Die Comtessa
Roman
Die reiche Erbin Ermengarda soll mit dem Graf von Toulouse verheiratet werden. Ermengarda ist jedoch entschlossen, um ihre Freiheit zu kämpfen und flieht. Aber ihre Verfolger sind ihr dicht auf den Fersen. Zum Glück hat Ermengarda zwei Gefährten an ihrer Seite: Arnaut und Felipe.
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Produktinformationen zu „Die Comtessa “
Die reiche Erbin Ermengarda soll mit dem Graf von Toulouse verheiratet werden. Ermengarda ist jedoch entschlossen, um ihre Freiheit zu kämpfen und flieht. Aber ihre Verfolger sind ihr dicht auf den Fersen. Zum Glück hat Ermengarda zwei Gefährten an ihrer Seite: Arnaut und Felipe.
Klappentext zu „Die Comtessa “
Der mächtige Graf von Toulouse will die Erbin Ermengarda zur Ehe zwingen und so das reiche Narbonne in seine Gewalt bringen. Doch die blutjunge Waise widersetzt sich ihm und dem Ehrgeiz ihrer Stiefmutter. Fest entschlossen, ihre Freiheit und die der Grafschaft zu verteidigen, flieht sie am Tag der geplanten Hochzeit ins Unbekannte. Niemand steht ihr zur Seite außer Arnaut und Felipe, die ihr Treue bis in den Tod geschworen haben. Die Flucht gelingt, doch ihre Verfolger lassen nicht lange auf sich warten. Trotz aller Angst und Not wächst die -Liebe zwischen Ermengarda und Arnaut, aber auch die erbitterte -Rivalität zwischen den beiden jungen Männern
Lese-Probe zu „Die Comtessa “
Die Comtessa von Ulf SchieweAUFRUHR IN NARBONA
Oktober, Anno Domini 1142
Nach dreitägiger Reise näherten sich zwei Reiter der alten Stadt Narbona. Es waren junge Männer, noch ungezeichnet vom Leben. Neugierig und voller Tatendrang waren sie gekommen, das Abenteuer zu fi nden. Arnaut ritt einen Wallach und führte sein Schlachtross, einen lebhaften Hengst, an einem Seil. Auf einer langbeinigen Stute folgte Severin, sein Schildträger, der ein Packtier hinter sich herzog. Sie waren hungrig und sattelmüde, doch beim Anblick der fernen Wehrtürme und Kirchen füllten sich ihre Herzen mit erwartungsvollem Hochgefühl, und so gaben sie den Tieren noch einmal die Sporen. Der Weg führte durch wohlbestellte Felder und bewässerte Gärten, wo Bauern sich mühten, Herbstgemüse und das letzte Obst zu ernten, denn die Ebene vor den Mauern war Narbonas Speisekammer. Am Stadttor verstellte ihnen ein mürrischer Wachposten den Weg. Eine Speerspitze funkelte gefährlich nahe vor Arnauts Brust.
»Stehen geblieben, Knappe!«
Der Wallach scheute und tänzelte erschrocken zur Seite, so dass Arnaut sich am Sattelknauf festhalten musste. Hatte der Mann ihn Knappe genannt? Das war eine Beleidigung, auch wenn sie beide erst achtzehn Jahre zählten. Unbewusst fuhr seine Hand an den Schwertgriff. Doch sofort trat der Wachmann näher. Fast schon berührte die Speerspitze Arnauts Kettenpanzer.
»Ganz ruhig, Jungs! Keine Waffen und runter von den Gäulen! Hände, wo ich sie sehen kann.« Mit dem Speerschaft fest in den Fäusten funkelte der Kerl ihn angriffslustig an. Auch wenn sein Bart grau war, sah er doch wie ein fähiger Fußsoldat aus, ein pezo, wie sie spöttisch im Volksmund hießen.
Als jetzt zwei weitere Söldner hinzutraten, bezwang Arnaut seinen Unmut und hob beruhigend die Hände. Sinnlos, mit der Torwache zu
... mehr
streiten. Die Speerwimpel der pezos trugen nicht das Wappen der Stadt, sondern die goldenen Umrisse eines zwölfeckigen Kreuzes auf rotem Grund, das Wappen von Tolosa. Aber es war allgemein bekannt, dass seit drei Jahren Graf Alfons Jordan über das Schicksal von Narbona bestimmte. Langsam stieg Arnaut vom Pferd. »Begrüßt man so einen Edelmann, der die Stadt besucht?«, fragte er in herablassendem Ton.
»Nichts für ungut, Cavalier«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Die Männer tun nur ihre Pfl icht.« Die Sonne stand schon tief, und Arnaut musste die Augen mit der Hand abschirmen, um den Mann, der sich nun näherte, besser sehen zu können. Unverkennbar ein Ritter von adeliger Geburt, obwohl nicht viel älter als sie selbst. Er war gut, wenn auch etwas nachlässig gekleidet, Schwert an der Seite, auf dessen Knauf er eine Hand stützte. Mit einer fl üchtigen Kopfbewegung bedeutete er den Wachen, sich zurückzuziehen.
»In letzter Zeit treibt sich hier viel Lumpenpack herum«, sagte er.
»Wir trafen eine Menge Pilgersleute.«
Der Ritter nickte. »Die meisten sind nach Compostela unterwegs. Hier verweilen sie, um am Schrein von Sant Paul zu beten. Leider versteckt sich oft Gesindel darunter. Deshalb
überprüfen wir alle Fremden an den Toren.«
»Ich bin Arnaut de Montalban.« Er deutete auf Severin. »Und mich begleitet mein Schildträger. Wir stammen aus der Corbieras, und meine Familie sind Lehnsleute der Grafen von Tolosa.«
Sein Gegenüber warf einen forschenden Blick über Ausrüstung und Pferde. Er trat an Arnauts prächtigen Hengst heran.
