Die Clerkenwell-Erzählungen
Roman
London, 1399: Ein Jahrhundert geht zu Ende. Und mehr. Gespenster ziehen durch die Straßen. Echte und eingebildete. Vom Weltuntergang ist die Rede, von Umsturz, Intrigen, Mord. Im Mittelpunkt der Verstörung steht eine junge Frau, Schwester Clarissa, die...
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Produktinformationen zu „Die Clerkenwell-Erzählungen “
London, 1399: Ein Jahrhundert geht zu Ende. Und mehr. Gespenster ziehen durch die Straßen. Echte und eingebildete. Vom Weltuntergang ist die Rede, von Umsturz, Intrigen, Mord. Im Mittelpunkt der Verstörung steht eine junge Frau, Schwester Clarissa, die Nonne von Kloster Clerkenwell. Visionen hat sie. Feuer und Tod drohten der Stadt, und die Tage König Richards II. seien gezählt. Alles nur das Geplapper einer verrückten? Oder doch ein Blick in die Zukunft? Während Bischöfe, Edelleute, Gelehrte und das einfache Volk noch streiten, ob Gott oder der Teufel die Nonne lenken, geht in London die erste Kirche in Flammen auf. Dann die zweite. Zuletzt treibt die Leiche eines bekannten Medikus im Fleet. Panik erfasst die Menschen. Und hinter uralten Mauern planen feine Herren ein blutiges Spiel, von dem nur einer weiß.
Klappentext zu „Die Clerkenwell-Erzählungen “
König, Tod und Teufel. Und eine verrückte Nonne.Peter Ackroyd ist ein wahres Chamäleon der Literatur. Seine Bücher sorgen für Furore. Zuletzt seine opulente Biografie über London: »Ein reiches Buch, voller Witz und Wissen, voller Elan und Leben, brillant geschrieben.« Die Zeit
Jetzt entführt er uns in die Zeit des Mittelalters, als die Menschen ihren Glauben verloren. Als Könige und Päpste stürzten und die Welt aus den Fugen geriet. In eine Zeit, die uns näher steht, als wir ahnen.
London, 1399: Ein Jahrhundert geht zu Ende. Und mehr. Gespenster ziehen durch die Straßen. Echte und eingebildete. Vom Weltuntergang ist die Rede, von Umsturz, Intrigen, Mord. Im Mittelpunkt der Verstörung steht eine junge Frau, Schwester Clarissa, die Nonne von Kloster Clerkenwell. Visionen hat sie. Feuer und Tod drohten der Stadt, und die Tage König Richards II. seien gezählt. Alles nur das Geplapper einer verrückten? Oder doch ein Blick in die Zukunft? Während Bischöfe, Edelleute, Gelehrte und das einfache Volk noch streiten, ob Gott oder der Teufel die Nonne lenken, geht in London die erste Kirche in Flammen auf. Dann die zweite. Zuletzt treibt die Leiche eines bekannten Medikus im Fleet. Panik erfasst die Menschen. Und hinter uralten Mauern planen feine Herren ein blutiges Spiel, von dem nur einer weiß...
»Die Erzählungen von Clerkenwell« sind ein Kaleidoskop, ein Bilderbogen, ein Diamant mit vielen Facetten. Wie einst sein berühmter Landsmann Geoffrey Chaucer schaut Ackroyd den Menschen aufs Maul, kriecht ihnen unter die Haut. Ob Priester, Medikus oder Koch, Ritter, Kaufmann oder Kupplerin - das pralle Leben rückt uns hier auf den Leib. Ungeschönt und mit allen Sinnen inszeniert. Ackroyds apokalyptischer Thriller verbindet die Wucht shakespearescher Königsdramen mit der Raffinesse eines Umberto Eco.
Lese-Probe zu „Die Clerkenwell-Erzählungen “
Die FigurenVielleicht erinnert sich der Leser daran, dass viele Personen aus dieser Geschichte auch in den "Canterbury-Erzählungen" von Geoffrey Chaucer vorkommen. Wie sagte doch William Blake: "Die Figuren aus Chaucers Pilgerzug sind Gestalten aller Epochen und Völker. Während eine Epoche versinkt, steigt die nächste empor. Dem sterblichen Auge erscheinen sie verschieden, den Unsterblichen jedoch ewig gleich ..."
