Die besseren Zeiten
Roman
Ein Leben gegen die Zeit, ein Leben in Träumen:
Christian Hallers meisterhafter Roman einer Familie.
Anfang der fünfziger Jahre zieht die Familie H. in ein kleines Dorf um. Doch mit dem kargen Leben auf dem Land kommt sie nicht zurecht. So flieht...
Christian Hallers meisterhafter Roman einer Familie.
Anfang der fünfziger Jahre zieht die Familie H. in ein kleines Dorf um. Doch mit dem kargen Leben auf dem Land kommt sie nicht zurecht. So flieht...
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Produktinformationen zu „Die besseren Zeiten “
Klappentext zu „Die besseren Zeiten “
Ein Leben gegen die Zeit, ein Leben in Träumen:Christian Hallers meisterhafter Roman einer Familie.
Anfang der fünfziger Jahre zieht die Familie H. in ein kleines Dorf um. Doch mit dem kargen Leben auf dem Land kommt sie nicht zurecht. So flieht jeder für sich in eine schönere Welt der Träume und Illusionen. Mit diesem Roman, dem glanzvollen Schluss- und Höhepunkt seiner "Trilogie des Erinnerns", erweist sich Christian Haller als einer der großen Autoren der Gegenwartsliteratur.
"So! Da werden wir wohnen." Anfang der fünfziger Jahre zieht die Familie H. in die fremde Welt eines kleinen Dorfes. Es ist eine enge, zutiefst karge Welt, in die sie verschlagen werden, und so sehr der Vater Zuversicht zu verbreiten sucht und beteuert, dass ihr Leben ein schönes Fest mit vielen Höhepunkten bleiben wird, so sehr lassen schon die ersten Tage im Dorf Schlimmes ahnen.
In der Stadt, in der die Familie H. bis dahin gewohnt hatte, war es allen gut ergangen. Der Vater hatte erfolgreich eineholzverarbeitende Fabrik modernisiert und aus der Krise der ersten Nachkriegsjahre herausgeführt. Die Mutter konnte in der großen Wohnung ein halbwegs mondänes Leben führen, und die beiden Söhne sahen die breiten Straßen mit den Bäumen und Büschen als ihre private Welt an. Doch nunmehr sind diese schönen Zeiten für die Familie mit einem Schlag vorbei: Angestrengt versuchen sie in den engen Verhältnissen des zurückgebliebenen Dorfs Fuß zu fassen. Doch so sehr sie sich auch bemühen: Ihr neues Leben erweist sich als eine Herausforderung, der sie am Ende nicht gewachsen sind. Jeder für sich beginnt sich daher in eine Welt der Träume zu flüchten ...
Christian Haller erzählt in genauen Bildern vom "wunschlosen Unglück" einer Familie, die mit den Umbrüchen ihres Lebens und ihrer Zeit nicht zurecht zu kommen versteht. Es ist die feinnervig erzählte Geschichte von vier Menschen, die sich nach einem unbeschwerten Leben sehnen, die aber die Durchsetzungsstärke nicht aufbringen, sich
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diesesLeben zu sichern, und in der Folge lieber in Träumen Zuflucht suchen.
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'Das ist hohe Kunst, die einen das Buch immer wieder hernehmen lässt, um in ihm zu blättern und immer wieder Neues, Überlesenes zu entdecken. Dann merkt man, Erinnerung ist für Christian Haller kein Selbstzweck, keine modische Spielerei, sondern Erkenntnis in Wörter gefasst, und zwar bilderreich schön.' -- Radio Bremen / Nordwestradio
"Ohne grelle Farben zeichnet Christian Haller im dritten Teil seiner "Trilogie des Erinnerns" ein Sittenbild der 50er Jahre. Er entwirft eine mustergültige Familiensaga. Dem Anbrechen der neuen Epoche sind die Akteure alle nicht gewachsen. Ohne sich zu wehren, laufen sie in ihr privates Unglück." -- Märkische Allgemeine
"Christian Haller betreibt mit seiner Autobiographie keine narzistische Selbstbespiegelung, vielmehr präsentiert er eine feine Studie über die Gewalt, die mit jedem gesellschaftlichen Abstieg und besonders mit jedem Aufstieg einhergeht." -- Facts
"Ohne grelle Farben zeichnet Christian Haller im dritten Teil seiner "Trilogie des Erinnerns" ein Sittenbild der 50er Jahre. Er entwirft eine mustergültige Familiensaga. Dem Anbrechen der neuen Epoche sind die Akteure alle nicht gewachsen. Ohne sich zu wehren, laufen sie in ihr privates Unglück." -- Märkische Allgemeine
"Christian Haller betreibt mit seiner Autobiographie keine narzistische Selbstbespiegelung, vielmehr präsentiert er eine feine Studie über die Gewalt, die mit jedem gesellschaftlichen Abstieg und besonders mit jedem Aufstieg einhergeht." -- Facts
Lese-Probe zu „Die besseren Zeiten “
SCHNEEAnkommen - nach einer Fahrt über die Jurahöhen, durch Schneetreiben, mit Schwanken und Rucken in diesem engen Gefährt, das, von Vater gesteuert, am Ende des Dorfes S. unvermittelt vor einem Garagentor hielt. Der Motor erstarb, eine Stille legte sich um den Wagen, und in den Scheiben standen unbewegt die Ausblicke. Vater, der seinen Kopf gegen das Wageninnere wendete, so dass die kurze, gerade Nase und sein kantiges Kinn als Silhouette unter der Hutkrempe sichtbar wurden, sagte:
- So! Da werden wir wohnen.