»Großartiger Bursche. Abgerichtet für die Schlacht?«
»Natürlich«, erwiderte Arnaut nicht ohne Stolz. »Wir haben eine Zucht. Araberblut. Mein Großvater selbst hat die ersten Tiere aus dem Heiligen Land mitgebracht.«
»Araber? Ja, man sieht es.« Er strich dem Pferd anerkennend über den Hals, zog aber schnell die Hand zurück, als der Hengst die Ohren zurücklegte, den Kopf hochriss und warnend die Zähne bleckte.
»Ho ho! Lässt wohl nicht mit sich spaßen, was?« Er zog sich einen Schritt zurück.
»Er mag keine Fremden.«
»Solange er mir nicht die Finger abbeißt«, lachte der Mann. Prüfend betrachtete er das mit Lanzen und Satteltaschen beladene Maultier.
»Irgendwelche Handelswaren?«
»Sehen wir aus wie Kaufleute?«
»Nein, das gerade nicht. Und Ihr seid gut gerüstet, wie ich sehe. Was wollt Ihr in Narbona?«
»Ich hatte gehofft, Coms Alfons meine Dienste anzubieten.«
»Soso! Ein junger Heißsporn vom Lande, was?«
Sein entspanntes, selbstsicheres Auftreten beeindruckte Arnaut. Neben ihm kam er sich wie ein Bauerntölpel vor. Dass er selbst andere durch seine Körpergröße manchmal einschüchterte, war ihm nicht bewusst.
Der junge Edelmann berührte fl üchtig seine Schulter. »Seid herzlich willkommen. Verstärkung können wir allemal gebrauchen, denn seit Wochen liegt ein Geruch von Krieg in der Luft.«
»Krieg?«
»Wenn Fürsten streiten, ist unsereins gefordert, oder?«
Er lachte, als sei es das Natürlichste von der Welt, sich ins Gefecht zu werfen. Arnaut mochte nicht weiter fragen, wollte er doch seine Unkenntnis der politischen Lage nicht offenbaren.
»Wo finde ich Coms Alfons?«
»Der ist zurzeit abwesend, aber meldet Euch bei seinem Heermeister. Am besten geht Ihr zum Palast des Grafen und fragt nach dem secretarius. Hier durchs Tor und immer gerade aus bis zum Marktplatz. Der liegt noch vor der Brücke über die Aude. Der Palast ist das größte Haus zu rechter Hand.«
Arnaut dankte ihm und schickte sich an, wieder aufzusitzen.
»Eine Warnung. In der Stadt wird nur im Schritt geritten,
sonst setzt es eine empfindliche Buße. Am besten nehmt Ihr Eure Gäule am Zügel und geht zu Fuß.«
»Sonst noch irgendwelche Regeln?« Arnaut konnte einen gereizten Ton nicht unterdrücken. Der Ritter zwinkerte ihm belustigt zu. »Keine Raufereien und lasst vor allem die Waffen stecken, wenn Ihr nicht im Verlies landen wollt. Hier geht es gesittet zu. Ansonsten wünsche ich viel Glück in unserem schönen Narbona. Wir sehen uns gewiss bald wieder.« »Wie ist Euer Name?«
»Giraud de Trias, zu Diensten.« Mit einem übermütigen Grinsen verbeugte sich der junge Edelmann und wies ihnen mit schwungvoller Geste den Weg ins Herz der großen Stadt, hinein in die hundert engen und verwinkelten Gassen.
***
Narbona lag an der Aude, einige Meilen bevor sich der Fluss in einer ausgedehnten, lagunenartigen Meeresbucht verlor. Dieser Lage und dem Seehafen verdankte die Stadt seit jeher ihren Reichtum.
Die Aude teilte Narbona in zwei Hälften, einzig verbunden durch eine mächtige, noch aus Römerzeiten stammende Steinbrücke. Am Nordufer befand sich La Ciutat, der alte römische Stadtkern mit Forum und Capitol an seinem Nordende, in Flussnähe der Bischofssitz mit Palast und Kathedrale, gegenüber davon der palatz vescomtal, Herrschaftshaus der Vizegrafen von Narbona.
Die Südstadt war neueren Datums und nannte sich lo Borc de Sant Paul Serge, nach der Basilika, um die zuerst das Kloster und nach und nach der gesamte Stadtteil entstanden war. Hier lag der Sarkophag des Heiligen, Wallfahrtsziel der Pilger. Beide Stadthälften waren von hohen Mauern umgeben, auf denen sich in regelmäßigen Abständen mächtige Wehrtürme erhoben, ein jeder in der Hand eines der adeligen Geschlechter, die von alters her für die Verteidigung der Stadt zu sorgen hatten. In neueren Zeiten stand ihnen auch eine von den reichen Kaufl euten unterhaltene militia urbana zur Seite, eine Tatsache, die nicht allen Stadtadeligen schmeckte, denn es erinnerte sie an den wachsenden Einfl uss des lästigen Bürgertums. Über die Brücke verlief die Via Domitia, Roms alte Heerstraße, auf ihrem langen Weg von Italien bis Spanien. Von hier aus begann auch die Via Aquitania nach Tolosa und Bordeu bis an die Küsten des westlichen Ozeans. Wenn Fluss und Straßen die Adern waren, in denen das Blut Narbonas fl oss, so waren Hafen und Märkte das schlagende Herz der gedeihenden Macht von Handelshäusern und Kaufmannsfamilien. Arnaut und Severin betraten lo Borc mit Staunen.
