Stadt Anspruch auf ihr neues Land und gab sich eine neue Gemeindeordnung,und fünf Monate später, nachdem alle Revisionen abgewiesen waren, löste sichder County Court auf.
Jahrzehntevergingen. Bald zeigte sich, dass die einundsechzig Quadratmeilen nichtausreichten. Schon 1900 platztedie Stadt aus allen Nähten, und die County weigerte sich, weitere Flächen abzutreten.Die alteingesessenen Fabriken nahmen Reißaus vor den Zerstörungen, die sieangerichtet hatten. Neue Fabriken ließen sich in der County nieder. In dendreißiger Jahren zogen verarmte schwarze Familien aus den ländlichen Südstaatenzu und beschleunigten die Abwanderung der Weißen in die Vororte. Um 1940 schrumpfte die Stadtbevölkerungbereits, und damit sanken auch die Steuereinnahmen. Altehrwürdige Wohnquartiereverkamen und waren nur noch alt. Siedlungsprojekte wie Pruit-Igoe, in den fünfzigerJahren begonnen, scheiterten spektakulär in den Sechzigern. Bemühungen um eineNeubelebung der Stadt führten dazu, dass betuchte Bewohner der County in einigeexklusive Wohnlagen zogen, halfen aber der kränkelnden Stadt nicht weiter.Jedermann beklagte den Zustand der städtischen Schulen, doch darin erschöpftesich der Reformwille schon. Die siebziger Jahre, als riesige Asphaltwüsten diehalb leeren Bürogebäude im Zentrum ersetzten, wurden zur Ära der Parkplätze.
Mittlerweilehatten natürlich die meisten amerikanischen Städte ähnliche Probleme.Verglichen mit St. Louis aber war selbst Detroit eine blühende Metropole, warselbst Cleveland eine familienfreundliche Großstadt. Andere Städte hattenOptionen, gute Nachbarn, eine Chance, sich zu behaupten. Philadelphia nutzte seinUmland, Pittsburgh konnte auf die Unterstützung der Allegheny County rechnen.Das abgeschnittene und eingeschnürte St. Louis hingegen war 1980 auf Platz siebenundzwanzig deramerikanischen Großstädte abgerutscht. Es hatte nur noch 450 000 Einwohner,kaum halb so viele wie 1930.
DieLokalpropheten waren in der Defensive. Hatten sie einst die Vorrangstellung derStadt beschworen, klammerten sie sich nun an jedes Überlebenszeichen. VierzigJahre lang hatten sie gepredigt: «St. Louis schafft den Aufstieg.» Sieverwiesen auf den Gateway Arch (192 Meterhoch und nicht zu übersehen). Sie verwiesen auf das neue Kongresszentrum, aufdrei neue Hochhäuser und zwei riesige Einkaufsmärkte. AufSlumsanierungsprojekte, Verschönerungsprogramme und Pläne für eine GatewayMall, die der Prachtstraße in Washington Konkurrenz machen sollte. (...)
© 2003 byRowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Übersetzung:Heinz Müller
- Autor: Jonathan Franzen
- 2. Auflage, 670 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Müller, Heinz
- Übersetzer: Heinz Müller
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499238721
- ISBN-13: 9783499238727
- Erscheinungsdatum: 01.03.2005
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