Die Worte weckten eine Erwartung, die uns aussteigen hieß, Mutter in ihrem Biberfellmantel, in neuen gefütterten Schuhen, die sie "fürs Dorf" gekauft hatte, mein Bruder und ich in schweren Wollmänteln, die Baskenmützen auf dem Kopf. Wir standen auf dem Vorplatz, in der kalten schneidenden Luft, folgten stapfend Vater durch den gedeckten Eingangsbereich und betraten das Haus, die leeren, hallenden Räume.
Ich habe mir das ganz anders vorgestellt, sagte Mutter, als sie vom künftigen Esszimmer durch die Schiebetür ins Wohnzimmer trat. Und ich stellte mich ans Fenster des dämmrigen Zimmers, das ich mit meinem Bruder teilen sollte, sah hinaus in eine Schneelandschaft, die sich unter einem nebligen Grau bis an den Fuß eines Hügelzuges erstreckte, eine Ebene, in der kein Zeichen den Blick aufhielt. Und ein aus Neugier und Ängstlichkeit gemischtes Gefühl bedrängte mich, der ich seit ein paar Augenblicken am Fenster meines künftigen Zimmers stand, in die Ebene hinaussah, und mir nicht klar wurde, ob ich wirklich hier sein möchte, in dem Dorf S., wohin die Familie an diesem Februartag am Anfang der Fünfzigerjahre hatte umziehen müssen.
Vaters Augenkrankheit, die er als junger Mann erlitten hatte, entschuldigte für Mutter so manches, was er an Unverständlichem tat. In B. waren sie doch glücklich gewesen, und dennoch hatte er widerspruchslos eingewilligt, hierher ins Dorf zu ziehen, um Teilhaber einer Gießerei zu werden, die Großvater gekauft
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hatte.
Vaters Augen waren um die helle Iris gelblich verfärbt. Sie hatten feine Buckeln wie von Insektenstichen, Vernarbungen der Spritzen, die er täglich drei Mal während seiner Erblindung erhalten hatte. Nach Wochen öffnete sich im einen Auge doch noch eine Spalte, drangen Licht und verschwommene Umrisse zu ihm durch, und Vater wurde geheilt, obschon man ihn bereits die Blindenschrift hatte lernen lassen
Ich liebte diese Augen mit den feinen Buckeln, in die unerwartet eine Hilflosigkeit kommen konnte, die sonst an seiner stattlichen Gestalt nicht zu finden war. Dann zitterten die Augäpfel, glitten hin und her, als würden sie versuchen, zwei Dinge, die sich aufeinander zu bewegten, in den Blick zu fassen, und dieses angstvolle Flimmern war auch an jenem Sonntag im Herbst in seinen Augen gewesen, als wir nach A. "beordert" wurden. Großvater saß oben am Tisch, um den sich die drei Söhne mit ihren Frauen und Kindern versammelt hatten, Großmutter die Weingläser, Käse und Aufschnitt bereitstellte. Er saß in dem Stuhl, der als einziger Armstützen hatte, ließ die Hand auf einen gelben Umschlag fallen, der vor ihm lag, sagte, es sei jetzt genug geredet, sie sollten zuhören. Er habe eine Maschinenfabrik und Gießerei gekauft, W. und O., die beiden älteren Söhne, hätten die Firma zu übernehmen, müssten ihre jetzigen Stellungen kündigen und W. nach S. umziehen. Während sein Bruder lärmte - er habe die Fabrik bereits "inspiziert" -, glitt Vaters Kopf nach vorn, sein Gesicht nahm einen stumpfen Ausdruck an, seine Schultern rückten zusammen, als machte er sich klein, würde eingeklemmt - und W. fühlte eine Beengung wie damals, als er während des Militärdienstes durch die Schneedecke des Morderatsch-Gletschers eingebrochen und in die Eisspalte gefallen war. Die Stimmen um ihn her waren ein reißendes Geräusch im Eis, die Forderung, seine jetzige Stellung als Leiter einer Fassfabrik aufzugeben, eine Wand, die glasig kalt ihn zu erdrücken drohte, und er rief, dass es in seinen Ohren dröhnte, er wolle in B. bleiben, er sei dort mit seiner Familie glücklich und mit der Arbeit zufrieden, habe einen Bekannten- und Freundeskreis, den er nicht aufgeben möchte, und merkte, dass nichts davon wirklich nach außen drang, seine zögerlichen Sätze ungehört blieben. Kein Seil wurde herabgelassen, niemand zog ihn hoch. W. sah, wie die Spalte sich über ihm schloss. Er müsste das Unvermeidliche akzeptieren, ebenso wie das Erblinden damals, und Vaters Blicke zitterten. Dann kamen sie zu einem Stillstand. Ohne Mutter oder einen von uns anzusehen, sagte er, er sei einverstanden, er werde kündigen, nach S. ziehen. Dann warf er den Kopf auf, und der Ton, in dem er weitersprach, glich dem des Großvaters:
- Wir werden die Bude in Schwung bringen.
Mutter hatte schon in B. den Grundriss der Wohnung maßstabgetreu aufgezeichnet, dann eine Seite aus dem Rechenheft meines Bruders getrennt, um daraus Rechtecke zu schneiden, die in ihrer Proportion den Möbeln entsprachen, Kasten, Dressoir und Buffet für das Esszimmer, in dem das Oval des Biedermeiertisches die Mitte einnahm; Sofa, Rauchtisch, Fauteuils, den Bücherschrank und die Kommode aus Köln für das Wohnzimmer; dazu Betten und Schränke. Sie schob diese Schnipsel auf dem Plan von einer Seite zur anderen, suchte in stundenlangem Brüten neue Kombinationen, geleitet vom Wunsch, die Zimmer möglichst ähnlich wie die in B. einzurichten. Auch dort, in dieser von ihr so geliebten Wohnung, hatten sich Wohnzimmer und Esszimmer gegenüber gelegen, allerdings getrennt durch einen zum Wohnzimmer hin offenen Flur, während hier in S. eine Schiebetür die beiden Räume verband. Doch die "Ambience" zu bewahren - ein für Mutter typisches Wort -, war die eigentliche Aufgabe, und die beschäftigte Mutter so sehr, dass sie kaum einmal aus den Fenstern sah, nicht wahrnehmen wollte, wie die Umgebung eine völlig andere war als in B., sich hinter dem Garten der Schnee zu einer Ebene weitete, blendend und leer, bis an den dunkel hereinbrechenden Wald.