Dame Agnes de Mordaunt, Priorin | Dame Alice, Kupplerin | Garret Barton, Gutsbesitzer | Coke Bateman, Müller | Bogo, Büttel | Heinrich Bolingbroke, Thronanwärter | Oliver Boteler, Knappe | Robert Braybroke, Bischof von London | Schwester Birgitta, zweite Nonne | Geoffrey de Calis, Ritter | Schwester Clarissa, Nonne | Drago, Bediensteter des Kanonikus | Johannes Duckling, Nonnenpriester | Wilhelm Exmewe, Augustinerpater | Johannes Ferrour, Geistlicher | Hamo Fulberd, Buchmaler | Thomas Gunter, Arzt | Emnot Hallyng, Scholar | Gabriel Hilton, Juwelenhändler | Janekin, Lehrling | Jolland, Mönch | Oswald Koo, Aufseher | Dame Magga, Wirtin | Gybon Maghfeld, Knappe | Richard Marrow, Zimmermann | Martin, Rechtsgelehrter | Brank Mongorray, Mönch | Robert Rafu, Stiftsverwalter | Richard II., König von England | Gilbert Rosseler, Schiffer | Anna Strago, Kaufmannsfrau | Radulf Strago, Kaufmann | Umbald von Arderne, Ablasshändler | Miles Vavasour, Königlicher Rechtsvertreter | Roger Walden, Erzbischof von Canterbury | Roger aus Ware, Koch |
I
Die Priorin
Dame Agnes de Mordaunt saß auf der Fensterbank ihres Gemachs und schaute auf den Garten des Marienklosters zu Clerkenwell hinaus. Da ihre Tante vor ihr Priorin gewesen war, fühlte sie sich aus familiären Gründen dem Grundbesitz ebenso verpflichtet wie den ihrer Obhut anvertrauten Seelen. "Forparadis" - "Draußen vor dem Paradies" - nannte man den Garten, doch an jenem milden Februarmorgen schien er mit dem Balsam des Gartens Eden gesegnet. Im Gedenken an die Allerheiligste Dreifaltigkeit besaß er die
... mehr
Form eines Dreiecks. Zu jeder Seite hatte man ein dreieckiges Beet angelegt, für die drei Verbindungswege waren dreiunddreißig Steinplatten verlegt worden. Die drei Mauern rings um den Garten - je dreiunddreißig Fuß hoch - bestanden aus dreierlei Material: Steinknack, Flint und Sandstein. Als Sinnbild der Auferstehung hatte man unter einem Kirschbaum einige Lilien gepflanzt. Sie sollten in der Sprache der Blumen von jenen Worten künden, die Dame Agnes auswendig kannte: "Wie eine Lilie wird er wachsen, der Gerechte, und blühen vor dem Antlitz Gottes." Doch dann seufzte sie. Wer hätte mehr Unglück über dieses Haus bringen können, wer mehr Öl ins Feuer gießen? Wer die Freuden des Himmels oder die Höllenqualen so vermehren?
Jenseits des ummauerten Gartens konnte sie auf den Feldern, die bis zum Fluss hinunterreichten, das Brauhaus mit seinem Taubenschlag erkennen, den vertrauten Wagenunterstand und neben den Stallungen die Dungkate. Am Westufer des Fleet stand die Mühle und auf der anderen Seite eine Hütte mit gekalkten Wänden und Strohdach, die dem Klostermeier gehörte. Müller und Meier waren in einen langwierigen Rechtsstreit über ihre Anrechte an dem Fluss verwickelt, der zwischen ihren Häusern floss. Schon oft hatten sie an der Fleetmündung eine der Themsebarken nach Westminster genommen, um ihre Sache vor einem Richter oder einem Königlichen Rechtsvertreter durchzusetzen. Bisher leider ohne endgültige Entscheidung. Das Boot koste zwei Pence, hatte der Meier zu Agnes gesagt, während das Gesetz einen Menschen um alles bringe. Die Priorin hatte versucht zu vermitteln, aber neben vielen anderen hatte ihr auch die Zellerarin erklärt, genauso gut könne sie Honig zwischen Dornen ausgießen.
Der Essensgeruch, der durch den Kreuzgang aus der Küche herüberdrang, stieg ihr in die Nase, sie hörte die Blechteller scheppern, die für Brot und Fleisch nach der Prim gespült wurden. Würde sich die Welt bis zum Jüngsten Tage immer so weiterdrehen? Regentropfen gleichen wir, die schräg zur Erde fallen. Ihr Äffchen spürte ihre Melancholie. Es kletterte auf ihre Schulter und begann, mit dem goldenen Ring zu spielen, der an einem Seidenfaden zwischen ihren Brüsten hing. Sie sang ihm ein neues französisches Lied vor: "Jay tout perdu mon temps et mon labour." Danach ließ sie es raten, in welcher Hand sie eine Haselnuss versteckt hielt.
Schon als junges Mädchen war sie ins Marienkloster eingetreten und hatte sich seither eine kindliche Scheu und Schüchternheit bewahrt. Allerdings konnte sie im Hochgefühl eines fast kindischen Stolzes auf ihre hohe Stellung auch aufbrausend und jähzornig sein. Sie sollte sich am Tag der Unschuldigen Kinder mit dem Kinderbischof paaren, flüsterten einige der jüngeren Nonnen. Ihr Gemach war mit grünem Tuch ausgeschlagen, die Vorhänge waren aus grünem Samt. Von der grünen Farbe hieß es, sie stimme die Geister der Unterwelt freundlich. Es sei klug, hatte sie gesagt, den Quell nicht zu wecken. Besagter Pfaffenquell lag unmittelbar hinter der steinernen Klostermauer, nur wenige Fuß vom Infirmarium entfernt, und galt als heilige Stätte.
Zu dieser Morgenstunde nahm sie entweder einen mit Zimt und Heliotrop gewürzten Trank oder hellen Bordeaux zu sich. Der Süßwein beruhigte ihren empfindlichen Magen, den sie jenen Prüfungen verdankte, die sie jüngst erduldet hatte. Gerüchte über die seltsamen Vorfälle im Kloster waren bereits bis zu den Garküchen an der East Cheap und den Fischständen in der Friday Street gedrungen. Obwohl man Agnes diese leicht verworrenen Geschichten nicht berichtet hatte, war sie sich einer merkwürdigen Unruhe in der Nachbarschaft bewusst und verspürte Unbehagen. Sie tauchte ihren Finger in Wein und Honig und ließ dann das Äffchen daran saugen. "Der erste Finger ist der kleine Mann", murmelte sie ihm mit einer kindlichen Stimme zu, die ihr in Gesellschaft peinlich gewesen wäre. "Das ist der Baderfinger, denn den benützt der Medikus. Der nächste heißt der lange Mann. Das ist der Zeiger oder auch Topfschlecker genannt. Siehst du? Damit berühre ich deine Nase." An der Türe klopfte es laut. Rasch erhob sie sich von der Fensterbank. "Wer ist da?"