Welch ein Unterschied zu den einfachen Hütten und Katen in den Dörfern der Corbieras. Noch nie hatten sie je so viele Häuser auf einem Haufen gesehen. Dichtgedrängt, mit übereinandergetürmten Stockwerken, lehnten und klebten sie aneinander und ließen kaum mehr als eine Schulterbreite für so manche Seitengasse übrig. Umso erstaunlicher, dass es, zwischen Stadthäusern eingepfercht, immer noch den einen oder anderen Bauernhof gab, so dass sich Blöken und Grunzen unter das Stimmengewirr der Menschen mischten. Die Pferde am Zügel führend, folgten sie der gepflasterten Via Domitia, die als einzige Straße breit genug für Ochsenkarren war. Alle paar Schritte hielten sie inne, um einen Torbogen oder die verzierte Vorderfront eines Hauses zu bewundern.
Neugierig blickten sie in offene Werkstätten und konnten kaum die Augen von den Auslagen der Händler unter den Bogengängen losreißen. Hier und da eine Öffnung zwischen den Häusern, die einen Blick in dunkle Gassen gewährte oder auf einen engen Platz, um den sich Schankstuben oder Stände für Fisch oder Gemüse drängten. »Alles im Überfluss vorhanden«, bemerkte Severin mit großen Augen. »Wie bei uns nur zu Festtagen.« Ein paar junge Mägde kreuzten ihren Weg und warfen ihnen neugierige Blicke zu. Severin sah sich nach ihnen um und fuhr sich dabei mit einer Hand über das dunkelblonde Haar, um es zu glätten. Vergebliche Müh, denn es war nicht zu bändigen und stand wie immer sperrig in alle Richtungen ab. Sie hielten einen Augenblick an, um den Eselskarren eines Bauern durchzulassen, der mit übelriechenden Kübeln beladen war, verfolgt von einem Schwarm grünblau glänzender Schmeißfl iegen. Sorgfältig gesammelte Küchenabfälle für die Schweine und Fäkalien für das Feld, denn was des Städters Last, ist des Landmanns Nutzen.
Überhaupt waren sie unvorbereitet für all die Gerüche, die die Sinne bestürmten. Und die stammten nicht allein von Hundekot, Urin oder dem Pferdemist, über den sie stiegen. Je nach Stadtteil und dem dort ansässigen Handwerk wechselten sich der Gestank der Gerberwerkstätten mit dem Verwesungsgeruch von Schlachtabfällen und den verführerischen Düften aus Schenken und Backstuben ab. Je mehr sie sich dem Stadtkern näherten, desto belebter wurde die Straße, wobei die meisten Leute ebenfalls dem großen Marktplatz zuzustreben schienen. Als ein Junge sich hastig an ihnen vorbeidrängte, hielt Arnaut ihn am Arm fest. »He, mon gartz, wohin laufen alle so eilig?«
Der Kleine wollte sich losreißen, aber nach einem fl inken Blick über die Ausrüstung und die wertvollen Reittiere der beiden fl og ein schlaues Grinsen über sein Gesicht.
»Ihr seid nicht von hier, feiner Herr, hab ich recht?«
»Woher willst du das wissen, Bengel?«, lachte Arnaut. »Steht es mir etwa auf der Stirn geschrieben? Und wozu das Gedränge der Leute?«
»Das weiß doch alle Welt. Heute ist die Heiligenprozession, und der Erzbischof selbst trägt die Reliquien durch die Straßen. «
»Welcher Heilige?«
»Sant Paul Serge.«
»Sind deshalb so viele Pilger und Bettler in der Stadt?«
»Glaub schon.« Der Junge zuckte gleichmütig mit den Achseln.
»Wir wollen zum Palast des Grafen Alfons.«
»Der ist nicht weit, Senher. Ich kann Euch den Weg weisen ...«,
er setzte ein hoffnungsvolles Grinsen auf, »... wenn Ihr mir etwas dafür gebt.«
Bezahlen? Für einen Hinweis? Arnaut machte ein verdutztes Gesicht. Waren das die Sitten in der Stadt?
»Wie alt bist du?«
»Weiß nicht. Zwölf, glaube ich.«
Nicht sehr groß für zwölf, dachte Arnaut. Weiße Zähne in einem sonnengebräunten Gesicht und darüber ein zerzauster, schwarzer Haarschopf, nicht sehr sauber, wie es schien. Am besten gefi elen ihm das freche Lächeln und die aufgeweckten Augen.
»Und wie heißt du?«
»Jori, Senher.«
Arnaut zwinkerte seinem Schildträger zu, als sei ihm gerade ein guter Einfall gekommen. Severin, ein junger Mann von einfachen, gradlinigen Grundsätzen, hatte ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Leuten, die nicht ihren ordentlichen Platz im Leben ausfüllten. Für Bettelpack und arbeitsscheue Herumtreiber hatte er wenig Verständnis.
»Was willst du mit dem zerlumpten Burschen?« Jori zog ein fi nsteres Gesicht.
»Nicht jeder wird als großer Herr geboren«, erwiderte er frech.
Zerlumpt war der Junge tatsächlich, ziemlich ausgemergelt dazu, und er lief barfuß herum trotz der Jahreszeit. Die Oktobernächte waren schon empfindlich kalt, wie Arnaut wusste. Sie hatten die letzte Nacht im Freien verbracht und unter ihren Pferdedecken gefroren.
