Die Chroniken der Elfen - Elfenzorn
Band 2
"Hohlbeins große Stärke sind die Bilder, die er heraufberschwört. Fast meint man beim Lesen einen Film zu sehen."
DIE WELT
Gerade eben ist Pia aus der fantastischen Welt Weiß-Walds nach Rio zurückgekehrt. Da...
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Produktinformationen zu „Die Chroniken der Elfen - Elfenzorn “
"Hohlbeins große Stärke sind die Bilder, die er heraufberschwört. Fast meint man beim Lesen einen Film zu sehen."
DIE WELT
Gerade eben ist Pia aus der fantastischen Welt Weiß-Walds nach Rio zurückgekehrt. Da beginnen sich schon wieder die Ereignisse zu überschlagen. Sie wird von Mafia-Boss Peralta geschnappt und ins Frauengefängnis im brasilianischen Dschungel verfrachtet. Peralta will sie büßen lassen. Doch dann tauchen plötzlich Wesen aus einer anderen Welt in Rio auf - und Pia spürt eine uralte Kraft in sich aufsteigen und versucht, auf die andere Seite zu gelangen. Und dort wartet auch schon ihr Todfeind Hernandez auf sie.
Lese-Probe zu „Die Chroniken der Elfen - Elfenzorn “
Elfenzorn von Wolfgang Hohlbein1
... mehr
Das Haus war dunkel und still, aber nicht verlassen. Nirgends brannte Licht, und weder aus den offen stehenden Fenstern
noch aus der halb aus den Angeln gerissenen Tür drang auch nur der kleinste Laut. Aber jemand war dort drinnen. Jemand oder etwas.
Pia konnte es spüren. Etwas ... lauerte in der trügerischen Stille hinter der Tür. Auf sie.
Sie huschte aus der kümmerlichen Deckung eines der halb vertrockneten Rhododendronbüsche, die in Estebans Vorgarten seit Jahren vor sich hin starben, in die eines noch dürreren (und ebenso verdurstenden) Rosenstrauches und konzentrierte sich ganz auf das dunkel daliegende Gebäude vor sich. Es fiel ihr ziemlich schwer. Sie musste unentwegt gegen den verrückten Gedanken ankämpfen, der Busch könnte plötzlich mit seinen Zweigen wie mit tausend dünnen dornigen Ärmchen nach ihr greifen und sie zu Tode quetschen.
Mit einiger Mühe schüttelte sie diesen Gedanken ab und konzentrierte sich endgültig auf das Haus. Es war Estebans Haus, und somit irgendwie auch ihres. Jedenfalls hatte sie in den zurückliegenden zwanzig Jahren genug Zeit darin verbracht, um mit Fug und Recht behaupten zu können, irgendwie darin aufgewachsen zu sein. Sie kannte es wie die berühmte Westentasche und hatte schon als Kind ein halbes Dutzend Wege ausgeknobelt, um aus dem Haus zu kommen, ohne dass Esteban oder einer seiner Wachhunde sie bemerkte; und logischerweise auch ebenso viele hinein. Im Moment liebäugelte sie mit dem Kellerfenster und dem Weg durch den Weinkeller und die Küche, oder mit dem direkteren Weg über das Garagendach und zum Fenster ihres alten Zimmers, was zwar schneller gegangen wäre, aber auch die Gefahr barg, dass man sie dabei beobachtete.
Dann fiel ihr ein, dass es da noch etwas gab, was sie vergessen hatte. Niemand konnte sie beobachten, wenn sie es nicht wollte.
Sie stand auf, streifte endlich den viel zu warmen und schweren Umhang ab und hüllte sich in einen anderen Mantel aus beschützenden Schatten.
Die Entscheidung schien richtig gewesen zu sein, denn ihre Füße setzten sich ganz ohne ihr eigenes Zutun in Bewegung, trugen sie aber nicht auf die Garage und das Vordach zu, sondern wieder ein Stück zurück und dann direkt zur Haustür. Zumindest ihre Stiefel schienen also der Meinung zu sein, dass sie tatsächlich unsichtbar war. Und wer war sie schon, ihnen zu widersprechen?
Direkt vor der Tür blieb sie trotzdem noch einmal stehen und sah sich aufmerksam in alle Richtungen um. Ihre innere Uhr verriet ihr, dass es kurz vor vier war. Noch gute zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Selbst über das verwinkelte Labyrinth der Favelas hatten sich mittlerweile Dunkelheit und Stille gesenkt. In dem einen oder anderen Haus (wenn man die zumeist aus Sperrholz oder Wellblech zusammengestümperten ärmlichen Hütten so nennen wollte) brannte zwar noch Licht, und von irgendwoher drang quäkende Musik aus einem billigen Kofferradio an ihr Ohr, aber darüber hinaus war das einzige Geräusch, das sie hörte, das ferne Grundrauschen der Stadt.
Dennoch wurde das unangenehme Gefühl, aus unsichtbaren Augen angestarrt zu werden, eher noch schlimmer.
Sie drehte sich wieder zur Tür um. Sie war halb aus den Angeln gerissen und sah aus, als genügte schon ein leiser Windhauch, um sie endgültig umfallen zu lassen. Ein asymmetrisches X aus gelben Absperrbändern bildete eine symbolische Barriere, unter der sie sich vorsichtig hindurchbückte, um sie nicht zu berühren und kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Alles war still. Das Haus war nicht nur menschenleer, sondern schien regelrecht den Atem anzuhalten. Aber etwas war hier.
Vielleicht waren es nur die Erinnerungen, dachte sie. Es war Wochen her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war, und alles war so schnell und panisch abgelaufen, dass der Schrecken nicht einmal wirklich Zeit gefunden hatte, sich ganz zu entfalten. Dafür spürte sie ihn jetzt umso deutlicher, zusammen mit ihrem schlechten Gewissen, in all den Wochen nicht ein einziges Mal an Esteban gedacht zu haben.
Möglicherweise lag es daran, dass hier alles so vollkommen unverändert aussah. Als wäre es gerade erst passiert und nicht schon Wochen her. Ein leicht chemischer Geruch hing in der Luft, und die Absperrbänder vor der Tür bewiesen, dass die Polizei hier gewesen war. Von Aufräumen schienen sie nicht sehr viel zu halten. Sah man von dem Geruch (sie vermutete, dass er von irgendeiner der geheimnisvollen Chemikalien der Spurensicherung stammte) und einer Unzahl kleiner Plastikschildchen mit schwarzen Zahlen ab, die an den unmöglichsten Stellen herumstanden, hätte man meinen können, dass Alica und sie das Haus gerade erst verlassen hatten.