"Idonea, ma dame."
"In Gottes Namen, Idonea, tritt ein."
Die Subpriorin, eine ältliche Nonne mit einem Gesicht so wund und zerklüftet wie zu stark gesalzenes Pökelfleisch, konnte die Aufforderung kaum abwarten. Trotz ihrer hastig angedeuteten Verbeugung war klar, dass sie vor Aufregung schier platzte. "Sie hat einen Anfall. Sie spricht mit fremder Zunge und nicht mit ihrer eigenen."
Wie immer betrachtete Agnes mitleidig Idoneas unschöne Gesichtszüge. "Sie kämpft mit Gott."
Es bedurfte keiner Erklärung, wer mit "sie" gemeint war. Schwester Clarissa, die verrückte Nonne von Clerkenwell, war in den unterirdischen Gängen des Klosters empfangen und geboren worden.
"Wo ist sie jetzt?"
"Im bunten Gemach."
Schon früher war über das Marienkloster Unglück gekommen. Gewisse Nonnen hatten während der Amtszeit von Agnes' Tante einen großen Skandal ausgelöst. Allseits bekannte Gebrechen hinderten Joyeuse de Mordaunt daran, ihre Herde im Zaum zu halten.
Zweihundert Meter vom Kloster entfernt stand die wesentlich berühmtere Priorei St. Johannes von Jerusalem, der Sitz der Tempelritter. Ein mächtiges Gebilde aus steinernen Bauwerken, Kapellen, Obst- und Blumengärten, Fischweihern, Holzkaten und Nebengebäuden, das sich südlich bis Smithfield und nach Westen bis zum Fleet erstreckte. Den Grundstein dafür hatte man in uralten Zeiten gelegt. Reliquiengeschenke verschiedener Päpste hatten die Stätte noch mehr geheiligt, darunter eine Phiole mit Milch von den Brüsten der Jungfrau Maria, ein Stück Segeltuch vom Boot des heiligen Petrus, eine Feder von Gabriels Flügeln sowie winzige Teile der Brote und Fische, die einst Jesus vermehrt hatte. Erst jüngst hatte ein von Geburt an stummer Blinder durch einen Tropfen jener heiligen Muttermilch Sehkraft und Redegabe zurückerhalten. Die Priorei bestand nicht nur aus einer Kirche und einer Herberge für Reisende, sondern auch aus einem Hospital und einem großen Gutshof. Leider war sie vor zwanzig Jahren in den Ruf der Lasterhaftigkeit geraten. Wie hatte der Kardinallegat gesagt, den der Papst zur Untersuchung der Angelegenheit gesandt hatte? Man habe sich dort "unheilvollem und dämonischem Ergötzen" in Verbindung mit "Tanz und lüsternem Spiel" hingegeben.
Alle waren sich einig, dass in erster Linie die jungen Nonnen die Schuld daran trugen. Es fiel auf, wie gern sie den Anger von Clerkenwell überquerten, um bei den der Priorei zugewiesenen Priestern zu beichten, und schon bald wurde klar, dass ihr Hauptziel nicht die Beichte war. Der Zellerar der Priorei hatte der Küchenschwester des Klosters erzählt, man habe die Nonnen bei Tanz und Lautenspiel beobachtet. "Der Teufel hat auf ihren Köpfen getanzt", so seine Worte. Einige Nonnen hatten sich kleine Schellenbänder um den Hals gehängt, woraufhin sie die Küchenschwester sofort als "Teufelskühe" bezeichnete. Angeblich hatte die Novizinnenmeisterin mitfühlend die Zuchtrute weggeworfen und sich in der allgemeinen Liederlichkeit ihren Schützlingen zugesellt. Obendrein nahmen mehrere der jüngeren Nonnen nicht an der Vesper oder am Komplet teil. Dame Joyeuse de Mordaunt litt am Schlagfluss. Man konnte ihr in keinster Weise begreiflich machen, wie ernst diese Berichte waren.
Doch die Ausschweifungen hatten dermaßen zugenommen, dass es der Prior von St. Johannes als seine Pflicht empfand, secreto um Audienz beim Bischof von London zu ersuchen. Wie erwartet kam der Bischof zu einem offiziellen Besuch und führte höchstpersönlich mit jeder Nonne des Marienklosters ein Gespräch, was dem Prior das Sprichwort ins Gedächtnis rief: "Wer Wind sät, wird Sturm ernten." Im Bericht über diesen Vorgang trat zu Tage, dass sich zwischen Mönchen und Nonnen in der Tat einiges ereignet hatte. Von viel Gerenne und Gehüpfe und Herumgeflatter war die Rede, von so manchem Geheimnis, das gelüftet und aufgedeckt wurde. Doch da waren noch andere Ungeheuerlichkeiten. Manche Nonnen gestanden, dass sie sich insgeheim mit den männlichen Bediensteten des Klosters im Wagenunterstand und im Backhaus getroffen hatten. Sogar die Kirche hatte man zum Stelldichein missbraucht. Bei den Stadtbewohnern hieß es oft, Nonnen seien scharf wie Pfefferkuchen. Nun hatte sich dieses gängige Sprichwort unwiderleglich bewahrheitet. Zu guter Letzt wurden ein Koch, ein Gärtner und ein Kuhhirte entlassen, während die sündigen Nonnen schmachvoll in andere Klöster verbannt wurden. Durch diese Maßnahme erhoffte man sich, laut Aussage des Bischofs, eine Abkühlung ihrer hitzigen Gemüter.