»Ich wette, du kennst dich hier überall aus.«
»Das will ich meinen.« Im Gesicht des Jungen leuchtete die Hoffnung, an den beiden Fremden doch noch etwas zu verdienen.
»Ich kann Euch alles zeigen und erklären. Wollt Ihr die Kathedrale sehen?«
»Hör zu, Kleiner«, sagte Arnaut. »In den nächsten Tagen zeigst du uns die Stadt, und dafür teilen wir unser Essen mit dir. Und morgen besorgen wir dir ein paar vernünftige Schuhe. Was sagst du dazu?«
Jori runzelte die Stirn. »Ein denier wäre mir lieber.«
»Einen ganzen Silberpfennig?«, schnaubte Severin entrüstet. Aber Arnaut achtete nicht auf ihn. »Also gut. Ein halber denier obendrein. Aber erst am Schluss und nur, wenn wir mit dir zufrieden sind.« Jori grinste über beide Ohren. »Ihr werdet sehr zufrieden sein, mon Cavalier«, rief er strahlend. »Kommt, ich führe Euch zum Palast des Grafen.«
Auf dem Marktplatz fanden sie eine überwältigende Menschenmenge vor. Da waren Handwerker in rauhen Arbeitskleidern, Bürgerinnen mit Kindern an der Hand, Pilgersleute, die ihre ganze Habe auf dem Rücken trugen, und Bauern aus der Umgebung, die, nach den leeren Kiepen zu urteilen, ihre herbstlichen Feldfrüchte an den Mann gebracht hatten. Händler waren aus den Läden getreten, und ein paar Soldaten der städtischen militia lungerten untätig an einer Ecke. Ein Wasserträger zwängte sich durch die Leute, Verkäufer frommer Andenken priesen ihre Ware an, und am anderen Ende des Platzes bemühte sich eine Gauklertruppe, die Leute zu unterhalten. Zum Glück hatte man die Marktstände weggeräumt, denn immer noch strömten sie aus allen Gassen hinzu. In der Mitte des Platzes, wo das Meer der Köpfe am dichtesten wogte, versuchte eine Schar Tolosaner Soldaten, etwas Platz zu schaffen. Es war so laut, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. An ein Durchkommen mit den Pferden war nicht zu denken. Das Gedränge und der Lärm machten die Tiere scheu. Bald waren Arnaut und Severin von der Masse so eingekeilt, dass sie weder vor- noch rückwärts konnten. Dicht an eines der Häuser gedrängt, blieb ihnen nichts weiter übrig, als die Tiere ruhig zu halten und darauf zu warten, dass die Prozession bald vorüberziehen würde. »Das reinste Volksfest«, rief Arnaut dem Jungen ins Ohr, um sich verständlich zu machen.
»Hier wird die Andacht abgehalten, bevor sie weiter zur Basilika ziehen. Viele lassen sich hier segnen«, tönte der Kleine zurück.
»Deable. Da hätten wir erst morgen kommen sollen.« Jori zuckte mit den Schultern. »Der Heilige bringt Euch Gottes Segen, Herr. Ein guter Anfang für Eure Tage in Narbona. Vielleicht sogar Ruhm und Ehren.« Er grinste verwegen. Arnaut schüttelte den Kopf. Frecher Bengel! Der hüpfte derweil von einem Bein aufs andere und versuchte, über die Köpfe der Menge hinweg etwas zu erkennen. »Sie müssten bald über die Brücke kommen.« »He, du Wicht«, knurrte ein Handwerksmann, der noch seine Lederschürze trug. »Hör auf, herumzuhopsen. Du trittst mir auf die Zehen!« »Hier, steig auf den Wallach.« Arnaut half Jori in den Kampfsattel. Da saß er seitwärts auf dem Ross und verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust. »Jetzt können sie kommen«, krähte er vergnügt. »Ich hab die beste Aussicht.« Arnaut selbst konnte den ganzen Platz recht gut überblicken, denn wie alle Männer auf der mütterlichen Seite seiner Familie war er hochgewachsen und überragte die meisten um Haupteslänge. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Platz durch lo Borcs Stadtmauer begrenzt. Durch ein Tor konnte man einen Blick auf die Aude erhaschen, und auf der Brücke war jetzt, die Menge sah es in freudiger Erwartung, Bewegung zu erkennen. Ein Gesang aus Mönchskehlen wehte herüber, und die Ersten begannen, das Kreuz zu schlagen, Lippen bewegten sich in stillem Gebet. Ruhe kehrte ein. Die Soldaten, an die vierzig Mann und schwerbewaffnet mit Speer und Schild, drängten die Leute zurück, um Platz für den Umzug zu schaffen. Auch den Weg zum Tor bahnten sie frei und gingen dabei wenig zimperlich vor. Die Vordersten wichen vor ihnen zurück, rückten enger zusammen, traten anderen auf die Füße. Es hallten Flüche und wütende Proteste. Doch gleich darauf brandete ein erwartungsvolles Raunen auf, denn unter dem Torbogen erschien nun die Spitze des feierlichen Umzugs. Zuerst ein einzelner Priester im Messgewand,
der ein vergoldetes, hoch auf einen Stab gepflanztes Kreuz vor sich hertrug. Hinter ihm schritten zwei Ministranten einher, voran der turifer, der ein silbernes Weihrauchfass an langer Kette schwang, und der navicularius, der würdevoll das Weihrauchschiffchen trug. Ein weiterer Ministrant trug das kostbare Banner des Heiligen, und dann folgte eine schwere, auf den Schultern von vier Mönchen getragene, mit Blattgold und reichen Schnitzereien verzierte Lade, Gegenstand der Verehrung der Gläubigen. Viele in der Menge sanken auf die Knie und bekreuzigten sich.