Sie erinnerte sich wieder daran, weshalb sie eigentlich hergekommen war, machte einen Schritt auf die Treppe zu und blieb dann noch einmal stehen. Ihr Herz fing an schneller zu schlagen, und so ziemlich alles in ihr begann sich gegen die bloße Vorstellung zu sträuben, noch einmal in Estebans Zimmer zu gehen, doch ihre Stiefel schienen das für eine gute Idee zu halten.
Die Tür war mit einem amtlich aussehenden Siegel verschlossen, das sie ohne eine Spur schlechten Gewissens erbrach, und der Raum dahinter war so dunkel, dass sie nicht einmal Schatten sah. Trotz der Gefahr, dass jemand von außen das Licht entdeckte und die falschen (oder auch richtigen) Schlüsse daraus zog, tastete sie nach dem Lichtschalter, legte ihn um und schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich an das grelle Licht der nackten Glühbirne zu gewöhnen, die über dem Schreibtisch hing.
Es gelang ihr nicht völlig. Zeit ihres Lebens hatte sie sich über Estebans Geiz geärgert, der wahrscheinlich nicht einmal wusste, dass es Glühbirnen mit mehr als vierzig Watt Leistung gab, aber
in den Wochen, die hinter ihr lagen, hatten sich ihre Augen an den Schein von Kerzen und Öllampen gewöhnt, sodass ihr das matte elektrische Glühen trotzdem fast die Tränen in die Augen trieb.
Dennoch sah sie fast schon mehr, als sie wollte.
Das Zimmer glich einem Schlachtfeld. Nicht jenem anderen, apokalyptischen Schlachtfeld, von dem sie vor gerade einmal einer oder anderthalb Stunden geflohen war und auf dem vermutlich jetzt noch Menschen zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden starben, aber auf seine Art war der Anblick genauso erschreckend, wenn nicht sogar schlimmer.
Esteban war hier drinnen gestorben. Irgendwie (und dank des einen oder anderen dramatischen Umstandes, der ihr Leben in den letzten Wochen bestimmt hatte) war es ihr bisher gelungen, diese Erkenntnis nicht wirklich an sich herankommen zu lassen - an ihren Intellekt, ja, aber nicht an ihre Seele -, doch nun funktionierte dieser Schutz nicht mehr. Sie hatte gewusst, dass das passieren würde, aber nicht, wie schlimm das für sie wäre.
Der zerschrammte Tisch, an dem Esteban immer gesessen hatte und seinen Arbeiten nachgegangen war, stand jetzt so schräg wie ein schlampig eingeparkter Wagen da, und nicht mehr an der richtigen Stelle, sodass die nur an einem Draht baumelnde Glühbirne nicht mehr die Platte beschien, sondern den Fußboden daneben. Außerdem war die Platte leicht geneigt, weil eines der Beine abgebrochen war, als der Barbarenkrieger dagegen geprallt war. Papiere, aufgeschlagene Bücher und zerknitterte Zeitschriften lagen noch immer in derselben chaotischen Unordnung herum, in der sie vor drei oder vier Wochen heruntergefallen waren, und ihr Anblick entlockte Pia ein dünnes, trauriges Lächeln. Esteban und seine Papiere waren hier im Haus ein Anlass für gutmütige Frotzeleien gewesen, so lange sie sich zurückerinnern konnte, und vermutlich auch schon vorher. Er war ständig mit irgendwelchen Papieren beschäftigt gewesen, las, machte sich Notizen und blätterte, führte irgendwelche ominösen Listen und sortierte etwas um oder heftete tonnenweise altmodisches Papier in noch altmodischeren Ordnern ab. Niemand hatte je wirklich begriffen, was er da eigentlich tat, das den Verwaltungsaufwand einer kleinen Bank erforderte. Das lag zum Teil daran, dass er seine Papiere gehütet hatte wie seinen Augapfel, zum Teil aber daran, dass es niemanden wirklich interessierte. Pia hatte sich immer wieder vorgenommen, Esteban eines Tages einfach danach zu fragen, und es immer wieder verschoben ... und jetzt war es zu spät. Sie würde nie mehr erfahren, was Esteban über all diese Jahre und Jahrzehnte hinweg in seinen Ordnern abgeheftet und gesammelt hatte.
Ganz kurz erwog sie, es nachzuholen, hier und jetzt und auf der Stelle, verwarf die Idee aber augenblicklich wieder. Esteban würde es zwar nicht erfahren, doch es wäre ihr trotzdem wie ein Verrat an ihm vorgekommen.
Auch hier standen überall kleine Plastikschildchen mit aufgedruckten schwarzen Zahlen, und der chemische Geruch war so stark, dass sie im ersten Moment das Gefühl hatte, kaum noch Luft zu bekommen. Vielleicht war er auch gar nicht so schlimm ... möglicherweise war sie einfach an bessere Luft gewöhnt, und was sie roch, war nicht die chemische Hinterlassenschaft der Polizei, sondern einfach der Gestank der Stadt, in der sie aufgewachsen war.
Sie fragte sich, warum ihre Stiefel sie hierhergeführt hatten. Bestimmt nicht nur, damit sie um Esteban trauern konnte.
Nachdenklich sah sie sich um, ließ ihren Blick durch den Raum schweifen (wobei sie es ganz bewusst vermied, den dunklen Fleck hinter dem Schreibtisch anzusehen, der an der Stelle zu sehen war, an der Esteban gelegen hatte) und betrachtete noch einmal die kleinen Plastikschilder. Ihrer Anzahl nach zu schließen, musste die Polizei so ziemlich jedes Staubkorn fotografiert haben, das es hier drinnen gab. Selbst unmittelbar vor ihren Füßen stand eine schwarze »1« auf schmuddelig-weißem Grund, die ein centgroßes rundes Loch im Fußboden markierte.
Das Holz um sie herum war dunkel verfärbt, und Pia erinnerte sich daran, wie Alica den Fuß des Barbarenkriegers mit ihrem Pfennigabsatz perforiert hatte. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, tastete mit den Fingerspitzen danach und stellte mit einem Gefühl leiser Überraschung fest, dass das Holz noch feucht war, wo es sich mit dem Blut des Barbaren vollgesogen hatte. Nach all der Zeit?