Dennoch kam die am meisten schockierende Enthüllung erst ganz am Schluss. Die Krankenschwester, Schwester Eglantine, verriet die Existenz mehrerer unterirdischer Gänge zwischen Priorei und Kloster. Diese Anlage, deren ursprünglicher Zweck im Dunkeln blieb, war lange vor der Gründung beider christlicher Häuser errichtet worden. In jüngster Zeit hatten sie jedoch all jene, die oberirdisch nicht gesehen werden wollten, als praktischen Durchgang benützt. Ferner wurde im bischöflichen Geheimbericht, den man versiegelt nach Rom schickte, enthüllt, dass man in diesen unterirdischen Gängen gewisse Kinder als Früchte jener verbotenen Verbindung von Mönch und Nonne hielt, bis sie alt genug waren, um sich ohne Skandal in das Leben der jeweiligen religiösen Institution einzufügen. Ein solches Kind war Clarissa, deren Betragen nunmehr Agnes de Mordaunt derart aus der Ruhe brachte.
Gottes Rache war rasch erfolgt. 1381, im Geburtsjahr von Clarissa, hatte die Lumpenarmee von Wat Tyler die Priorei St. Johannes erstürmt und gebrandschatzt. Den Prior selbst hatte man auf dem Anger von Clerkenwell enthauptet. Während der Feuersbrunst schleppten die Nonnen vom Hause Mariä Joyeuse de Mordaunt als Sinnbild ihrer Schwäche und Hilflosigkeit vor die Rebellen. "Die Heilige Jungfrau beschützt uns", hatten sie Tyler zugerufen.
Lachend hatte der zum Gruß den Hut gezogen, dessen Federn er bereits mit dem Blut des Priors benetzt hatte. Obwohl die Nonnen mit Vergewaltigung gerechnet hatten, mussten sie sich lediglich einige laute und obszöne Sprüche anhören. Das Kloster blieb verschont. Allerdings starb drei Monate später die ältliche Priorin am Schlagfluss. Ihre letzten Worte waren: "Sein Kopf war ab, ehe er den Hut aufhatte."
Agnes de Mordaunt rückte Schleier und Wimpel zurecht, um sicherzustellen, dass ihre Stirn bedeckt war, ehe sie vor Schwester Idonea das Gemach verließ. Mit einem langen Band machte sie das Äffchen am Fuß ihres Nachtstuhls fest und schritt dann, den Krummstab in der Rechten, die Steintreppe zum Refektorium hinab. Vor der Begegnung mit Schwester Clarissa wollte sie sich vergewissern, dass die anderen Stille bewahrten. Sie traf sie bei den letzten Bissen Fleisch und Brot an. Schwester Bona, die zweite Vorsängerin, las gerade laut aus der Vitis Mystica vor und erläuterte die fünf Sinne: Hören, Sehen, Riechen, Fühlen und Schmecken. Bei Agnes' Eintritt hielt sie inne, die übrigen erhoben sich vom Tisch.
Selbstverständlich beachteten die Nonnen die Schweigepflicht und bedienten sich der Zeichensprache, um Salz oder Bier zu bekommen. Bei der Bitte um Salz war es beispielsweise nötig, den rechten Daumen auf den linken zu legen. Trotzdem hegte Agnes den Verdacht, dass vor ihrem Eintreffen leises Gemurmel zu hören gewesen war, ein rasch dahingeflüstertes "sic" oder "non", während Schwester Bona langsam und gleichmäßig weiter aus der Abhandlung gelesen hatte. Hätte man eine Nonne ertappt, hätte sie mit den Siechen und Schwachsinnigen im Klosterkeller essen müssen. Jedoch unter den Blicken von Dame Agnes wahrte eine jede schickliches Benehmen. Die Priorin schritt durch den Raum, wobei sie die ehrerbietigen Grüße mit einem winzigen Kopfnicken erwiderte. Allerdings konnte sie sich nicht verkneifen, Schwester Beryl, die sie strahlend anlächelte, aus dem Augenwinkel heraus einen Blick zuzuwerfen. Lächeln war keine Sünde, zumal uns alle, gemäß der Lehre der Heiligen Schrift, die himmlische Seligkeit erwartet. Trotzdem ärgerte sich Agnes über Beryls Miene. Es war der Ärger eines Kindes, das man nicht mitspielen lässt.
Schwester Idonea ging leise hinter ihr drein. Kaum verließen die beiden das Refektorium durch die Seitentüre, rutschte Idonea auf dem Pflaster aus. "Du solltest nicht mit nassen Füßen herumlaufen." Nur mit Mühe gelang es Agnes, Haltung zu bewahren und nicht loszulachen. "Die Steine sind tückisch."
Sie gingen durch den Kreuzgang zum bunten Gemach, einem kleinen Raum neben dem Kapitelsaal, den die Schatzmeisterin als Schreibstube nutzte.
In der einen Ecke stand Schwester Clarissa, die Hände über der Brust gefaltet.
"Wo sind die farbenfrohen Gewänder und die weichen Decken und das Äffchen, das mit einem Ring spielt?" Die Priorin schwieg. "Agnes, du wirst einen Heiligen empfangen und den fünften Evangelisten gebären." Obwohl Clarissa ganze achtzehn Jahre zählte, besaß ihre Stimme bereits unerbittliche Autorität.
Agnes spürte, wie sie zu zittern anfing. "Höre, Basilisk, zur Buße will ich dich zu den Aussätzigen von St. Giles senden."
"Und ich werde sie die Worte Jesu, des Blumenschöpfers, lehren."
"Gewiss nicht. Du bist die Geschichtenerzählerin des Teufels."