Schnee hatte es in B. nur in Wörtern gegeben: Isch echt do obe Bauwele feil? Sie schütten eim e redli Teil in d' Gärte aben und ufs Hus; es schneit doch au, es isch e Gruus ... Schnee in Wörtern eines Dialekts, den ich selber sprach. Ihr Klang öffnete eine Landschaft, die an Zeiten großzügiger Gemächlichkeit erinnerte, in der es das "Here Hus" und "Chiledach" inmitten der Gärten gab, umringt von Gassen und Plätzen, aus denen die Landstraße hinaus in die Äcker und Felder führte.
Hier im Dorf jedoch gab es keine feilgebotene "Bauwele", hier lag nur einfach Schnee, knietief und zu Walmen von glasigen Brocken an den Straßenrändern aufgepflügt. Die Luft war eisig und klar, schlug sich hart an den Kleidern nieder, war von einer Helligkeit erfüllt, die erst an den Rändern in eine weiche, auch den Himmel bedeckende Trübe überging. Die Blendung des Schnees warf in die noch leeren Zimmer eine Schonungslosigkeit, die durchdringend war und immer schon aufzeigen würde, was man verbergen und nicht sehen wollte: Dass das Haus schlecht gebaut war, die Ziegelsteine als leichte Umrisse unter der Tapete sichtbar blieben. Dass wir einer ungeschützteren, auch einfacheren Lebensart ausgesetzt wären, die wir - außer vielleicht Vater von seiner Jugendzeit her - nicht kannten. Hier gäbe es keine solide und seit Jahrhunderten gewachsene Umgebung aus Straßenzügen und Gebäuden wie in der Stadt, den Park mit der Villa, auf die man von unserem Balkon aus gesehen hatte, keine Kapelle vor alten Häusern, deren spitzbogige Fenster von rotem Sandstein eingefasst waren. Im Dorf lagen die Häuser vereinzelt in Brachen und Feldern, waren nur lose um das Gemeindehaus aneinander gereiht, und während ich am Fenster meines Zimmers stand, hinaus in die Ebene und zum Wald hin schaute, beschlich mich die Angst, die raue, gewalttätige Wirklichkeit finde leichteren Eingang in diese von Lücken durchbrochenen Häuserreihen als in der Stadt. Unser Haus war zudem das letzte des Dorfes, bereits auf der anderen Seite der Bahnlinie errichtet, und stand unmittelbar an der Hauptstraße.
Die Wohnung ist zu eng, sagte Mutter, weshalb baut man hier auch so kleinlich.
Und doch schaffte sie es, die Anordnung der Möbel weitgehend derjenigen in der Wohnung von B. anzugleichen, allerdings erst mit Hilfe von zwei Arbeitern der Gießerei, welche die Stücke in den Zimmern herumrückten. Ein Rest ihrer Bemühung blieb jedoch ungelöst: das Kinderzimmer. Nichts, aber auch gar nichts von der dafür vorgesehenen Einrichtung wollte passen. Es war der kleinste und engste Raum der Wohnung, und die Lösung dieses Problems wurde Vater übertragen. Er ließ in der Modellschreinerei der Firma ein Kajütenbett herstellen, und da wir schon keine eigenen Zimmer hätten, sollte jeder wenigstens ein Pult bekommen, mein Bruder eines und ich eines. Diese wurden umgehend vom "größten Möbelzentrum" angeliefert, zwei identische Modelle, die, nebeneinander an die Wand gerückt, das Zimmer noch enger und schmaler machten, zumal sich das Kajütenbett als ein grobschlächtig sperriges Ding aus Fichte erweisen sollte. Es war aus Stangen und Brettern gewaltsam zusammengeschraubt worden, "primitiv", wie Mutter fand, während die Pulte, braun lackiert und mit goldenen Schlüsseln versehen, noch nicht einmal ihren Kommentar verdienten. Sie waren nur einfach "typisch" für dieses neue, billige Zeug, das in dem riesigen Fabrikwürfel am Ausgang des Dorfes angeboten wurde: Möchtegern-Möbel für Leute ohne Geschmack. Wir Jungen jedoch fanden die Pulte ganz praktisch, sie hatten Schubladen zu beiden Seiten, und die konnten wir abschließen. Einzig, dass die Platten sich schon nach kurzer Zeit durchbogen, die Schubladenteile sich spreizten, die Bücher und Bleistifte zur Mitte rutschten, störte ein wenig. Mutter resignierte sanft, nachdem sie anfänglich noch gegen die Einrichtung unseres Zimmers protestiert hatte, ohne in ihrem Urteil allerdings milder zu werden. Etwas war in die Wohnung eingedrungen, das nicht in ihr sorgfältiges Arrangement gehörte, das sie als unpassend und ihrer Lebensart in keiner Weise entsprechend empfand: Etwas Grobes, Anzeichen eines Verlustes von "Niveau".
RUSS
Der Platz vor der Eisengießerei und Maschinenfabrik verengte sich zu einem trichterförmigen Weg, der hinab zwischen die zusammengewürfelten Gebäude führte, an deren Ende Rauch in den bleiernen Himmel quoll. Rußig waren die Gebäude, schmutzig der Schnee, und W., das Ledermäppchen im Schoß, blieb einen Augenblick noch hinter dem Steuer seines Wagens sitzen.