Wenn es wirklich all die Zeit gewesen war.
Pia blieb eine geraume Weile reglos in der Hocke sitzen und dachte angestrengt nach. Seit Alica und sie in diesem Zimmer um ihr Leben gekämpft hatten und geflohen waren, waren viele Tage vergangen, Wochen ... aber was, wenn das nicht stimmte? Was, wenn ihr allererster Eindruck richtig gewesen war, und hier tatsächlich nur wenige Tage vergangen waren, vielleicht sogar nur Stunden?
Sie dachte an Hernandez, der nur kurz vor Alica und ihr in die Welt der Schattenelben und Orks gewechselt war und doch von sich behauptet hatte, seit zwölf Jahren dort zu sein, und erneut fiel ihr auf, wie sonderbar frisch hier alles wirkte. Vielleicht sah dieses Zimmer ja nicht nur so aus, als wäre die Polizei gerade erst abgerückt.
Einen Moment lang suchte sie fast verzweifelt nach Argumenten, um diese verrückte Idee zu widerlegen, aber allzu viele fand sie nicht. Sie hatte an die zwölf Jahre, von denen Hernandez gesprochen hatte, nie so recht geglaubt, aber er war sichtbar gealtert, um Jahre, nicht um Stunden; und hatte nicht auch Valoren eine entsprechende Andeutung gemacht, über verschiedene Welten und verschiedene Gesetze, denen die Zeit in ihnen gehorchte? Sie hatte die Bemerkung als den üblichen Humbug abgetan, als genau den pseudoesoterischen Quatsch, den man von einer Wahrsagerin in einem bunten Zelt auf dem Jahrmarkt zu hören erwartete.
Und was, wenn sie die Wahrheit gesagt hatte und - Irgendetwas ... tappte. Das Geräusch war leise, aber so nahe, als hätte es seinen Ursprung irgendwo in diesem Raum, doch als sie erschrocken hochsprang und sich herumdrehte, war sie allein. Ganz kurz glaubte sie ein körperloses Huschen in den Schatten wahrzunehmen, als hätte etwas versucht, Gestalt anzunehmen und diesen Versuch wieder abgebrochen, kurz bevor er wirklich zum Erfolg führen konnte, aber als sie genauer hinsah, war da natürlich nichts. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich, das war alles. Und nach allem, was hinter ihr lag, war das auch nicht weiter erstaunlich.
Sie lachte, leise und falsch und aus keinem anderen Grund als dem, den nagenden Schrecken abzuschütteln, mit dem sie das vermeintlich Gesehene erfüllte (selbstverständlich vergebens), drehte sich noch einmal im Kreis und versuchte das Problem mit Logik anzugehen.
Nicht, dass es ihr wirklich weiterhalf. Hier waren keine drei Wochen vergangen, daran immerhin gab es keine Zweifel, aber sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, ob es drei Stunden oder drei Tage gewesen waren. Vermutlich war es besser, wenn sie von drei Stunden ausging. Was nichts anderes bedeutete, als dass die Polizeibeamten demnächst zurückkommen und ihre Arbeit fortsetzen würden.
Aber nicht jetzt. Frühestens bei Sonnenaufgang, schätzte sie, wahrscheinlich sogar später. Eigentlich war es fast ein bisschen erstaunlich, dass sie überhaupt so schnell gekommen waren; oder um genau zu sein: dass sie überhaupt gekommen waren. Verbrechen in den Favelas interessierten die Polizei aus dem anständigen Teil der Stadt normalerweise wenig; nicht einmal Gewaltverbrechen. Wer interessierte sich schon für einen Mord in den Armenvierteln einer Stadt, in der es an manchen Tagen mehr Mordfälle gab als in dem einen oder anderen europäischen Staat in einem ganzen Monat? Darüber hinaus gab es hier so etwas wie eine unaus- gesprochene Vereinbarung, nach der man so etwas unter sich regelte.
Anderseits stand nicht einmal hier jeden Tag ein Leinenbeutel mit Drogen und Bargeld im Gegenwert von zwei Millionen herum ...
Der Gedanke führte zu einem anderen. Pia drehte sich ohne große Hoffnung noch einmal herum und ließ ihren Blick über den verwüsteten Schreibtisch und das Chaos auf dem Fußboden daneben schweifen, und sie wurde nicht enttäuscht: Wer immer hier ermittelt hatte, hatte ganz eindeutig nicht viel vom Aufräumen gehalten - aber so schlampig, den Seesack liegen zu lassen, war er doch nicht gewesen. Der Leinenbeutel war verschwunden, und wo er gestanden hatte, befand sich nun nichts als ein weiteres Plastikschildchen mit einer aufgedruckten Zahl. Pia verspürte ein sachtes Bedauern, das ihr zugleich ziemlich absurd vorkam. Geld war nun wirklich das, was sie im Moment am allerwenigsten interessierte. Aber manche alten Reflexe ließen sich offensichtlich nicht so schnell ablegen.
Manche Fragen anscheinend auch nicht.
Warum um alles in der Welt war sie hier?
Sie sah sich noch einmal aufmerksam in dem kleinen, heillos verwüsteten Zimmer um, entdeckte auch diesmal nichts Außergewöhnliches und machte ein paar ziellose Schritte, die sie um den schräg stehenden Schreibtisch herum und auf seine andere Seite führten. Weniger ihre Stiefel als vielmehr sie selbst schreckte instinktiv davor zurück, den Bereich zu betreten, wo sich die Fußbodenbretter von Estebans Blut dunkel gefärbt hatten, aber sie zwang sich trotzdem, weiterzugehen und den Schreibtisch noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hatte ihn selten aus dieser Perspektive gesehen (eigentlich nie, wenn sie es genau bedachte), aber es gab auch nichts Besonderes zu sehen. Es gab nur eine einzige, breite Schublade, die nicht einmal ein Schloss hatte, aber mit demselben amtlichen Siegel verschlossen war wie die Tür.