Eine Marktfrau beugte sich zu Arnaut herüber. »Die Gebeine des Heiligen«, sagte sie laut genug, um den frommen Gesang der Mönche zu übertönen, die der Lade nachkamen. »Unser erster Bischof. Hat viele Heiden bekehrt.« Arnaut lächelte freundlich zurück. »Warum halten hier eigentlich Tolosaner die Ordnung und nicht die Stadtmiliz?«
»Weil sie uns schon seit Jahren knebeln«, antwortete der Handwerker zu seiner Linken. »Ganz Narbona dient nur als Geisel für Alfons und seine Höllenhunde.«
»Aber herrscht nicht die Familie der Vizegrafen?«
»Seit Aimerics Tod geht es nur bergab«, knurrte der Mann. »Alles geht zum Teufel, putan. Und der Tolosaner reißt sich die Grafschaft unter den Nagel. Verdammte Weiberherrschaft! «
»Hört auf zu fl uchen, Maistre Bernat!« Die Marktfrau funkelte ihn zornig an. »Die vescomtessa tut, was sie kann. Außerdem sagt der Erzbischof, dass Alfons unser oberster Lehnsherr ist. Das wisst Ihr so gut wie wir alle.«
»Der Erzbischof? Dass ich nicht lache!« Der Mann zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Der stand schon immer in Tolosas Diensten.«
Copyright © 2011 Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen
Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
ISBN 978-3-426-19887-2
»Nichts für ungut, Cavalier«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Die Männer tun nur ihre Pfl icht.« Die Sonne stand schon tief, und Arnaut musste die Augen mit der Hand abschirmen, um den Mann, der sich nun näherte, besser sehen zu können. Unverkennbar ein Ritter von adeliger Geburt, obwohl nicht viel älter als sie selbst. Er war gut, wenn auch etwas nachlässig gekleidet, Schwert an der Seite, auf dessen Knauf er eine Hand stützte. Mit einer fl üchtigen Kopfbewegung bedeutete er den Wachen, sich zurückzuziehen.
»In letzter Zeit treibt sich hier viel Lumpenpack herum«, sagte er.
»Wir trafen eine Menge Pilgersleute.«
Der Ritter nickte. »Die meisten sind nach Compostela unterwegs. Hier verweilen sie, um am Schrein von Sant Paul zu beten. Leider versteckt sich oft Gesindel darunter. Deshalb
überprüfen wir alle Fremden an den Toren.«
»Ich bin Arnaut de Montalban.« Er deutete auf Severin. »Und mich begleitet mein Schildträger. Wir stammen aus der Corbieras, und meine Familie sind Lehnsleute der Grafen von Tolosa.«
Sein Gegenüber warf einen forschenden Blick über Ausrüstung und Pferde. Er trat an Arnauts prächtigen Hengst heran.
»Großartiger Bursche. Abgerichtet für die Schlacht?«
»Natürlich«, erwiderte Arnaut nicht ohne Stolz. »Wir haben eine Zucht. Araberblut. Mein Großvater selbst hat die ersten Tiere aus dem Heiligen Land mitgebracht.«
»Araber? Ja, man sieht es.« Er strich dem Pferd anerkennend über den Hals, zog aber schnell die Hand zurück, als der Hengst die Ohren zurücklegte, den Kopf hochriss und warnend die Zähne bleckte.
»Ho ho! Lässt wohl nicht mit sich spaßen, was?« Er zog sich einen Schritt zurück.
»Er mag keine Fremden.«
»Solange er mir nicht die Finger abbeißt«, lachte der Mann. Prüfend betrachtete er das mit Lanzen und Satteltaschen beladene Maultier.
»Irgendwelche Handelswaren?«
»Sehen wir aus wie Kaufleute?«
»Nein, das gerade nicht. Und Ihr seid gut gerüstet, wie ich sehe. Was wollt Ihr in Narbona?«
»Ich hatte gehofft, Coms Alfons meine Dienste anzubieten.«
»Soso! Ein junger Heißsporn vom Lande, was?«
Sein entspanntes, selbstsicheres Auftreten beeindruckte Arnaut. Neben ihm kam er sich wie ein Bauerntölpel vor. Dass er selbst andere durch seine Körpergröße manchmal einschüchterte, war ihm nicht bewusst.
Der junge Edelmann berührte fl üchtig seine Schulter. »Seid herzlich willkommen. Verstärkung können wir allemal gebrauchen, denn seit Wochen liegt ein Geruch von Krieg in der Luft.«
»Krieg?«
»Wenn Fürsten streiten, ist unsereins gefordert, oder?«
Er lachte, als sei es das Natürlichste von der Welt, sich ins Gefecht zu werfen. Arnaut mochte nicht weiter fragen, wollte er doch seine Unkenntnis der politischen Lage nicht offenbaren.
»Wo finde ich Coms Alfons?«
»Der ist zurzeit abwesend, aber meldet Euch bei seinem Heermeister. Am besten geht Ihr zum Palast des Grafen und fragt nach dem secretarius. Hier durchs Tor und immer gerade aus bis zum Marktplatz. Der liegt noch vor der Brücke über die Aude. Der Palast ist das größte Haus zu rechter Hand.«
Arnaut dankte ihm und schickte sich an, wieder aufzusitzen.