Er hatte schon einmal, während des Krieges, eine Gießerei und Maschinenfabrik auf Anordnung seines Vaters geleitet. Das war lange her, und wenn er nun in dem engen Gefährt auf dem Vorplatz der Firma, die jetzt ihm und seinem Bruder gehörte, sitzen blieb, durch die Windschutzscheibe hinab in diesen rußigen Trichter sah und die allmählich eindringende Kälte spürte, so tat er dies, weil er sich in die Atmosphäre von damals zurückversetzt fühlte. Er hatte nach dem Krieg die Fabrik und damit den Einflussbereich seines Vaters verlassen, war nach B. übersiedelt. Die Zeiten änderten sich, etwas Neues kündigte sich an. Das Leben sollte nach all dem Furchtbaren leicht und bequem werden, man wollte in hellen, modern gestalteten Räumen wohnen, mit Einrichtungen, die für jedermann erschwinglich wären: Statt Fässer, die niemand mehr brauchte, fabrizierte W. in der Fabrik, die er als einen maroden Betrieb übernommen hatte, Holzspanplatten, aus denen sich Kücheneinrichtungen, Einbauschränke, Wohngestelle herstellen ließen, Novopan, das wie Holz aussah, jedoch aus gepresstem Sägemehl oder Hobelspänen bestand und mit den neuartigen Farben gestrichen werden konnte. Dieser leichtere und buntere Alltag hatte in der Stadt schon begonnen, man spürte die Zuversicht, es ginge den besseren Zeiten entgegen, in denen es genügend von allem und für alle geben würde. Die Nöte der Vergangenheit fänden nun für immer ein Ende. Und W. saß in dem engen Gefährt, blickte durch die randlose Brille und die Windschutzscheibe in den Trichter und diese Kargheit hinab. Hier hatte nichts begonnen. Er war zurückversetzt in die Vierzigerjahre, und die Atmosphäre war unverändert geblieben wie auf einem Photo: Grau und dunkel trotz Schnee, kalt wie ein Stück Eisen.
Ein Dumpf - das war, was heute unweigerlich in die Möbelstücke gestoßen wurde, wie gut man diese bei Umzügen auch schützen mochte. Im Stiegenhaus, bei einer zu engen Tür, durch die Kraftmeierei der Träger: Unausweichlich gäbe es diesen aus einem Stoßen, Schwanken entstehenden Ton, dumpf - und ich vermute, dass Mutter von diesem gedämpft hohlen Klang her das Wort ableitete, ja erfunden hat: der Dumpf, die Dümpfe - womit eine Delle gemeint war, die durch eine unsorgfältige Handhabe, beim Anstoßen an der Wand oder an einer Ecke in einem Möbelstück entstand. Ich musste sie mir ansehen, die "Dümpfe", die eigentlich Wunden an der Seele meiner Mutter waren, und ich habe im Kopfalbum meiner Erinnerungen das Bild eines Exemplars aufbewahrt: Eine fingerbeerengroße Vertiefung, die Mutter im polierten, abgedunkelten Holz der Biedermeierkommode, umrandet von einer feinen Bruchlinie, nach der endgültigen Platzierung des Möbels entdeckte. Sie fuhr mit der Hand darüber. Ihr Gesicht drückte Ärger und Schuld aus. In ihrem Kopf begannen die Sätze so oft mit: "Man stelle sich vor" - und das hatten Vater, mein Bruder und ich angesichts des Dumpfes über Tage hin zu tun, nämlich uns zu vergegenwärtigen, dass die Kommode schon im Stammhaus der mütterlichen Familie am Marktplatz von Flamersheim gestanden hatte, in dem ehrwürdigen Haus zwischen Synagoge und protestantischer Kirche, Sitz der Tuchhändler, Gold- und Silberminenbesitzer S., deren Namen zu erwähnen schon Napoleon für nicht zu gering hielt. Und wir hatten uns vorzustellen, dass diese vornehmen Kaufleute, deren Konterfeie nun nach Alter und Verwandtschaftsgrad geordnet über eben dieser Kommode hingen, das glatte, polierte Holz mit ihren Händen berührt hatten, über die Platte gefahren waren, auf die sie eine Tasse abgestellt, einen Brief gelegt hatten. Sie zogen an den ornamentierten Bügeln der Schubladen, um vielleicht wie Mutter eine der gestickten Decken herauszunehmen, die sich noch heute darin befanden. Und erst, wenn uns diese Bedeutung bewusst geworden war, mussten wir uns ferner vorstellen, wie diese Kommode nach Köln, von dort nach Rapperswil und Zofingen und weiter nach Bukarest gereist war, schließlich zurück nach B. gelangte, wo sie als ein Geschenk der Eltern in ihren Haushalt kam, die Zeit und die weiten Wege jedoch ohne wesentliche Beschädigung überstanden hatte, nun aber, da man gezwungen worden war, in ein Dorf zwischen Molassehügeln zu ziehen, ein "Dumpf" abbekommen hatte: Etwas, das nie mehr rückgängig zu machen war, auch wenn Mutter eine Methode kannte, "Dümpfe" zumindest der Auffälligkeit zu entziehen. Sie betupfte mit einem kleinen Schwamm die Stelle, geduldig und vorsichtig, denn die Delle stand in Konkurrenz zum Lack. Zu starke Durchnässung hätte den Lack geschädigt, er wäre um die Delle herum blind geworden, grau wie Schimmel, während andererseits das Befeuchten nötig war, um das alte Holz quellen zu lassen. Man musste mit Möbelpolitur nachhelfen - und irgendwann die Stelle auch einfach vergessen, weil nichts so wurde und blieb, wie man es sich vorgestellt hatte.