Pia brach es mit genauso wenigen Skrupeln auf wie das andere, öffnete die Schublade und sah genau das Durcheinander aus Notizzetteln, Büroklammern, Heftzwecken, trockenen Tabakkrümeln, Prospekten, Bleistiften, leeren Batterien, zerknülltem Papier und zehntausend anderen Dingen, das sie erwartet hatte. Wenn Esteban eines zeit seines Lebens nicht gewesen war, dann ordentlich. Und wenn es in dieser Schublade irgendetwas von Interesse gegeben hatte, wie vielleicht ein Notizbuch oder irgendetwas anderes Aufschlussreiches, fügte die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf hinzu, dann hatten die Polizisten es garantiert mitgenommen. Irgendeinen Grund musste es schließlich dafür geben, dass sie die Schublade so hochnotpeinlich versiegelt hatten.
Pia wollte die Schublade schon wieder schließen, als ihr Blick an einem zerschrammten Kästchen aus schwarzer Pappe hängen blieb. Es war sichtlich alt und mit einem spröde gewordenen Einmachgummi verschlossen, und als sie es herausnahm, klapperte etwas darin.
Behutsam streifte sie das Gummiband ab, hob den Deckel an und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als sie sah, was es enthielt.
Es waren zwei Fotografien, alt und zerknittert und offensichtlich auf einem billigen Tintenstrahldrucker ausgedruckt, denn die Farben waren an einigen Stellen ineinandergelaufen und allgemein zu einem blassen Sepiaton verblichen, und ein klobiger Ring, der trotz seiner Größe so aussah, als stammte er aus einem Kaugummiautomaten. Pia nahm ihn kurz in die Hand, war ein wenig erstaunt über sein Gewicht und legte ihn dann wieder zurück, um sich die beiden Fotos genauer anzusehen.
Sie stand mindestens eine Minute lang da und starrte auf die Bilder. Beide zeigten Esteban - einen ungefähr zwanzig Jahre jüngeren Esteban, wie sie schätzte - und auf beiden war auch ein Kind zu sehen; ein Mädchen von vielleicht anderthalb oder zwei Jahren, gerade alt genug, um aus eigener Kraft auf den Beinen zu stehen und vielleicht sogar ein paar Schritte zu machen, ohne sofort auf die Nase zu fallen, und auf einem davon ... sie selbst.
Nur, dass das vollkommen und ganz und gar unmöglich war.
Pia schloss für einen Moment die Augen, zählte in Gedanken bis fünf und sah dann noch einmal hin, aber an dem unglaublichen Anblick änderte sich nichts. Das Foto war mindestens fünfzehn oder zwanzig Jahre alt, das bewies nicht nur sein mitgenommener Zustand, sondern auch das Konterfei eines um ebenso viele Jahre jüngeren Esteban, aber die Frau darauf war ganz eindeutig sie.
Ihr Verstand beharrte nach wie vor darauf, dass das, was sie sah, gar nicht sein konnte ... aber was nutzte schon die Stimme der Vernunft gegen das, was sie sah?
Die Bilder waren nicht nur beide alt und von schlechter Qualität, sondern sahen auch so aus, als wären sie von jemandem aufgenommen worden, der nicht besonders viel Wert darauf gelegt hatte, beim Fotografieren bemerkt zu werden. Auf dem einen Foto war Esteban zu sehen, wie er das Kind (es war ziemlich pummelig, trug ein albernes pinkfarbenes Kleid und hatte glattes, bis auf die Schultern fallendes hellblondes Haar) auf den Armen trug und sich offenbar vom Versteck des Fotografen entfernte, auf dem anderen spielte das Kind mit einer einfachen Stoffpuppe, und Esteban und ihr vollkommen unmögliches Ebenbild standen ein paar Schritte dahinter und waren in ein offensichtlich sehr ernstes Gespräch vertieft. Die Frau (Pia weigerte sich immer noch, sie in Gedanken mit sich selbst zu vergleichen, obwohl die Ähnlichkeit wirklich frappierend war) hielt etwas in der Hand, das in der schlechten Auflösung des Digitalfotos nicht genau zu erkennen war.
Und dann begriff sie.
Der Gedanke war auf seine Art mindestens genauso absurd wie die Vorstellung, dieses unmögliche Bild könnte sie selbst zeigen ... und eigentlich tat es das ja auch. Nur nicht die sie, für die sie sich im ersten Moment gehalten hatte.
Sie starrte wieder die junge Frau an, die ihr auf so unheimliche Weise ähnlich sah, ohne sie zu sein, und dann das pummelige kleine Mädchen, und ein Gefühl von ... Empörung machte sich in ihr breit. Diese fette kleine Göre, die aussah, als hätten ihre kurzen Stummelbeinchen alle Mühe, das Gewicht ihres Körpers zu tragen, sollte sie sein? Und wer war dann ihr älteres Ebenbild? Ihre Mutter?
Die rein logische Antwort lautete: ja, aber sie weigerte sich im ersten Moment trotzdem, sie zu akzeptieren. Das Schicksal hatte ihr in den zurückliegenden Monaten eine Menge eingeschenkt, und sie hatte das meiste davon klaglos hingenommen (welche Wahl wäre ihr auch schon geblieben?), aber die Idee, dass sie ein fettes, hässliches Kind gewesen sein sollte, war einfach ... gemein. Und ihre Mutter sollte ihr ähneln wie ein eineiiger Zwilling dem anderen? Das war nicht nur absurd, das war ...
Nein, in Wirklichkeit liefen die Dinge einfach nicht so.
Dazu kam, dass sie einfach wusste, dass die Erklärung nicht so simpel war.
Sie kam zu dem Schluss, dass sie das Rätsel hier und jetzt wohl kaum lösen würde, legte die beiden Bilder in die Schachtel zurück und griff noch einmal nach dem Ring.
Erneut fiel ihr sein Gewicht auf, das den Eindruck, er käme aus dem nächstbesten Kaugummiautomaten, endgültig zunichte- machte. Er war grob gearbeitet und so groß, dass er selbst Esteban allerhöchstens gepasst hätte, wenn er ihn sich über den Daumen geschoben hätte, und seine Oberseite zeigte ein abgenutztes Symbol, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Drudenfuß hatte und zugleich auch wieder ganz anders aussah, ohne dass sie diesen Unterschied in Worte hätte fassen können. Wenn sie nur lange genug hinsah, dann schienen die Schatten zwischen den fein ziselierten Linien zu unheimlichem eigenem Leben zu erwachen.
