Die Blaue Reise
Die blaue Reise von IrisAlanyali
LESEPROBE
Mir ist heut so türkisch zumute
Inzwischen bin ich schon so langeDeutsche, dass es an der Zeit ist, finde ich, mirGedanken über das Türkischsein zu machen. Ich werde nämlich immer türkischer.Und ich will wissen, warum.
Aber ich sitze nicht zwischen allenStühlen und wanke auch nicht zwischen zwei Welten. Ich sage das lieber gleich,sonst sind nachher wieder alle enttäuscht.
Denn offensichtlich bin ich eineungewöhnliche Deutschtürkin. Ich kann Plateauschuhe nicht ausstehen, und ichhabe keine fünf Brüder mit ohnmächtiger Wut im Bauch. Ich habe überhaupt keineBrüder, nur die bereits erwähnte Schwester. Mein Vater schlägt weder uns nochunsere Mutter und kann sogar deutsche Relativsätze bilden. Aber immerhin haben meineEltern eine Satellitenschüssel auf dem Dach. Weil sie so gerne amerikanischeGolfsport- Kanäle gucken.
Die einzigen wirklichtürkenfeindlichen Sprüche, die ich mir jemals anhören musste, stammen von meinertürkischen Großtante, die mit meiner Großmutter ganz in unserer Nähe lebte.«Dieses Landvolk ruiniert unseren Ruf», pflegte sie über jedes Kopftuch aufschwäbischen Straßen zu schimpfen. «Ich bin ein Türkenschwabe», pflegt meinVater zu sagen, wenn er nach seiner Nationalität gefragt wird.
Und was bin ich?
Für Deutsche türkischer Herkunft wiemich war die Heimat unserer Väter lange Zeit nur das Sommersonnenferienland: entspannteMenschen und schönes Wetter. Wir sind in die Türkei gefahren, um Verwandte zubesuchen und im Meer zu schwimmen. Aber irgendwann wurden wir älter. Wir erkannten,dass eine türkische Oma im Wohnzimmer nicht das Normalste von der Welt ist.Dass es gar kein Witz sein soll, wenn uns jemand für unser gutes Deutsch lobt.Und wir bemerkten auch, dass unsere türkischen Verwandten uns ein bisschen so behandeltenwie die Elektrogeräte, die wir ihnen immer aus Deutschland mitbringen mussten:heiß begehrt, innig geliebt, aber letztlich etwas Fremdes. Wir selbst warenauch «made in Germany» und mussten für den Gebrauchim türkischen Alltag dringend noch ein bisschen zurechtgestutzt werden.
So sind wir zu Türken gemachtworden: von unserer türkischen Verwandtschaft, die uns die angenehmen Seitenihres Lebens zeigt und uns kopfschüttelnd Familiensinn und Heimatliebeeintrichtert. Von den Deutschen, die uns gern als Idealtürken preisen, weil wirso deutsch sind. Und von uns selbst - weil wir begonnen haben, uns auf dieSuche nach unseren Wurzeln zu machen.
Auch ich bin irgendwann neugieriggeworden. Es kann doch nicht sein, dachte ich mir, dass mich von anderenDeutschen nur die Fähigkeit unterscheidet, in der türkischen Imbissbude dasWort «Döner» richtig zu betonen (auf der zweiten Silbe!). Irgendwann bin ichnicht mehr nur zum Schwimmen in die Türkei gefahren. Habe die Türken mitKopftuch und Schnauzer in Deutschland nicht mehr einfach nur als Ausländerbetrachtet. Ich fing an, in meiner Erinnerung ebenso zu kramen wie in altenFotos, und wenn meine Eltern von früher erzählten, habe ich ganz genauaufgepasst, was zwischen den Zeilen steht.
Solche wie mich gibt es einige. Wirwerden immer mehr. Wir sind, ganz allmählich, zu bewussten Türken geworden. Zu Hobby-Türken.Freiwilligen Türken. Das unterscheidet uns von jenen, die unter demZusammenprall der Kulturen leiden. Wir wissen, dass wir uns aus beiden Kulturendas Beste heraussuchen können. Wir genießen es, dass wir uns über Deutsche undTürken lustig machen dürfen und dass es schwer ist, uns alsausländerfeindlich zu beschimpfen. Wir begreifen die Kombination aus deutscherHeimat und türkischer Verwandtschaft als Bereicherung, nicht als Bedrohung.
Und deshalb sitze ich nicht zwischenden Stühlen. Ich habe es mir auf einem breiten deutschen Sofa mit ein paarorientalischen Kissen sehr bequem gemacht. Mir ist heut so türkisch zumute,und ich will eine Liebesgeschichte erzählen. Nicht nur die meiner Eltern. Ichwerde von Deutschland, der Türkei und mir erzählen. Die Geschichte muss, wiealle guten Liebesgeschichten, auch von Lüge und Eifersucht handeln, von Vorurteilenund Missverständnissen erschüttert werden. Sie fühlt sich manchmal wie einekomplizierte Dreiecksbeziehung an und manchmal wie eine aufregende ménage à trois. Aberkeine falschen Erwartungen bitte: Ich bin eine anständige Türkin. Zu anständig,findet übrigens mein Vater. ( )
© Rowohlt Verlag
- Autor: Iris Alanyali
- 2009, 2. Aufl., 256 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499621347
- ISBN-13: 9783499621345
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