W. entschied sich, statt der paar Schritte vom Auto zur Treppe, die zu den Büros hinaufführte, durch den rußig matschigen Schnee hinunter in den Trichter zu gehen, den Betrieb der ganzen Länge nach zu durchschreiten, und zwar in der Mitte, ohne sich groß um die Gebäulichkeiten und Leute zu kümmern. Er würde die Arbeiter, die vor der Maschinenhalle in ihren schmutzigen Überziehern an einem Werkstück hämmerten, mit einem knappen Nicken grüßen, bei dem jungen Kerl, der ohne Schutzbrille eine Schweißnaht schliff, nicht stehen bleiben und auch keinen Blick in die Kernmacherei werfen, deren Tür wegen der Hitze offen stand, ihren verbrannt öligen Geruch entließ, den er vor sechs Jahre noch täglich eingeatmet hatte. Es war für ihn damals bei aller Einschränkung, die der Krieg mit sich brachte, erträglich gewesen. Er hatte seiner Augen wegen keinen Militärdienst leisten müssen, man unternahm mit der Familie, was möglich war, eine sonntägliche Wanderung im Jura, ein Essen mit Freunden im "Schwarzen Turm". Es hatte auch Irritationen gegeben, und W. streifte die Erinnerung an das Büromädchen nur flüchtig. Sie war so jung gewesen und hatte eine Jugendlichkeit besessen, die er wegen seiner Erblindung nie gehabt hatte. Ihre Nähe ließ ihn einen schmerzlichen Mangel spüren, den W. nicht benennen konnte, auch jetzt noch nicht, der ihn aber entgegen seiner Absicht einen Moment beim offenen Tor zur Gießereihalle einhalten ließ. Er rückte an der Brille. Es war dunkel in seinen Augäpfeln gewesen wie in dieser Halle hier, ohne die Umrisse, die er jetzt allmählich wahrnahm. Die Gusspfanne am Laufkran schwenkte ein, der Glutstrom aus dem Ofen schoss sprühend hervor. Und W. wandte sich ab, sah geblendet auf die verschneite Schrotthalde und die Holzverschläge mit den Eisenmasseln. Die winterliche Luft wehte einen harzigen Geruch aus dem verwinkelten zweistöckigen Gebäude der Modellschreinerei herüber, hinter deren mit Holzstaub beschlagenen Scheiben die Sägen krischen und Drehbänke grollten. In B. war alles wieder zur Ordnung gekommen. Es war ein Neuanfang gewesen, und er hatte in einer leichteren Stofflichkeit und in hellen Farben stattgefunden, in einer Umgebung ohne Ruß, ohne Eisen, ohne schmerzlichen Neid.Im Schnee des Gartens entdeckte ich Spuren. Überall gab es die Eindrücke, gerade und gezackte Linien hinter den aufgepflügten Walmen an der Straße entlang, in der Ebene gegen den Wald hin, und ich beugte mich über diese Vertiefungen, griff in sie hinein, um unter dem eingewehten Schnee nach der härteren Form zu tasten. So ließe sich lesen, welches Tier in welcher Richtung hier durchgegangen sei, hatte Vater gesagt, ob langsam oder auf der Flucht - "Siegel" nenne man die Spur in der Jägersprache, und ich entdeckte, während ich hinter Vater her die Treppe zur Turnhalle hinaufstieg, um während der "großen Pause" beim Rektor für die zweite Primarklasse angemeldet zu werden, dass auch Vater Siegel hinterließ, ja hier überall solche Siegel waren, wie es sie in B. nicht ...
Vaters Augen waren um die helle Iris gelblich verfärbt. Sie hatten feine Buckeln wie von Insektenstichen, Vernarbungen der Spritzen, die er täglich drei Mal während seiner Erblindung erhalten hatte. Nach Wochen öffnete sich im einen Auge doch noch eine Spalte, drangen Licht und verschwommene Umrisse zu ihm durch, und Vater wurde geheilt, obschon man ihn bereits die Blindenschrift hatte lernen lassen
Ich liebte diese Augen mit den feinen Buckeln, in die unerwartet eine Hilflosigkeit kommen konnte, die sonst an seiner stattlichen Gestalt nicht zu finden war. Dann zitterten die Augäpfel, glitten hin und her, als würden sie versuchen, zwei Dinge, die sich aufeinander zu bewegten, in den Blick zu fassen, und dieses angstvolle Flimmern war auch an jenem Sonntag im Herbst in seinen Augen gewesen, als wir nach A. "beordert" wurden. Großvater saß oben am Tisch, um den sich die drei Söhne mit ihren Frauen und Kindern versammelt hatten, Großmutter die Weingläser, Käse und Aufschnitt bereitstellte. Er saß in dem Stuhl, der als einziger Armstützen hatte, ließ die Hand auf einen gelben Umschlag fallen, der vor ihm lag, sagte, es sei jetzt genug geredet, sie sollten zuhören. Er habe eine Maschinenfabrik und Gießerei gekauft, W. und O., die beiden älteren Söhne, hätten die Firma zu übernehmen, müssten ihre jetzigen Stellungen kündigen und W. nach S. umziehen. Während sein Bruder lärmte - er habe die Fabrik bereits "inspiziert" -, glitt Vaters Kopf nach vorn, sein Gesicht nahm einen stumpfen Ausdruck an, seine Schultern rückten zusammen, als machte er sich klein, würde eingeklemmt - und W. fühlte eine Beengung wie damals, als er während des Militärdienstes durch die Schneedecke des Morderatsch-Gletschers eingebrochen und in die Eisspalte gefallen war. Die Stimmen um ihn her waren ein reißendes Geräusch im Eis, die Forderung, seine jetzige Stellung als Leiter einer Fassfabrik aufzugeben, eine Wand, die glasig kalt ihn zu erdrücken drohte, und er rief, dass es in seinen Ohren dröhnte, er wolle in B. bleiben, er sei dort mit seiner Familie glücklich und mit der Arbeit zufrieden, habe einen Bekannten- und Freundeskreis, den er nicht aufgeben möchte, und merkte, dass nichts davon wirklich nach außen drang, seine zögerlichen Sätze ungehört blieben. Kein Seil wurde herabgelassen, niemand zog ihn hoch. W. sah, wie die Spalte sich über ihm schloss. Er müsste das Unvermeidliche akzeptieren, ebenso wie das Erblinden damals, und Vaters Blicke zitterten. Dann kamen sie zu einem Stillstand. Ohne Mutter oder einen von uns anzusehen, sagte er, er sei einverstanden, er werde kündigen, nach S. ziehen. Dann warf er den Kopf auf, und der Ton, in dem er weitersprach, glich dem des Großvaters:
- Wir werden die Bude in Schwung bringen.