»Eine Warnung. In der Stadt wird nur im Schritt geritten,
sonst setzt es eine empfindliche Buße. Am besten nehmt Ihr Eure Gäule am Zügel und geht zu Fuß.«
»Sonst noch irgendwelche Regeln?« Arnaut konnte einen gereizten Ton nicht unterdrücken. Der Ritter zwinkerte ihm belustigt zu. »Keine Raufereien und lasst vor allem die Waffen stecken, wenn Ihr nicht im Verlies landen wollt. Hier geht es gesittet zu. Ansonsten wünsche ich viel Glück in unserem schönen Narbona. Wir sehen uns gewiss bald wieder.« »Wie ist Euer Name?«
»Giraud de Trias, zu Diensten.« Mit einem übermütigen Grinsen verbeugte sich der junge Edelmann und wies ihnen mit schwungvoller Geste den Weg ins Herz der großen Stadt, hinein in die hundert engen und verwinkelten Gassen.
***
Narbona lag an der Aude, einige Meilen bevor sich der Fluss in einer ausgedehnten, lagunenartigen Meeresbucht verlor. Dieser Lage und dem Seehafen verdankte die Stadt seit jeher ihren Reichtum.
Die Aude teilte Narbona in zwei Hälften, einzig verbunden durch eine mächtige, noch aus Römerzeiten stammende Steinbrücke. Am Nordufer befand sich La Ciutat, der alte römische Stadtkern mit Forum und Capitol an seinem Nordende, in Flussnähe der Bischofssitz mit Palast und Kathedrale, gegenüber davon der palatz vescomtal, Herrschaftshaus der Vizegrafen von Narbona.
Die Südstadt war neueren Datums und nannte sich lo Borc de Sant Paul Serge, nach der Basilika, um die zuerst das Kloster und nach und nach der gesamte Stadtteil entstanden war. Hier lag der Sarkophag des Heiligen, Wallfahrtsziel der Pilger. Beide Stadthälften waren von hohen Mauern umgeben, auf denen sich in regelmäßigen Abständen mächtige Wehrtürme erhoben, ein jeder in der Hand eines der adeligen Geschlechter, die von alters her für die Verteidigung der Stadt zu sorgen hatten. In neueren Zeiten stand ihnen auch eine von den reichen Kaufl euten unterhaltene militia urbana zur Seite, eine Tatsache, die nicht allen Stadtadeligen schmeckte, denn es erinnerte sie an den wachsenden Einfl uss des lästigen Bürgertums. Über die Brücke verlief die Via Domitia, Roms alte Heerstraße, auf ihrem langen Weg von Italien bis Spanien. Von hier aus begann auch die Via Aquitania nach Tolosa und Bordeu bis an die Küsten des westlichen Ozeans. Wenn Fluss und Straßen die Adern waren, in denen das Blut Narbonas fl oss, so waren Hafen und Märkte das schlagende Herz der gedeihenden Macht von Handelshäusern und Kaufmannsfamilien. Arnaut und Severin betraten lo Borc mit Staunen.
Welch ein Unterschied zu den einfachen Hütten und Katen in den Dörfern der Corbieras. Noch nie hatten sie je so viele Häuser auf einem Haufen gesehen. Dichtgedrängt, mit übereinandergetürmten Stockwerken, lehnten und klebten sie aneinander und ließen kaum mehr als eine Schulterbreite für so manche Seitengasse übrig. Umso erstaunlicher, dass es, zwischen Stadthäusern eingepfercht, immer noch den einen oder anderen Bauernhof gab, so dass sich Blöken und Grunzen unter das Stimmengewirr der Menschen mischten. Die Pferde am Zügel führend, folgten sie der gepflasterten Via Domitia, die als einzige Straße breit genug für Ochsenkarren war. Alle paar Schritte hielten sie inne, um einen Torbogen oder die verzierte Vorderfront eines Hauses zu bewundern.
Neugierig blickten sie in offene Werkstätten und konnten kaum die Augen von den Auslagen der Händler unter den Bogengängen losreißen. Hier und da eine Öffnung zwischen den Häusern, die einen Blick in dunkle Gassen gewährte oder auf einen engen Platz, um den sich Schankstuben oder Stände für Fisch oder Gemüse drängten. »Alles im Überfluss vorhanden«, bemerkte Severin mit großen Augen. »Wie bei uns nur zu Festtagen.« Ein paar junge Mägde kreuzten ihren Weg und warfen ihnen neugierige Blicke zu. Severin sah sich nach ihnen um und fuhr sich dabei mit einer Hand über das dunkelblonde Haar, um es zu glätten. Vergebliche Müh, denn es war nicht zu bändigen und stand wie immer sperrig in alle Richtungen ab. Sie hielten einen Augenblick an, um den Eselskarren eines Bauern durchzulassen, der mit übelriechenden Kübeln beladen war, verfolgt von einem Schwarm grünblau glänzender Schmeißfl iegen. Sorgfältig gesammelte Küchenabfälle für die Schweine und Fäkalien für das Feld, denn was des Städters Last, ist des Landmanns Nutzen.