Pia blinzelte. Der seltsame Effekt blieb, schien sich aber irgendwie ... verändert zu haben, doch auch diese Veränderung war nicht wirklich mit Blicken zu erfassen und schon gar nicht zu beschreiben. Irgendetwas kratzte an ihrer Seele, und da war ein flüchtiges Gefühl wie von etwas Suchendem, aber...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Das Haus war dunkel und still, aber nicht verlassen. Nirgends brannte Licht, und weder aus den offen stehenden Fenstern
noch aus der halb aus den Angeln gerissenen Tür drang auch nur der kleinste Laut. Aber jemand war dort drinnen. Jemand oder etwas.
Pia konnte es spüren. Etwas ... lauerte in der trügerischen Stille hinter der Tür. Auf sie.
Sie huschte aus der kümmerlichen Deckung eines der halb vertrockneten Rhododendronbüsche, die in Estebans Vorgarten seit Jahren vor sich hin starben, in die eines noch dürreren (und ebenso verdurstenden) Rosenstrauches und konzentrierte sich ganz auf das dunkel daliegende Gebäude vor sich. Es fiel ihr ziemlich schwer. Sie musste unentwegt gegen den verrückten Gedanken ankämpfen, der Busch könnte plötzlich mit seinen Zweigen wie mit tausend dünnen dornigen Ärmchen nach ihr greifen und sie zu Tode quetschen.
Mit einiger Mühe schüttelte sie diesen Gedanken ab und konzentrierte sich endgültig auf das Haus. Es war Estebans Haus, und somit irgendwie auch ihres. Jedenfalls hatte sie in den zurückliegenden zwanzig Jahren genug Zeit darin verbracht, um mit Fug und Recht behaupten zu können, irgendwie darin aufgewachsen zu sein. Sie kannte es wie die berühmte Westentasche und hatte schon als Kind ein halbes Dutzend Wege ausgeknobelt, um aus dem Haus zu kommen, ohne dass Esteban oder einer seiner Wachhunde sie bemerkte; und logischerweise auch ebenso viele hinein. Im Moment liebäugelte sie mit dem Kellerfenster und dem Weg durch den Weinkeller und die Küche, oder mit dem direkteren Weg über das Garagendach und zum Fenster ihres alten Zimmers, was zwar schneller gegangen wäre, aber auch die Gefahr barg, dass man sie dabei beobachtete.
Dann fiel ihr ein, dass es da noch etwas gab, was sie vergessen hatte. Niemand konnte sie beobachten, wenn sie es nicht wollte.
Sie stand auf, streifte endlich den viel zu warmen und schweren Umhang ab und hüllte sich in einen anderen Mantel aus beschützenden Schatten.
Die Entscheidung schien richtig gewesen zu sein, denn ihre Füße setzten sich ganz ohne ihr eigenes Zutun in Bewegung, trugen sie aber nicht auf die Garage und das Vordach zu, sondern wieder ein Stück zurück und dann direkt zur Haustür. Zumindest ihre Stiefel schienen also der Meinung zu sein, dass sie tatsächlich unsichtbar war. Und wer war sie schon, ihnen zu widersprechen?
Direkt vor der Tür blieb sie trotzdem noch einmal stehen und sah sich aufmerksam in alle Richtungen um. Ihre innere Uhr verriet ihr, dass es kurz vor vier war. Noch gute zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Selbst über das verwinkelte Labyrinth der Favelas hatten sich mittlerweile Dunkelheit und Stille gesenkt. In dem einen oder anderen Haus (wenn man die zumeist aus Sperrholz oder Wellblech zusammengestümperten ärmlichen Hütten so nennen wollte) brannte zwar noch Licht, und von irgendwoher drang quäkende Musik aus einem billigen Kofferradio an ihr Ohr, aber darüber hinaus war das einzige Geräusch, das sie hörte, das ferne Grundrauschen der Stadt.
Dennoch wurde das unangenehme Gefühl, aus unsichtbaren Augen angestarrt zu werden, eher noch schlimmer.
Sie drehte sich wieder zur Tür um. Sie war halb aus den Angeln gerissen und sah aus, als genügte schon ein leiser Windhauch, um sie endgültig umfallen zu lassen. Ein asymmetrisches X aus gelben Absperrbändern bildete eine symbolische Barriere, unter der sie sich vorsichtig hindurchbückte, um sie nicht zu berühren und kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Alles war still. Das Haus war nicht nur menschenleer, sondern schien regelrecht den Atem anzuhalten. Aber etwas war hier.
Vielleicht waren es nur die Erinnerungen, dachte sie. Es war Wochen her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war, und alles war so schnell und panisch abgelaufen, dass der Schrecken nicht einmal wirklich Zeit gefunden hatte, sich ganz zu entfalten. Dafür spürte sie ihn jetzt umso deutlicher, zusammen mit ihrem schlechten Gewissen, in all den Wochen nicht ein einziges Mal an Esteban gedacht zu haben.
Möglicherweise lag es daran, dass hier alles so vollkommen unverändert aussah. Als wäre es gerade erst passiert und nicht schon Wochen her. Ein leicht chemischer Geruch hing in der Luft, und die Absperrbänder vor der Tür bewiesen, dass die Polizei hier gewesen war. Von Aufräumen schienen sie nicht sehr viel zu halten. Sah man von dem Geruch (sie vermutete, dass er von irgendeiner der geheimnisvollen Chemikalien der Spurensicherung stammte) und einer Unzahl kleiner Plastikschildchen mit schwarzen Zahlen ab, die an den unmöglichsten Stellen herumstanden, hätte man meinen können, dass Alica und sie das Haus gerade erst verlassen hatten.
Sie erinnerte sich wieder daran, weshalb sie eigentlich hergekommen war, machte einen Schritt auf die Treppe zu und blieb dann noch einmal stehen. Ihr Herz fing an schneller zu schlagen, und so ziemlich alles in ihr begann sich gegen die bloße Vorstellung zu sträuben, noch einmal in Estebans Zimmer zu gehen, doch ihre Stiefel schienen das für eine gute Idee zu halten.
Die Tür war mit einem amtlich aussehenden Siegel verschlossen, das sie ohne eine Spur schlechten Gewissens erbrach, und der Raum dahinter war so dunkel, dass sie nicht einmal Schatten sah. Trotz der Gefahr, dass jemand von außen das Licht entdeckte und die falschen (oder auch richtigen) Schlüsse daraus zog, tastete sie nach dem Lichtschalter, legte ihn um und schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich an das grelle Licht der nackten Glühbirne zu gewöhnen, die über dem Schreibtisch hing.