Mutter hatte schon in B. den Grundriss der Wohnung maßstabgetreu aufgezeichnet, dann eine Seite aus dem Rechenheft meines Bruders getrennt, um daraus Rechtecke zu schneiden, die in ihrer Proportion den Möbeln entsprachen, Kasten, Dressoir und Buffet für das Esszimmer, in dem das Oval des Biedermeiertisches die Mitte einnahm; Sofa, Rauchtisch, Fauteuils, den Bücherschrank und die Kommode aus Köln für das Wohnzimmer; dazu Betten und Schränke. Sie schob diese Schnipsel auf dem Plan von einer Seite zur anderen, suchte in stundenlangem Brüten neue Kombinationen, geleitet vom Wunsch, die Zimmer möglichst ähnlich wie die in B. einzurichten. Auch dort, in dieser von ihr so geliebten Wohnung, hatten sich Wohnzimmer und Esszimmer gegenüber gelegen, allerdings getrennt durch einen zum Wohnzimmer hin offenen Flur, während hier in S. eine Schiebetür die beiden Räume verband. Doch die "Ambience" zu bewahren - ein für Mutter typisches Wort -, war die eigentliche Aufgabe, und die beschäftigte Mutter so sehr, dass sie kaum einmal aus den Fenstern sah, nicht wahrnehmen wollte, wie die Umgebung eine völlig andere war als in B., sich hinter dem Garten der Schnee zu einer Ebene weitete, blendend und leer, bis an den dunkel hereinbrechenden Wald.
Schnee hatte es in B. nur in Wörtern gegeben: Isch echt do obe Bauwele feil? Sie schütten eim e redli Teil in d' Gärte aben und ufs Hus; es schneit doch au, es isch e Gruus ... Schnee in Wörtern eines Dialekts, den ich selber sprach. Ihr Klang öffnete eine Landschaft, die an Zeiten großzügiger Gemächlichkeit erinnerte, in der es das "Here Hus" und "Chiledach" inmitten der Gärten gab, umringt von Gassen und Plätzen, aus denen die Landstraße hinaus in die Äcker und Felder führte.
Hier im Dorf jedoch gab es keine feilgebotene "Bauwele", hier lag nur einfach Schnee, knietief und zu Walmen von glasigen Brocken an den Straßenrändern aufgepflügt. Die Luft war eisig und klar, schlug sich hart an den Kleidern nieder, war von einer Helligkeit erfüllt, die erst an den Rändern in eine weiche, auch den Himmel bedeckende Trübe überging. Die Blendung des Schnees warf in die noch leeren Zimmer eine Schonungslosigkeit, die durchdringend war und immer schon aufzeigen würde, was man verbergen und nicht sehen wollte: Dass das Haus schlecht gebaut war, die Ziegelsteine als leichte Umrisse unter der Tapete sichtbar blieben. Dass wir einer ungeschützteren, auch einfacheren Lebensart ausgesetzt wären, die wir - außer vielleicht Vater von seiner Jugendzeit her - nicht kannten. Hier gäbe es keine solide und seit Jahrhunderten gewachsene Umgebung aus Straßenzügen und Gebäuden wie in der Stadt, den Park mit der Villa, auf die man von unserem Balkon aus gesehen hatte, keine Kapelle vor alten Häusern, deren spitzbogige Fenster von rotem Sandstein eingefasst waren. Im Dorf lagen die Häuser vereinzelt in Brachen und Feldern, waren nur lose um das Gemeindehaus aneinander gereiht, und während ich am Fenster meines Zimmers stand, hinaus in die Ebene und zum Wald hin schaute, beschlich mich die Angst, die raue, gewalttätige Wirklichkeit finde leichteren Eingang in diese von Lücken durchbrochenen Häuserreihen als in der Stadt. Unser Haus war zudem das letzte des Dorfes, bereits auf der anderen Seite der Bahnlinie errichtet, und stand unmittelbar an der Hauptstraße.
Die Wohnung ist zu eng, sagte Mutter, weshalb baut man hier auch so kleinlich.