Überhaupt waren sie unvorbereitet für all die Gerüche, die die Sinne bestürmten. Und die stammten nicht allein von Hundekot, Urin oder dem Pferdemist, über den sie stiegen. Je nach Stadtteil und dem dort ansässigen Handwerk wechselten sich der Gestank der Gerberwerkstätten mit dem Verwesungsgeruch von Schlachtabfällen und den verführerischen Düften aus Schenken und Backstuben ab. Je mehr sie sich dem Stadtkern näherten, desto belebter wurde die Straße, wobei die meisten Leute ebenfalls dem großen Marktplatz zuzustreben schienen. Als ein Junge sich hastig an ihnen vorbeidrängte, hielt Arnaut ihn am Arm fest. »He, mon gartz, wohin laufen alle so eilig?«
Der Kleine wollte sich losreißen, aber nach einem fl inken Blick über die Ausrüstung und die wertvollen Reittiere der beiden fl og ein schlaues Grinsen über sein Gesicht.
»Ihr seid nicht von hier, feiner Herr, hab ich recht?«
»Woher willst du das wissen, Bengel?«, lachte Arnaut. »Steht es mir etwa auf der Stirn geschrieben? Und wozu das Gedränge der Leute?«
»Das weiß doch alle Welt. Heute ist die Heiligenprozession, und der Erzbischof selbst trägt die Reliquien durch die Straßen. «
»Welcher Heilige?«
»Sant Paul Serge.«
»Sind deshalb so viele Pilger und Bettler in der Stadt?«
»Glaub schon.« Der Junge zuckte gleichmütig mit den Achseln.
»Wir wollen zum Palast des Grafen Alfons.«
»Der ist nicht weit, Senher. Ich kann Euch den Weg weisen ...«,
er setzte ein hoffnungsvolles Grinsen auf, »... wenn Ihr mir etwas dafür gebt.«
Bezahlen? Für einen Hinweis? Arnaut machte ein verdutztes Gesicht. Waren das die Sitten in der Stadt?
»Wie alt bist du?«
»Weiß nicht. Zwölf, glaube ich.«
Nicht sehr groß für zwölf, dachte Arnaut. Weiße Zähne in einem sonnengebräunten Gesicht und darüber ein zerzauster, schwarzer Haarschopf, nicht sehr sauber, wie es schien. Am besten gefi elen ihm das freche Lächeln und die aufgeweckten Augen.
»Und wie heißt du?«
»Jori, Senher.«
Arnaut zwinkerte seinem Schildträger zu, als sei ihm gerade ein guter Einfall gekommen. Severin, ein junger Mann von einfachen, gradlinigen Grundsätzen, hatte ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Leuten, die nicht ihren ordentlichen Platz im Leben ausfüllten. Für Bettelpack und arbeitsscheue Herumtreiber hatte er wenig Verständnis.
»Was willst du mit dem zerlumpten Burschen?« Jori zog ein fi nsteres Gesicht.
»Nicht jeder wird als großer Herr geboren«, erwiderte er frech.
Zerlumpt war der Junge tatsächlich, ziemlich ausgemergelt dazu, und er lief barfuß herum trotz der Jahreszeit. Die Oktobernächte waren schon empfindlich kalt, wie Arnaut wusste. Sie hatten die letzte Nacht im Freien verbracht und unter ihren Pferdedecken gefroren.
»Ich wette, du kennst dich hier überall aus.«
»Das will ich meinen.« Im Gesicht des Jungen leuchtete die Hoffnung, an den beiden Fremden doch noch etwas zu verdienen.
»Ich kann Euch alles zeigen und erklären. Wollt Ihr die Kathedrale sehen?«
»Hör zu, Kleiner«, sagte Arnaut. »In den nächsten Tagen zeigst du uns die Stadt, und dafür teilen wir unser Essen mit dir. Und morgen besorgen wir dir ein paar vernünftige Schuhe. Was sagst du dazu?«
Jori runzelte die Stirn. »Ein denier wäre mir lieber.«
»Einen ganzen Silberpfennig?«, schnaubte Severin entrüstet. Aber Arnaut achtete nicht auf ihn. »Also gut. Ein halber denier obendrein. Aber erst am Schluss und nur, wenn wir mit dir zufrieden sind.« Jori grinste über beide Ohren. »Ihr werdet sehr zufrieden sein, mon Cavalier«, rief er strahlend. »Kommt, ich führe Euch zum Palast des Grafen.«
Auf dem Marktplatz fanden sie eine überwältigende Menschenmenge vor. Da waren Handwerker in rauhen Arbeitskleidern, Bürgerinnen mit Kindern an der Hand, Pilgersleute, die ihre ganze Habe auf dem Rücken trugen, und Bauern aus der Umgebung, die, nach den leeren Kiepen zu urteilen, ihre herbstlichen Feldfrüchte an den Mann gebracht hatten. Händler waren aus den Läden getreten, und ein paar Soldaten der städtischen militia lungerten untätig an einer Ecke. Ein Wasserträger zwängte sich durch die Leute, Verkäufer frommer Andenken priesen ihre Ware an, und am anderen Ende des Platzes bemühte sich eine Gauklertruppe, die Leute zu unterhalten. Zum Glück hatte man die Marktstände weggeräumt, denn immer noch strömten sie aus allen Gassen hinzu. In der Mitte des Platzes, wo das Meer der Köpfe am dichtesten wogte, versuchte eine Schar Tolosaner Soldaten, etwas Platz zu schaffen. Es war so laut, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. An ein Durchkommen mit den Pferden war nicht zu denken. Das Gedränge und der Lärm machten die Tiere scheu. Bald waren Arnaut und Severin von der Masse so eingekeilt, dass sie weder vor- noch rückwärts konnten. Dicht an eines der Häuser gedrängt, blieb ihnen nichts weiter übrig, als die Tiere ruhig zu halten und darauf zu warten, dass die Prozession bald vorüberziehen würde. »Das reinste Volksfest«, rief Arnaut dem Jungen ins Ohr, um sich verständlich zu machen.