Es gelang ihr nicht völlig. Zeit ihres Lebens hatte sie sich über Estebans Geiz geärgert, der wahrscheinlich nicht einmal wusste, dass es Glühbirnen mit mehr als vierzig Watt Leistung gab, aber
in den Wochen, die hinter ihr lagen, hatten sich ihre Augen an den Schein von Kerzen und Öllampen gewöhnt, sodass ihr das matte elektrische Glühen trotzdem fast die Tränen in die Augen trieb.
Dennoch sah sie fast schon mehr, als sie wollte.
Das Zimmer glich einem Schlachtfeld. Nicht jenem anderen, apokalyptischen Schlachtfeld, von dem sie vor gerade einmal einer oder anderthalb Stunden geflohen war und auf dem vermutlich jetzt noch Menschen zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden starben, aber auf seine Art war der Anblick genauso erschreckend, wenn nicht sogar schlimmer.
Esteban war hier drinnen gestorben. Irgendwie (und dank des einen oder anderen dramatischen Umstandes, der ihr Leben in den letzten Wochen bestimmt hatte) war es ihr bisher gelungen, diese Erkenntnis nicht wirklich an sich herankommen zu lassen - an ihren Intellekt, ja, aber nicht an ihre Seele -, doch nun funktionierte dieser Schutz nicht mehr. Sie hatte gewusst, dass das passieren würde, aber nicht, wie schlimm das für sie wäre.
Der zerschrammte Tisch, an dem Esteban immer gesessen hatte und seinen Arbeiten nachgegangen war, stand jetzt so schräg wie ein schlampig eingeparkter Wagen da, und nicht mehr an der richtigen Stelle, sodass die nur an einem Draht baumelnde Glühbirne nicht mehr die Platte beschien, sondern den Fußboden daneben. Außerdem war die Platte leicht geneigt, weil eines der Beine abgebrochen war, als der Barbarenkrieger dagegen geprallt war. Papiere, aufgeschlagene Bücher und zerknitterte Zeitschriften lagen noch immer in derselben chaotischen Unordnung herum, in der sie vor drei oder vier Wochen heruntergefallen waren, und ihr Anblick entlockte Pia ein dünnes, trauriges Lächeln. Esteban und seine Papiere waren hier im Haus ein Anlass für gutmütige Frotzeleien gewesen, so lange sie sich zurückerinnern konnte, und vermutlich auch schon vorher. Er war ständig mit irgendwelchen Papieren beschäftigt gewesen, las, machte sich Notizen und blätterte, führte irgendwelche ominösen Listen und sortierte etwas um oder heftete tonnenweise altmodisches Papier in noch altmodischeren Ordnern ab. Niemand hatte je wirklich begriffen, was er da eigentlich tat, das den Verwaltungsaufwand einer kleinen Bank erforderte. Das lag zum Teil daran, dass er seine Papiere gehütet hatte wie seinen Augapfel, zum Teil aber daran, dass es niemanden wirklich interessierte. Pia hatte sich immer wieder vorgenommen, Esteban eines Tages einfach danach zu fragen, und es immer wieder verschoben ... und jetzt war es zu spät. Sie würde nie mehr erfahren, was Esteban über all diese Jahre und Jahrzehnte hinweg in seinen Ordnern abgeheftet und gesammelt hatte.
Ganz kurz erwog sie, es nachzuholen, hier und jetzt und auf der Stelle, verwarf die Idee aber augenblicklich wieder. Esteban würde es zwar nicht erfahren, doch es wäre ihr trotzdem wie ein Verrat an ihm vorgekommen.
Auch hier standen überall kleine Plastikschildchen mit aufgedruckten schwarzen Zahlen, und der chemische Geruch war so stark, dass sie im ersten Moment das Gefühl hatte, kaum noch Luft zu bekommen. Vielleicht war er auch gar nicht so schlimm ... möglicherweise war sie einfach an bessere Luft gewöhnt, und was sie roch, war nicht die chemische Hinterlassenschaft der Polizei, sondern einfach der Gestank der Stadt, in der sie aufgewachsen war.
Sie fragte sich, warum ihre Stiefel sie hierhergeführt hatten. Bestimmt nicht nur, damit sie um Esteban trauern konnte.
Nachdenklich sah sie sich um, ließ ihren Blick durch den Raum schweifen (wobei sie es ganz bewusst vermied, den dunklen Fleck hinter dem Schreibtisch anzusehen, der an der Stelle zu sehen war, an der Esteban gelegen hatte) und betrachtete noch einmal die kleinen Plastikschilder. Ihrer Anzahl nach zu schließen, musste die Polizei so ziemlich jedes Staubkorn fotografiert haben, das es hier drinnen gab. Selbst unmittelbar vor ihren Füßen stand eine schwarze »1« auf schmuddelig-weißem Grund, die ein centgroßes rundes Loch im Fußboden markierte.
Das Holz um sie herum war dunkel verfärbt, und Pia erinnerte sich daran, wie Alica den Fuß des Barbarenkriegers mit ihrem Pfennigabsatz perforiert hatte. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, tastete mit den Fingerspitzen danach und stellte mit einem Gefühl leiser Überraschung fest, dass das Holz noch feucht war, wo es sich mit dem Blut des Barbaren vollgesogen hatte. Nach all der Zeit?
Wenn es wirklich all die Zeit gewesen war.
Pia blieb eine geraume Weile reglos in der Hocke sitzen und dachte angestrengt nach. Seit Alica und sie in diesem Zimmer um ihr Leben gekämpft hatten und geflohen waren, waren viele Tage vergangen, Wochen ... aber was, wenn das nicht stimmte? Was, wenn ihr allererster Eindruck richtig gewesen war, und hier tatsächlich nur wenige Tage vergangen waren, vielleicht sogar nur Stunden?
Sie dachte an Hernandez, der nur kurz vor Alica und ihr in die Welt der Schattenelben und Orks gewechselt war und doch von sich behauptet hatte, seit zwölf Jahren dort zu sein, und erneut fiel ihr auf, wie sonderbar frisch hier alles wirkte. Vielleicht sah dieses Zimmer ja nicht nur so aus, als wäre die Polizei gerade erst abgerückt.