"Ist es der Teufel, der mir vom König erzählt? Ist es der Teufel, der seinen Ruin prophezeit?"
"Ave Genetrix! Mutter der Lügen!"
Alles hatte mit einem Traum, einer Vision, begonnen. Vor drei Monaten war Clarissa vom Fieber befallen worden. Noch als Bettlägerige hatte sie der Krankenschwester im Vertrauen mitgeteilt, sie habe gesehen, wie ein Dämon in Gestalt eines verhutzelten uralten Zwerges seine Runde durchs Dormitorium gemacht und dabei das Bett jeder Nonne berührt habe. Anschließend habe er sich umgedreht und zu Clarissa gesagt: "Merke dir gut jede Stelle, kleine Schwester, denn sie werden gewisslich Besuch von mir erhalten." In einer anderen Traumvision war Clarissa über den Dämon hergefallen und hatte ihn mit bloßen Fäusten verprügelt. Er aber lachte nur und entzog sich ihren Händen mit den Worten: "Gestern habe ich deine Mitschwester Vorsängerin viel mehr verwirrt, doch sie hat mich nicht geschlagen." Als der Vorsängerin dieses merkwürdige Gespräch zu Ohren kam, forderte sie zutiefst empört, Agnes möge Clarissa im Kapitelsaal vor der ganzen Klostergemeinschaft zurechtweisen.
Stattdessen hatte Agnes die junge Nonne zu sich ins Gemach gebeten. "Du weißt", hob sie an, "dass es drei Arten von Träumen gibt. Erstens das somnium coeleste, den Traum himmlischen Ursprungs. Aus dieser Ecke weht dein Wind nicht."
Clarissa lachte laut auf. "Läutert mich mit Wiesenraute, ma dame."
"Dann gibt es den Traum, der dem somnium naturale und den körpereigenen Säften entspringt. Der dritte entstammt dem somnium animale, einem niedergeschlagenen Gemüt. Clarissa, kannst du mir erklären, welcher Art dein Traum ist?" Die Nonne schüttelte den Kopf. "Weißt du, dass du nur Eulen und Affen im Kopf hast?" Noch immer sagte Clarissa nichts. "Träumst du von König Richard?"
"Ja, ich träume von dem Verdammten."
Agnes überging die gefährliche Antwort. "Manchmal bezeichnet man einen Traum als Begegnung. Also, was kommt da zu dir?"
"Mit Tag und Nacht bin ich verschwistert. Den Wäldern bin ich anverwandt. Sie kommen zu mir."
"Du plapperst wie ein Kind."
"Nun, dann sollte ich mich wohl besser an einen dunklen Ort unter dem Nonnenkloster begeben."
Dame Agnes ging durchs Gemach zu ihr und schlug ihr ins Gesicht. Das Äffchen begann zu schreien und zu schnattern, und plötzlich verspürte sie den unwiderstehlichen Drang zu schlafen. "Ich bete, dass Gott mir ausreichend Weisheit schenkt, um zu einem wahrhaften Urteil zu gelangen. Geh jetzt."
Jenseits des ummauerten Gartens konnte sie auf den Feldern, die bis zum Fluss hinunterreichten, das Brauhaus mit seinem Taubenschlag erkennen, den vertrauten Wagenunterstand und neben den Stallungen die Dungkate. Am Westufer des Fleet stand die Mühle und auf der anderen Seite eine Hütte mit gekalkten Wänden und Strohdach, die dem Klostermeier gehörte. Müller und Meier waren in einen langwierigen Rechtsstreit über ihre Anrechte an dem Fluss verwickelt, der zwischen ihren Häusern floss. Schon oft hatten sie an der Fleetmündung eine der Themsebarken nach Westminster genommen, um ihre Sache vor einem Richter oder einem Königlichen Rechtsvertreter durchzusetzen. Bisher leider ohne endgültige Entscheidung. Das Boot koste zwei Pence, hatte der Meier zu Agnes gesagt, während das Gesetz einen Menschen um alles bringe. Die Priorin hatte versucht zu vermitteln, aber neben vielen anderen hatte ihr auch die Zellerarin erklärt, genauso gut könne sie Honig zwischen Dornen ausgießen.
Der Essensgeruch, der durch den Kreuzgang aus der Küche herüberdrang, stieg ihr in die Nase, sie hörte die Blechteller scheppern, die für Brot und Fleisch nach der Prim gespült wurden. Würde sich die Welt bis zum Jüngsten Tage immer so weiterdrehen? Regentropfen gleichen wir, die schräg zur Erde fallen. Ihr Äffchen spürte ihre Melancholie. Es kletterte auf ihre Schulter und begann, mit dem goldenen Ring zu spielen, der an einem Seidenfaden zwischen ihren Brüsten hing. Sie sang ihm ein neues französisches Lied vor: "Jay tout perdu mon temps et mon labour." Danach ließ sie es raten, in welcher Hand sie eine Haselnuss versteckt hielt.
Schon als junges Mädchen war sie ins Marienkloster eingetreten und hatte sich seither eine kindliche Scheu und Schüchternheit bewahrt. Allerdings konnte sie im Hochgefühl eines fast kindischen Stolzes auf ihre hohe Stellung auch aufbrausend und jähzornig sein. Sie sollte sich am Tag der Unschuldigen Kinder mit dem Kinderbischof paaren, flüsterten einige der jüngeren Nonnen. Ihr Gemach war mit grünem Tuch ausgeschlagen, die Vorhänge waren aus grünem Samt. Von der grünen Farbe hieß es, sie stimme die Geister der Unterwelt freundlich. Es sei klug, hatte sie gesagt, den Quell nicht zu wecken. Besagter Pfaffenquell lag unmittelbar hinter der steinernen Klostermauer, nur wenige Fuß vom Infirmarium entfernt, und galt als heilige Stätte.