»Hier wird die Andacht abgehalten, bevor sie weiter zur Basilika ziehen. Viele lassen sich hier segnen«, tönte der Kleine zurück.
»Deable. Da hätten wir erst morgen kommen sollen.« Jori zuckte mit den Schultern. »Der Heilige bringt Euch Gottes Segen, Herr. Ein guter Anfang für Eure Tage in Narbona. Vielleicht sogar Ruhm und Ehren.« Er grinste verwegen. Arnaut schüttelte den Kopf. Frecher Bengel! Der hüpfte derweil von einem Bein aufs andere und versuchte, über die Köpfe der Menge hinweg etwas zu erkennen. »Sie müssten bald über die Brücke kommen.« »He, du Wicht«, knurrte ein Handwerksmann, der noch seine Lederschürze trug. »Hör auf, herumzuhopsen. Du trittst mir auf die Zehen!« »Hier, steig auf den Wallach.« Arnaut half Jori in den Kampfsattel. Da saß er seitwärts auf dem Ross und verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust. »Jetzt können sie kommen«, krähte er vergnügt. »Ich hab die beste Aussicht.« Arnaut selbst konnte den ganzen Platz recht gut überblicken, denn wie alle Männer auf der mütterlichen Seite seiner Familie war er hochgewachsen und überragte die meisten um Haupteslänge. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Platz durch lo Borcs Stadtmauer begrenzt. Durch ein Tor konnte man einen Blick auf die Aude erhaschen, und auf der Brücke war jetzt, die Menge sah es in freudiger Erwartung, Bewegung zu erkennen. Ein Gesang aus Mönchskehlen wehte herüber, und die Ersten begannen, das Kreuz zu schlagen, Lippen bewegten sich in stillem Gebet. Ruhe kehrte ein. Die Soldaten, an die vierzig Mann und schwerbewaffnet mit Speer und Schild, drängten die Leute zurück, um Platz für den Umzug zu schaffen. Auch den Weg zum Tor bahnten sie frei und gingen dabei wenig zimperlich vor. Die Vordersten wichen vor ihnen zurück, rückten enger zusammen, traten anderen auf die Füße. Es hallten Flüche und wütende Proteste. Doch gleich darauf brandete ein erwartungsvolles Raunen auf, denn unter dem Torbogen erschien nun die Spitze des feierlichen Umzugs. Zuerst ein einzelner Priester im Messgewand,
der ein vergoldetes, hoch auf einen Stab gepflanztes Kreuz vor sich hertrug. Hinter ihm schritten zwei Ministranten einher, voran der turifer, der ein silbernes Weihrauchfass an langer Kette schwang, und der navicularius, der würdevoll das Weihrauchschiffchen trug. Ein weiterer Ministrant trug das kostbare Banner des Heiligen, und dann folgte eine schwere, auf den Schultern von vier Mönchen getragene, mit Blattgold und reichen Schnitzereien verzierte Lade, Gegenstand der Verehrung der Gläubigen. Viele in der Menge sanken auf die Knie und bekreuzigten sich.
Eine Marktfrau beugte sich zu Arnaut herüber. »Die Gebeine des Heiligen«, sagte sie laut genug, um den frommen Gesang der Mönche zu übertönen, die der Lade nachkamen. »Unser erster Bischof. Hat viele Heiden bekehrt.« Arnaut lächelte freundlich zurück. »Warum halten hier eigentlich Tolosaner die Ordnung und nicht die Stadtmiliz?«
»Weil sie uns schon seit Jahren knebeln«, antwortete der Handwerker zu seiner Linken. »Ganz Narbona dient nur als Geisel für Alfons und seine Höllenhunde.«
»Aber herrscht nicht die Familie der Vizegrafen?«
»Seit Aimerics Tod geht es nur bergab«, knurrte der Mann. »Alles geht zum Teufel, putan. Und der Tolosaner reißt sich die Grafschaft unter den Nagel. Verdammte Weiberherrschaft! «
»Hört auf zu fl uchen, Maistre Bernat!« Die Marktfrau funkelte ihn zornig an. »Die vescomtessa tut, was sie kann. Außerdem sagt der Erzbischof, dass Alfons unser oberster Lehnsherr ist. Das wisst Ihr so gut wie wir alle.«
»Der Erzbischof? Dass ich nicht lache!« Der Mann zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Der stand schon immer in Tolosas Diensten.«
Copyright © 2011 Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen
Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
ISBN 978-3-426-19887-2
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Autoren-Porträt von Ulf Schiewe
Ulf Schiewe, geb. 1947 geboren, wollte eigentlich Kunstmaler werden, doch statt der brotlosen Kunst widmete er sich der Technik und wurde Software-Entwickler und später Marketingmanager für Softwareprodukte. Seit frühester Jugend war Ulf Schiewe eine Leseratte, den spannende Geschichten in exotischer Umgebung faszinierten. Im Lauf der Jahre erwuchs aus der Lust am Lesen der Wunsch, selbst einen großen historischen Roman zu schreiben. Ulf Schiewe ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulf Schiewe
- 2011, 520 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426198878
- ISBN-13: 9783426198872
Rezension zu „Die Comtessa “
"Ein Schmöker, der sich weniger um konkrete historische Bezüge sorgt, den geschichtlichen Stoff dafür mit umso fantasievollerer Wucht ausschöpft." -- Buchjournal, Oktober 2013
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