Einen Moment lang suchte sie fast verzweifelt nach Argumenten, um diese verrückte Idee zu widerlegen, aber allzu viele fand sie nicht. Sie hatte an die zwölf Jahre, von denen Hernandez gesprochen hatte, nie so recht geglaubt, aber er war sichtbar gealtert, um Jahre, nicht um Stunden; und hatte nicht auch Valoren eine entsprechende Andeutung gemacht, über verschiedene Welten und verschiedene Gesetze, denen die Zeit in ihnen gehorchte? Sie hatte die Bemerkung als den üblichen Humbug abgetan, als genau den pseudoesoterischen Quatsch, den man von einer Wahrsagerin in einem bunten Zelt auf dem Jahrmarkt zu hören erwartete.
Und was, wenn sie die Wahrheit gesagt hatte und - Irgendetwas ... tappte. Das Geräusch war leise, aber so nahe, als hätte es seinen Ursprung irgendwo in diesem Raum, doch als sie erschrocken hochsprang und sich herumdrehte, war sie allein. Ganz kurz glaubte sie ein körperloses Huschen in den Schatten wahrzunehmen, als hätte etwas versucht, Gestalt anzunehmen und diesen Versuch wieder abgebrochen, kurz bevor er wirklich zum Erfolg führen konnte, aber als sie genauer hinsah, war da natürlich nichts. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich, das war alles. Und nach allem, was hinter ihr lag, war das auch nicht weiter erstaunlich.
Sie lachte, leise und falsch und aus keinem anderen Grund als dem, den nagenden Schrecken abzuschütteln, mit dem sie das vermeintlich Gesehene erfüllte (selbstverständlich vergebens), drehte sich noch einmal im Kreis und versuchte das Problem mit Logik anzugehen.
Nicht, dass es ihr wirklich weiterhalf. Hier waren keine drei Wochen vergangen, daran immerhin gab es keine Zweifel, aber sie hatte keine Möglichkeit herauszufinden, ob es drei Stunden oder drei Tage gewesen waren. Vermutlich war es besser, wenn sie von drei Stunden ausging. Was nichts anderes bedeutete, als dass die Polizeibeamten demnächst zurückkommen und ihre Arbeit fortsetzen würden.
Aber nicht jetzt. Frühestens bei Sonnenaufgang, schätzte sie, wahrscheinlich sogar später. Eigentlich war es fast ein bisschen erstaunlich, dass sie überhaupt so schnell gekommen waren; oder um genau zu sein: dass sie überhaupt gekommen waren. Verbrechen in den Favelas interessierten die Polizei aus dem anständigen Teil der Stadt normalerweise wenig; nicht einmal Gewaltverbrechen. Wer interessierte sich schon für einen Mord in den Armenvierteln einer Stadt, in der es an manchen Tagen mehr Mordfälle gab als in dem einen oder anderen europäischen Staat in einem ganzen Monat? Darüber hinaus gab es hier so etwas wie eine unaus- gesprochene Vereinbarung, nach der man so etwas unter sich regelte.
Anderseits stand nicht einmal hier jeden Tag ein Leinenbeutel mit Drogen und Bargeld im Gegenwert von zwei Millionen herum ...
Der Gedanke führte zu einem anderen. Pia drehte sich ohne große Hoffnung noch einmal herum und ließ ihren Blick über den verwüsteten Schreibtisch und das Chaos auf dem Fußboden daneben schweifen, und sie wurde nicht enttäuscht: Wer immer hier ermittelt hatte, hatte ganz eindeutig nicht viel vom Aufräumen gehalten - aber so schlampig, den Seesack liegen zu lassen, war er doch nicht gewesen. Der Leinenbeutel war verschwunden, und wo er gestanden hatte, befand sich nun nichts als ein weiteres Plastikschildchen mit einer aufgedruckten Zahl. Pia verspürte ein sachtes Bedauern, das ihr zugleich ziemlich absurd vorkam. Geld war nun wirklich das, was sie im Moment am allerwenigsten interessierte. Aber manche alten Reflexe ließen sich offensichtlich nicht so schnell ablegen.
Manche Fragen anscheinend auch nicht.
Warum um alles in der Welt war sie hier?
Sie sah sich noch einmal aufmerksam in dem kleinen, heillos verwüsteten Zimmer um, entdeckte auch diesmal nichts Außergewöhnliches und machte ein paar ziellose Schritte, die sie um den schräg stehenden Schreibtisch herum und auf seine andere Seite führten. Weniger ihre Stiefel als vielmehr sie selbst schreckte instinktiv davor zurück, den Bereich zu betreten, wo sich die Fußbodenbretter von Estebans Blut dunkel gefärbt hatten, aber sie zwang sich trotzdem, weiterzugehen und den Schreibtisch noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hatte ihn selten aus dieser Perspektive gesehen (eigentlich nie, wenn sie es genau bedachte), aber es gab auch nichts Besonderes zu sehen. Es gab nur eine einzige, breite Schublade, die nicht einmal ein Schloss hatte, aber mit demselben amtlichen Siegel verschlossen war wie die Tür.
Pia brach es mit genauso wenigen Skrupeln auf wie das andere, öffnete die Schublade und sah genau das Durcheinander aus Notizzetteln, Büroklammern, Heftzwecken, trockenen Tabakkrümeln, Prospekten, Bleistiften, leeren Batterien, zerknülltem Papier und zehntausend anderen Dingen, das sie erwartet hatte. Wenn Esteban eines zeit seines Lebens nicht gewesen war, dann ordentlich. Und wenn es in dieser Schublade irgendetwas von Interesse gegeben hatte, wie vielleicht ein Notizbuch oder irgendetwas anderes Aufschlussreiches, fügte die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf hinzu, dann hatten die Polizisten es garantiert mitgenommen. Irgendeinen Grund musste es schließlich dafür geben, dass sie die Schublade so hochnotpeinlich versiegelt hatten.
Pia wollte die Schublade schon wieder schließen, als ihr Blick an einem zerschrammten Kästchen aus schwarzer Pappe hängen blieb. Es war sichtlich alt und mit einem spröde gewordenen Einmachgummi verschlossen, und als sie es herausnahm, klapperte etwas darin.
Behutsam streifte sie das Gummiband ab, hob den Deckel an und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als sie sah, was es enthielt.