Zu dieser Morgenstunde nahm sie entweder einen mit Zimt und Heliotrop gewürzten Trank oder hellen Bordeaux zu sich. Der Süßwein beruhigte ihren empfindlichen Magen, den sie jenen Prüfungen verdankte, die sie jüngst erduldet hatte. Gerüchte über die seltsamen Vorfälle im Kloster waren bereits bis zu den Garküchen an der East Cheap und den Fischständen in der Friday Street gedrungen. Obwohl man Agnes diese leicht verworrenen Geschichten nicht berichtet hatte, war sie sich einer merkwürdigen Unruhe in der Nachbarschaft bewusst und verspürte Unbehagen. Sie tauchte ihren Finger in Wein und Honig und ließ dann das Äffchen daran saugen. "Der erste Finger ist der kleine Mann", murmelte sie ihm mit einer kindlichen Stimme zu, die ihr in Gesellschaft peinlich gewesen wäre. "Das ist der Baderfinger, denn den benützt der Medikus. Der nächste heißt der lange Mann. Das ist der Zeiger oder auch Topfschlecker genannt. Siehst du? Damit berühre ich deine Nase." An der Türe klopfte es laut. Rasch erhob sie sich von der Fensterbank. "Wer ist da?"
"Idonea, ma dame."
"In Gottes Namen, Idonea, tritt ein."
Die Subpriorin, eine ältliche Nonne mit einem Gesicht so wund und zerklüftet wie zu stark gesalzenes Pökelfleisch, konnte die Aufforderung kaum abwarten. Trotz ihrer hastig angedeuteten Verbeugung war klar, dass sie vor Aufregung schier platzte. "Sie hat einen Anfall. Sie spricht mit fremder Zunge und nicht mit ihrer eigenen."
Wie immer betrachtete Agnes mitleidig Idoneas unschöne Gesichtszüge. "Sie kämpft mit Gott."
Es bedurfte keiner Erklärung, wer mit "sie" gemeint war. Schwester Clarissa, die verrückte Nonne von Clerkenwell, war in den unterirdischen Gängen des Klosters empfangen und geboren worden.
"Wo ist sie jetzt?"
"Im bunten Gemach."
Schon früher war über das Marienkloster Unglück gekommen. Gewisse Nonnen hatten während der Amtszeit von Agnes' Tante einen großen Skandal ausgelöst. Allseits bekannte Gebrechen hinderten Joyeuse de Mordaunt daran, ihre Herde im Zaum zu halten.
Zweihundert Meter vom Kloster entfernt stand die wesentlich berühmtere Priorei St. Johannes von Jerusalem, der Sitz der Tempelritter. Ein mächtiges Gebilde aus steinernen Bauwerken, Kapellen, Obst- und Blumengärten, Fischweihern, Holzkaten und Nebengebäuden, das sich südlich bis Smithfield und nach Westen bis zum Fleet erstreckte. Den Grundstein dafür hatte man in uralten Zeiten gelegt. Reliquiengeschenke verschiedener Päpste hatten die Stätte noch mehr geheiligt, darunter eine Phiole mit Milch von den Brüsten der Jungfrau Maria, ein Stück Segeltuch vom Boot des heiligen Petrus, eine Feder von Gabriels Flügeln sowie winzige Teile der Brote und Fische, die einst Jesus vermehrt hatte. Erst jüngst hatte ein von Geburt an stummer Blinder durch einen Tropfen jener heiligen Muttermilch Sehkraft und Redegabe zurückerhalten. Die Priorei bestand nicht nur aus einer Kirche und einer Herberge für Reisende, sondern auch aus einem Hospital und einem großen Gutshof. Leider war sie vor zwanzig Jahren in den Ruf der Lasterhaftigkeit geraten. Wie hatte der Kardinallegat gesagt, den der Papst zur Untersuchung der Angelegenheit gesandt hatte? Man habe sich dort "unheilvollem und dämonischem Ergötzen" in Verbindung mit "Tanz und lüsternem Spiel" hingegeben.
Alle waren sich einig, dass in erster Linie die jungen Nonnen die Schuld daran trugen. Es fiel auf, wie gern sie den Anger von Clerkenwell überquerten, um bei den der Priorei zugewiesenen Priestern zu beichten, und schon bald wurde klar, dass ihr Hauptziel nicht die Beichte war. Der Zellerar der Priorei hatte der Küchenschwester des Klosters erzählt, man habe die Nonnen bei Tanz und Lautenspiel beobachtet. "Der Teufel hat auf ihren Köpfen getanzt", so seine Worte. Einige Nonnen hatten sich kleine Schellenbänder um den Hals gehängt, woraufhin sie die Küchenschwester sofort als "Teufelskühe" bezeichnete. Angeblich hatte die Novizinnenmeisterin mitfühlend die Zuchtrute weggeworfen und sich in der allgemeinen Liederlichkeit ihren Schützlingen zugesellt. Obendrein nahmen mehrere der jüngeren Nonnen nicht an der Vesper oder am Komplet teil. Dame Joyeuse de Mordaunt litt am Schlagfluss. Man konnte ihr in keinster Weise begreiflich machen, wie ernst diese Berichte waren.