Und doch schaffte sie es, die Anordnung der Möbel weitgehend derjenigen in der Wohnung von B. anzugleichen, allerdings erst mit Hilfe von zwei Arbeitern der Gießerei, welche die Stücke in den Zimmern herumrückten. Ein Rest ihrer Bemühung blieb jedoch ungelöst: das Kinderzimmer. Nichts, aber auch gar nichts von der dafür vorgesehenen Einrichtung wollte passen. Es war der kleinste und engste Raum der Wohnung, und die Lösung dieses Problems wurde Vater übertragen. Er ließ in der Modellschreinerei der Firma ein Kajütenbett herstellen, und da wir schon keine eigenen Zimmer hätten, sollte jeder wenigstens ein Pult bekommen, mein Bruder eines und ich eines. Diese wurden umgehend vom "größten Möbelzentrum" angeliefert, zwei identische Modelle, die, nebeneinander an die Wand gerückt, das Zimmer noch enger und schmaler machten, zumal sich das Kajütenbett als ein grobschlächtig sperriges Ding aus Fichte erweisen sollte. Es war aus Stangen und Brettern gewaltsam zusammengeschraubt worden, "primitiv", wie Mutter fand, während die Pulte, braun lackiert und mit goldenen Schlüsseln versehen, noch nicht einmal ihren Kommentar verdienten. Sie waren nur einfach "typisch" für dieses neue, billige Zeug, das in dem riesigen Fabrikwürfel am Ausgang des Dorfes angeboten wurde: Möchtegern-Möbel für Leute ohne Geschmack. Wir Jungen jedoch fanden die Pulte ganz praktisch, sie hatten Schubladen zu beiden Seiten, und die konnten wir abschließen. Einzig, dass die Platten sich schon nach kurzer Zeit durchbogen, die Schubladenteile sich spreizten, die Bücher und Bleistifte zur Mitte rutschten, störte ein wenig. Mutter resignierte sanft, nachdem sie anfänglich noch gegen die Einrichtung unseres Zimmers protestiert hatte, ohne in ihrem Urteil allerdings milder zu werden. Etwas war in die Wohnung eingedrungen, das nicht in ihr sorgfältiges Arrangement gehörte, das sie als unpassend und ihrer Lebensart in keiner Weise entsprechend empfand: Etwas Grobes, Anzeichen eines Verlustes von "Niveau".
RUSS
Der Platz vor der Eisengießerei und Maschinenfabrik verengte sich zu einem trichterförmigen Weg, der hinab zwischen die zusammengewürfelten Gebäude führte, an deren Ende Rauch in den bleiernen Himmel quoll. Rußig waren die Gebäude, schmutzig der Schnee, und W., das Ledermäppchen im Schoß, blieb einen Augenblick noch hinter dem Steuer seines Wagens sitzen.
Er hatte schon einmal, während des Krieges, eine Gießerei und Maschinenfabrik auf Anordnung seines Vaters geleitet. Das war lange her, und wenn er nun in dem engen Gefährt auf dem Vorplatz der Firma, die jetzt ihm und seinem Bruder gehörte, sitzen blieb, durch die Windschutzscheibe hinab in diesen rußigen Trichter sah und die allmählich eindringende Kälte spürte, so tat er dies, weil er sich in die Atmosphäre von damals zurückversetzt fühlte. Er hatte nach dem Krieg die Fabrik und damit den Einflussbereich seines Vaters verlassen, war nach B. übersiedelt. Die Zeiten änderten sich, etwas Neues kündigte sich an. Das Leben sollte nach all dem Furchtbaren leicht und bequem werden, man wollte in hellen, modern gestalteten Räumen wohnen, mit Einrichtungen, die für jedermann erschwinglich wären: Statt Fässer, die niemand mehr brauchte, fabrizierte W. in der Fabrik, die er als einen maroden Betrieb übernommen hatte, Holzspanplatten, aus denen sich Kücheneinrichtungen, Einbauschränke, Wohngestelle herstellen ließen, Novopan, das wie Holz aussah, jedoch aus gepresstem Sägemehl oder Hobelspänen bestand und mit den neuartigen Farben gestrichen werden konnte. Dieser leichtere und buntere Alltag hatte in der Stadt schon begonnen, man spürte die Zuversicht, es ginge den besseren Zeiten entgegen, in denen es genügend von allem und für alle geben würde. Die Nöte der Vergangenheit fänden nun für immer ein Ende. Und W. saß in dem engen Gefährt, blickte durch die randlose Brille und die Windschutzscheibe in den Trichter und diese Kargheit hinab. Hier hatte nichts begonnen. Er war zurückversetzt in die Vierzigerjahre, und die Atmosphäre war unverändert geblieben wie auf einem Photo: Grau und dunkel trotz Schnee, kalt wie ein Stück Eisen.