Es waren zwei Fotografien, alt und zerknittert und offensichtlich auf einem billigen Tintenstrahldrucker ausgedruckt, denn die Farben waren an einigen Stellen ineinandergelaufen und allgemein zu einem blassen Sepiaton verblichen, und ein klobiger Ring, der trotz seiner Größe so aussah, als stammte er aus einem Kaugummiautomaten. Pia nahm ihn kurz in die Hand, war ein wenig erstaunt über sein Gewicht und legte ihn dann wieder zurück, um sich die beiden Fotos genauer anzusehen.
Sie stand mindestens eine Minute lang da und starrte auf die Bilder. Beide zeigten Esteban - einen ungefähr zwanzig Jahre jüngeren Esteban, wie sie schätzte - und auf beiden war auch ein Kind zu sehen; ein Mädchen von vielleicht anderthalb oder zwei Jahren, gerade alt genug, um aus eigener Kraft auf den Beinen zu stehen und vielleicht sogar ein paar Schritte zu machen, ohne sofort auf die Nase zu fallen, und auf einem davon ... sie selbst.
Nur, dass das vollkommen und ganz und gar unmöglich war.
Pia schloss für einen Moment die Augen, zählte in Gedanken bis fünf und sah dann noch einmal hin, aber an dem unglaublichen Anblick änderte sich nichts. Das Foto war mindestens fünfzehn oder zwanzig Jahre alt, das bewies nicht nur sein mitgenommener Zustand, sondern auch das Konterfei eines um ebenso viele Jahre jüngeren Esteban, aber die Frau darauf war ganz eindeutig sie.
Ihr Verstand beharrte nach wie vor darauf, dass das, was sie sah, gar nicht sein konnte ... aber was nutzte schon die Stimme der Vernunft gegen das, was sie sah?
Die Bilder waren nicht nur beide alt und von schlechter Qualität, sondern sahen auch so aus, als wären sie von jemandem aufgenommen worden, der nicht besonders viel Wert darauf gelegt hatte, beim Fotografieren bemerkt zu werden. Auf dem einen Foto war Esteban zu sehen, wie er das Kind (es war ziemlich pummelig, trug ein albernes pinkfarbenes Kleid und hatte glattes, bis auf die Schultern fallendes hellblondes Haar) auf den Armen trug und sich offenbar vom Versteck des Fotografen entfernte, auf dem anderen spielte das Kind mit einer einfachen Stoffpuppe, und Esteban und ihr vollkommen unmögliches Ebenbild standen ein paar Schritte dahinter und waren in ein offensichtlich sehr ernstes Gespräch vertieft. Die Frau (Pia weigerte sich immer noch, sie in Gedanken mit sich selbst zu vergleichen, obwohl die Ähnlichkeit wirklich frappierend war) hielt etwas in der Hand, das in der schlechten Auflösung des Digitalfotos nicht genau zu erkennen war.
Und dann begriff sie.
Der Gedanke war auf seine Art mindestens genauso absurd wie die Vorstellung, dieses unmögliche Bild könnte sie selbst zeigen ... und eigentlich tat es das ja auch. Nur nicht die sie, für die sie sich im ersten Moment gehalten hatte.
Sie starrte wieder die junge Frau an, die ihr auf so unheimliche Weise ähnlich sah, ohne sie zu sein, und dann das pummelige kleine Mädchen, und ein Gefühl von ... Empörung machte sich in ihr breit. Diese fette kleine Göre, die aussah, als hätten ihre kurzen Stummelbeinchen alle Mühe, das Gewicht ihres Körpers zu tragen, sollte sie sein? Und wer war dann ihr älteres Ebenbild? Ihre Mutter?
Die rein logische Antwort lautete: ja, aber sie weigerte sich im ersten Moment trotzdem, sie zu akzeptieren. Das Schicksal hatte ihr in den zurückliegenden Monaten eine Menge eingeschenkt, und sie hatte das meiste davon klaglos hingenommen (welche Wahl wäre ihr auch schon geblieben?), aber die Idee, dass sie ein fettes, hässliches Kind gewesen sein sollte, war einfach ... gemein. Und ihre Mutter sollte ihr ähneln wie ein eineiiger Zwilling dem anderen? Das war nicht nur absurd, das war ...
Nein, in Wirklichkeit liefen die Dinge einfach nicht so.
Dazu kam, dass sie einfach wusste, dass die Erklärung nicht so simpel war.
Sie kam zu dem Schluss, dass sie das Rätsel hier und jetzt wohl kaum lösen würde, legte die beiden Bilder in die Schachtel zurück und griff noch einmal nach dem Ring.
Erneut fiel ihr sein Gewicht auf, das den Eindruck, er käme aus dem nächstbesten Kaugummiautomaten, endgültig zunichte- machte. Er war grob gearbeitet und so groß, dass er selbst Esteban allerhöchstens gepasst hätte, wenn er ihn sich über den Daumen geschoben hätte, und seine Oberseite zeigte ein abgenutztes Symbol, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Drudenfuß hatte und zugleich auch wieder ganz anders aussah, ohne dass sie diesen Unterschied in Worte hätte fassen können. Wenn sie nur lange genug hinsah, dann schienen die Schatten zwischen den fein ziselierten Linien zu unheimlichem eigenem Leben zu erwachen.
Pia blinzelte. Der seltsame Effekt blieb, schien sich aber irgendwie ... verändert zu haben, doch auch diese Veränderung war nicht wirklich mit Blicken zu erfassen und schon gar nicht zu beschreiben. Irgendetwas kratzte an ihrer Seele, und da war ein flüchtiges Gefühl wie von etwas Suchendem, aber...
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Wolfgang Hohlbein
Wolfgang Hohlbein, geb. 1953 in Weimar geboren, ist der meistgelesene und erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor. Seine Bücher decken die ganze Palette der Unterhaltungsliteratur ab von Kinder- und Jugendbüchern über Romane und Drehbücher zu Filmen, von Fantasy über Sciencefiction bis hin zum Horror. Der Durchbruch gelang ihm 1982 mit dem Jugendbuch 'Märchenmond', für das er mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet wurde. 1993 schaffte er mit seinem phantastischen Thriller 'Das Druidentor' im Hardcover für Erwachsene den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste. Die Auflagen seiner Bücher gehen in die Millionen und immer noch wird seine Fangemeinde Tag für Tag größer. Der passionierte Motorradfahrer und Zinnfigurensammler lebt zusammen mit seiner Frau und Co-Autorin Heike, seinen Kindern und zahlreichen Hunden und Katzen am Niederrhein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- 765 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008314
- ISBN-13: 9783868008319
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