Doch die Ausschweifungen hatten dermaßen zugenommen, dass es der Prior von St. Johannes als seine Pflicht empfand, secreto um Audienz beim Bischof von London zu ersuchen. Wie erwartet kam der Bischof zu einem offiziellen Besuch und führte höchstpersönlich mit jeder Nonne des Marienklosters ein Gespräch, was dem Prior das Sprichwort ins Gedächtnis rief: "Wer Wind sät, wird Sturm ernten." Im Bericht über diesen Vorgang trat zu Tage, dass sich zwischen Mönchen und Nonnen in der Tat einiges ereignet hatte. Von viel Gerenne und Gehüpfe und Herumgeflatter war die Rede, von so manchem Geheimnis, das gelüftet und aufgedeckt wurde. Doch da waren noch andere Ungeheuerlichkeiten. Manche Nonnen gestanden, dass sie sich insgeheim mit den männlichen Bediensteten des Klosters im Wagenunterstand und im Backhaus getroffen hatten. Sogar die Kirche hatte man zum Stelldichein missbraucht. Bei den Stadtbewohnern hieß es oft, Nonnen seien scharf wie Pfefferkuchen. Nun hatte sich dieses gängige Sprichwort unwiderleglich bewahrheitet. Zu guter Letzt wurden ein Koch, ein Gärtner und ein Kuhhirte entlassen, während die sündigen Nonnen schmachvoll in andere Klöster verbannt wurden. Durch diese Maßnahme erhoffte man sich, laut Aussage des Bischofs, eine Abkühlung ihrer hitzigen Gemüter.
Dennoch kam die am meisten schockierende Enthüllung erst ganz am Schluss. Die Krankenschwester, Schwester Eglantine, verriet die Existenz mehrerer unterirdischer Gänge zwischen Priorei und Kloster. Diese Anlage, deren ursprünglicher Zweck im Dunkeln blieb, war lange vor der Gründung beider christlicher Häuser errichtet worden. In jüngster Zeit hatten sie jedoch all jene, die oberirdisch nicht gesehen werden wollten, als praktischen Durchgang benützt. Ferner wurde im bischöflichen Geheimbericht, den man versiegelt nach Rom schickte, enthüllt, dass man in diesen unterirdischen Gängen gewisse Kinder als Früchte jener verbotenen Verbindung von Mönch und Nonne hielt, bis sie alt genug waren, um sich ohne Skandal in das Leben der jeweiligen religiösen Institution einzufügen. Ein solches Kind war Clarissa, deren Betragen nunmehr Agnes de Mordaunt derart aus der Ruhe brachte.
Gottes Rache war rasch erfolgt. 1381, im Geburtsjahr von Clarissa, hatte die Lumpenarmee von Wat Tyler die Priorei St. Johannes erstürmt und gebrandschatzt. Den Prior selbst hatte man auf dem Anger von Clerkenwell enthauptet. Während der Feuersbrunst schleppten die Nonnen vom Hause Mariä Joyeuse de Mordaunt als Sinnbild ihrer Schwäche und Hilflosigkeit vor die Rebellen. "Die Heilige Jungfrau beschützt uns", hatten sie Tyler zugerufen.
Lachend hatte der zum Gruß den Hut gezogen, dessen Federn er bereits mit dem Blut des Priors benetzt hatte. Obwohl die Nonnen mit Vergewaltigung gerechnet hatten, mussten sie sich lediglich einige laute und obszöne Sprüche anhören. Das Kloster blieb verschont. Allerdings starb drei Monate später die ältliche Priorin am Schlagfluss. Ihre letzten Worte waren: "Sein Kopf war ab, ehe er den Hut aufhatte."
Agnes de Mordaunt rückte Schleier und Wimpel zurecht, um sicherzustellen, dass ihre Stirn bedeckt war, ehe sie vor Schwester Idonea das Gemach verließ. Mit einem langen Band machte sie das Äffchen am Fuß ihres Nachtstuhls fest und schritt dann, den Krummstab in der Rechten, die Steintreppe zum Refektorium hinab. Vor der Begegnung mit Schwester Clarissa wollte sie sich vergewissern, dass die anderen Stille bewahrten. Sie traf sie bei den letzten Bissen Fleisch und Brot an. Schwester Bona, die zweite Vorsängerin, las gerade laut aus der Vitis Mystica vor und erläuterte die fünf Sinne: Hören, Sehen, Riechen, Fühlen und Schmecken. Bei Agnes' Eintritt hielt sie inne, die übrigen erhoben sich vom Tisch.
Selbstverständlich beachteten die Nonnen die Schweigepflicht und bedienten sich der Zeichensprache, um Salz oder Bier zu bekommen. Bei der Bitte um Salz war es beispielsweise nötig, den rechten Daumen auf den linken zu legen. Trotzdem hegte Agnes den Verdacht, dass vor ihrem Eintreffen leises Gemurmel zu hören gewesen war, ein rasch dahingeflüstertes "sic" oder "non", während Schwester Bona langsam und gleichmäßig weiter aus der Abhandlung gelesen hatte. Hätte man eine Nonne ertappt, hätte sie mit den Siechen und Schwachsinnigen im Klosterkeller essen müssen. Jedoch unter den Blicken von Dame Agnes wahrte eine jede schickliches Benehmen. Die Priorin schritt durch den Raum, wobei sie die ehrerbietigen Grüße mit einem winzigen Kopfnicken erwiderte. Allerdings konnte sie sich nicht verkneifen, Schwester Beryl, die sie strahlend anlächelte, aus dem Augenwinkel heraus einen Blick zuzuwerfen. Lächeln war keine Sünde, zumal uns alle, gemäß der Lehre der Heiligen Schrift, die himmlische Seligkeit erwartet. Trotzdem ärgerte sich Agnes über Beryls Miene. Es war der Ärger eines Kindes, das man nicht mitspielen lässt.