Ein Dumpf - das war, was heute unweigerlich in die Möbelstücke gestoßen wurde, wie gut man diese bei Umzügen auch schützen mochte. Im Stiegenhaus, bei einer zu engen Tür, durch die Kraftmeierei der Träger: Unausweichlich gäbe es diesen aus einem Stoßen, Schwanken entstehenden Ton, dumpf - und ich vermute, dass Mutter von diesem gedämpft hohlen Klang her das Wort ableitete, ja erfunden hat: der Dumpf, die Dümpfe - womit eine Delle gemeint war, die durch eine unsorgfältige Handhabe, beim Anstoßen an der Wand oder an einer Ecke in einem Möbelstück entstand. Ich musste sie mir ansehen, die "Dümpfe", die eigentlich Wunden an der Seele meiner Mutter waren, und ich habe im Kopfalbum meiner Erinnerungen das Bild eines Exemplars aufbewahrt: Eine fingerbeerengroße Vertiefung, die Mutter im polierten, abgedunkelten Holz der Biedermeierkommode, umrandet von einer feinen Bruchlinie, nach der endgültigen Platzierung des Möbels entdeckte. Sie fuhr mit der Hand darüber. Ihr Gesicht drückte Ärger und Schuld aus. In ihrem Kopf begannen die Sätze so oft mit: "Man stelle sich vor" - und das hatten Vater, mein Bruder und ich angesichts des Dumpfes über Tage hin zu tun, nämlich uns zu vergegenwärtigen, dass die Kommode schon im Stammhaus der mütterlichen Familie am Marktplatz von Flamersheim gestanden hatte, in dem ehrwürdigen Haus zwischen Synagoge und protestantischer Kirche, Sitz der Tuchhändler, Gold- und Silberminenbesitzer S., deren Namen zu erwähnen schon Napoleon für nicht zu gering hielt. Und wir hatten uns vorzustellen, dass diese vornehmen Kaufleute, deren Konterfeie nun nach Alter und Verwandtschaftsgrad geordnet über eben dieser Kommode hingen, das glatte, polierte Holz mit ihren Händen berührt hatten, über die Platte gefahren waren, auf die sie eine Tasse abgestellt, einen Brief gelegt hatten. Sie zogen an den ornamentierten Bügeln der Schubladen, um vielleicht wie Mutter eine der gestickten Decken herauszunehmen, die sich noch heute darin befanden. Und erst, wenn uns diese Bedeutung bewusst geworden war, mussten wir uns ferner vorstellen, wie diese Kommode nach Köln, von dort nach Rapperswil und Zofingen und weiter nach Bukarest gereist war, schließlich zurück nach B. gelangte, wo sie als ein Geschenk der Eltern in ihren Haushalt kam, die Zeit und die weiten Wege jedoch ohne wesentliche Beschädigung überstanden hatte, nun aber, da man gezwungen worden war, in ein Dorf zwischen Molassehügeln zu ziehen, ein "Dumpf" abbekommen hatte: Etwas, das nie mehr rückgängig zu machen war, auch wenn Mutter eine Methode kannte, "Dümpfe" zumindest der Auffälligkeit zu entziehen. Sie betupfte mit einem kleinen Schwamm die Stelle, geduldig und vorsichtig, denn die Delle stand in Konkurrenz zum Lack. Zu starke Durchnässung hätte den Lack geschädigt, er wäre um die Delle herum blind geworden, grau wie Schimmel, während andererseits das Befeuchten nötig war, um das alte Holz quellen zu lassen. Man musste mit Möbelpolitur nachhelfen - und irgendwann die Stelle auch einfach vergessen, weil nichts so wurde und blieb, wie man es sich vorgestellt hatte.
W. entschied sich, statt der paar Schritte vom Auto zur Treppe, die zu den Büros hinaufführte, durch den rußig matschigen Schnee hinunter in den Trichter zu gehen, den Betrieb der ganzen Länge nach zu durchschreiten, und zwar in der Mitte, ohne sich groß um die Gebäulichkeiten und Leute zu kümmern. Er würde die Arbeiter, die vor der Maschinenhalle in ihren schmutzigen Überziehern an einem Werkstück hämmerten, mit einem knappen Nicken grüßen, bei dem jungen Kerl, der ohne Schutzbrille eine Schweißnaht schliff, nicht stehen bleiben und auch keinen Blick in die Kernmacherei werfen, deren Tür wegen der Hitze offen stand, ihren verbrannt öligen Geruch entließ, den er vor sechs Jahre noch täglich eingeatmet hatte. Es war für ihn damals bei aller Einschränkung, die der Krieg mit sich brachte, erträglich gewesen. Er hatte seiner Augen wegen keinen Militärdienst leisten müssen, man unternahm mit der Familie, was möglich war, eine sonntägliche Wanderung im Jura, ein Essen mit Freunden im "Schwarzen Turm". Es hatte auch Irritationen gegeben, und W. streifte die Erinnerung an das Büromädchen nur flüchtig. Sie war so jung gewesen und hatte eine Jugendlichkeit besessen, die er wegen seiner Erblindung nie gehabt hatte. Ihre Nähe ließ ihn einen schmerzlichen Mangel spüren, den W. nicht benennen konnte, auch jetzt noch nicht, der ihn aber entgegen seiner Absicht einen Moment beim offenen Tor zur Gießereihalle einhalten ließ. Er rückte an der Brille. Es war dunkel in seinen Augäpfeln gewesen wie in dieser Halle hier, ohne die Umrisse, die er jetzt allmählich wahrnahm. Die Gusspfanne am Laufkran schwenkte ein, der Glutstrom aus dem Ofen schoss sprühend hervor. Und W. wandte sich ab, sah geblendet auf die verschneite Schrotthalde und die Holzverschläge mit den Eisenmasseln. Die winterliche Luft wehte einen harzigen Geruch aus dem verwinkelten zweistöckigen Gebäude der Modellschreinerei herüber, hinter deren mit Holzstaub beschlagenen Scheiben die Sägen krischen und Drehbänke grollten. In B. war alles wieder zur Ordnung gekommen. Es war ein Neuanfang gewesen, und er hatte in einer leichteren Stofflichkeit und in hellen Farben stattgefunden, in einer Umgebung ohne Ruß, ohne Eisen, ohne schmerzlichen Neid.Im Schnee des Gartens entdeckte ich Spuren. Überall gab es die Eindrücke, gerade und gezackte Linien hinter den aufgepflügten Walmen an der Straße entlang, in der Ebene gegen den Wald hin, und ich beugte mich über diese Vertiefungen, griff in sie hinein, um unter dem eingewehten Schnee nach der härteren Form zu tasten. So ließe sich lesen, welches Tier in welcher Richtung hier durchgegangen sei, hatte Vater gesagt, ob langsam oder auf der Flucht - "Siegel" nenne man die Spur in der Jägersprache, und ich entdeckte, während ich hinter Vater her die Treppe zur Turnhalle hinaufstieg, um während der "großen Pause" beim Rektor für die zweite Primarklasse angemeldet zu werden, dass auch Vater Siegel hinterließ, ja hier überall solche Siegel waren, wie es sie in B. nicht ...
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Autoren-Porträt von Christian Haller
Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christian Haller
- 2006, 1, 283 Seiten, Maße: 12,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630872468
- ISBN-13: 9783630872469
- Erscheinungsdatum: 28.08.2006
Rezension zu „Die besseren Zeiten “
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