Schwester Idonea ging leise hinter ihr drein. Kaum verließen die beiden das Refektorium durch die Seitentüre, rutschte Idonea auf dem Pflaster aus. "Du solltest nicht mit nassen Füßen herumlaufen." Nur mit Mühe gelang es Agnes, Haltung zu bewahren und nicht loszulachen. "Die Steine sind tückisch."
Sie gingen durch den Kreuzgang zum bunten Gemach, einem kleinen Raum neben dem Kapitelsaal, den die Schatzmeisterin als Schreibstube nutzte.
In der einen Ecke stand Schwester Clarissa, die Hände über der Brust gefaltet.
"Wo sind die farbenfrohen Gewänder und die weichen Decken und das Äffchen, das mit einem Ring spielt?" Die Priorin schwieg. "Agnes, du wirst einen Heiligen empfangen und den fünften Evangelisten gebären." Obwohl Clarissa ganze achtzehn Jahre zählte, besaß ihre Stimme bereits unerbittliche Autorität.
Agnes spürte, wie sie zu zittern anfing. "Höre, Basilisk, zur Buße will ich dich zu den Aussätzigen von St. Giles senden."
"Und ich werde sie die Worte Jesu, des Blumenschöpfers, lehren."
"Gewiss nicht. Du bist die Geschichtenerzählerin des Teufels."
"Ist es der Teufel, der mir vom König erzählt? Ist es der Teufel, der seinen Ruin prophezeit?"
"Ave Genetrix! Mutter der Lügen!"
Alles hatte mit einem Traum, einer Vision, begonnen. Vor drei Monaten war Clarissa vom Fieber befallen worden. Noch als Bettlägerige hatte sie der Krankenschwester im Vertrauen mitgeteilt, sie habe gesehen, wie ein Dämon in Gestalt eines verhutzelten uralten Zwerges seine Runde durchs Dormitorium gemacht und dabei das Bett jeder Nonne berührt habe. Anschließend habe er sich umgedreht und zu Clarissa gesagt: "Merke dir gut jede Stelle, kleine Schwester, denn sie werden gewisslich Besuch von mir erhalten." In einer anderen Traumvision war Clarissa über den Dämon hergefallen und hatte ihn mit bloßen Fäusten verprügelt. Er aber lachte nur und entzog sich ihren Händen mit den Worten: "Gestern habe ich deine Mitschwester Vorsängerin viel mehr verwirrt, doch sie hat mich nicht geschlagen." Als der Vorsängerin dieses merkwürdige Gespräch zu Ohren kam, forderte sie zutiefst empört, Agnes möge Clarissa im Kapitelsaal vor der ganzen Klostergemeinschaft zurechtweisen.
Stattdessen hatte Agnes die junge Nonne zu sich ins Gemach gebeten. "Du weißt", hob sie an, "dass es drei Arten von Träumen gibt. Erstens das somnium coeleste, den Traum himmlischen Ursprungs. Aus dieser Ecke weht dein Wind nicht."
Clarissa lachte laut auf. "Läutert mich mit Wiesenraute, ma dame."
"Dann gibt es den Traum, der dem somnium naturale und den körpereigenen Säften entspringt. Der dritte entstammt dem somnium animale, einem niedergeschlagenen Gemüt. Clarissa, kannst du mir erklären, welcher Art dein Traum ist?" Die Nonne schüttelte den Kopf. "Weißt du, dass du nur Eulen und Affen im Kopf hast?" Noch immer sagte Clarissa nichts. "Träumst du von König Richard?"
"Ja, ich träume von dem Verdammten."
Agnes überging die gefährliche Antwort. "Manchmal bezeichnet man einen Traum als Begegnung. Also, was kommt da zu dir?"
"Mit Tag und Nacht bin ich verschwistert. Den Wäldern bin ich anverwandt. Sie kommen zu mir."
"Du plapperst wie ein Kind."
"Nun, dann sollte ich mich wohl besser an einen dunklen Ort unter dem Nonnenkloster begeben."
Dame Agnes ging durchs Gemach zu ihr und schlug ihr ins Gesicht. Das Äffchen begann zu schreien und zu schnattern, und plötzlich verspürte sie den unwiderstehlichen Drang zu schlafen. "Ich bete, dass Gott mir ausreichend Weisheit schenkt, um zu einem wahrhaften Urteil zu gelangen. Geh jetzt."
... weniger
Autoren-Porträt von Peter Ackroyd
Peter Ackroyd wurde 1949 in London geboren. Er studierte Literaturwissenschaft in Yale und Cambridge und arbeitete viele Jahre für den »Spectator« und die »Times«. Ackroyd ist einer der namhaftesten britischen Gegenwartsautoren («Neue Zürcher Zeitung«). Er veröffentlichte zahlreiche Romane und Biographien und erhielt den Somerset Maugham Award, den Guardian Fiction Prize und den Whitbread Award.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Ackroyd
- 2004, 251 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Wahser, Eva L.
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813502414
- ISBN-13: 9783813502411
Rezension zu „Die Clerkenwell-Erzählungen “
"'Die Clerkenwell-Erzählungen' donnern mit aufrührerischer Kraft durch Londons Straßen."(Independent)
"Ackroyd nimmt uns mit in eine Welt, die gleichzeitig prächtig und schmutzig, sowohl edel als auch unglaublich pervers ist."
(The Scotsman)
"Ein Meisterwerk an historischer Vorstellungskraft."
(Sunday Telegraph)
Kommentar zu "Die Clerkenwell-Erzählungen"
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