Die Eiskönigin

hatten keinenVater mehr, mein Bruder und ich. Er war verschwunden, hatte uns nur seinedunklen Augen als Erbe hinterlassen, nichts weiter. Wir brauchten unsereMutter. Vor allem ich war der Ansicht, dass sie kein Recht auf ein eigenesLeben hatte. Ich hegte einen Groll gegen alles, was sie in Anspruch nahm: Rechnungen,die bezahlt werden mussten, wechselnde Jobs, schmutziges Geschirr, Wäscheberge.Ständig war irgendetwas zu erledigen. Nie war man fertig. An jenem Abend wolltemeine Mutter ausgehen, um ihren Geburtstag mit ihren beiden besten Freundinnenzu feiern. Das passte mir überhaupt nicht. Es hörte sich nach Spaß an. Sie warim Bluebird Diner verabredet, einem schäbigen Lokal, in dem es guteRoastbeef-Sandwiches und Pommes mit Soße gab. Nur ein paar Stunden für sich, umein bisschen zu feiern. Das war mir ganz egal. Vielleicht war mein Vaterselbstsüchtig, und ich hatte außer den dunklen Augen auch diesen Charakterzugvon ihm geerbt. Ich wollte, dass meine Mutter zu Hause blieb und mir meinehüftlangen Haare flocht. Wenn ich mit ungeflochtenen Haaren ins Bett ging,verhedderten sie sich, und das machte mir Angst, weil mein Bruder mir erzählthatte, dass auf dem Dachboden Fledermäuse wohnten. Ich fürchtete mich davor,dass sie nachts in mein Zimmer geflogen kamen und sich in meinen Haareneinnisteten. Ich wollte auch nicht mit meinem Bruder alleine zu Hause bleiben.Er beachtete mich nie. Naturkunde war ihm wichtiger als Menschen. Wir strittenwegen allem, auch dem letzten Keks in der Dose, den wir oft gleichzeitig zufassen kriegten. Lass los! Nein, du! Und nicht selten zerbrach dann das,woran wir zerrten, in tausend Stücke. Ned hatte keine Zeit für die Spinnereien seinerkleinen Schwester; damit er mir vorlas, musste ich ihn bestechen. Ichübernehm deine Haushaltspflichten. Ich geb dir mein Geld für das Pausenbrot.Aber lies mir vor. Meine Mutter hatte für meine Einwände kein Ohr. Sie warbeschäftigt. Sie hatte es eilig. Sie zog ihren Regenmantel an und legte einenblauen Schal um. Ihr Haar war blassblond. Sie schnitt es sich vor dem Spiegelselbst und verrenkte sich dabei immer den Hals, um den Hinterkopf sehen zukönnen. Einen Haarschnitt vom Friseur konnte sie sich nicht leisten; aberhübsch war sie trotzdem. Wir sprachen nicht darüber, dass wir arm waren; wirließen uns nie über die Dinge aus, die wir nicht haben konnten. Wir aßen dreimaldie Woche Nudeln und gingen mit dicken Pullovern ins Bett; wir kamen zurecht.War mir an diesem Abend bewusst, dass meine Mutter Geburtstag hatte und dreißigJahre alt wurde, dass sie jung und schön und ausnahmsweise einmal fröhlich war?Für mich war sie nur meine Mutter. Nichts mehr und nichts weniger. Sie hattemich nicht auszuschließen. Als sie aufbrach, lief ich ihr nach. Ich war barfuß,und der kalte Boden auf der kalten Veranda tat an den Füßen weh. Der Regengefror zu Hagel und prasselte auf das grüne Wellblechdach. Es klang wieGewehrschüsse. Der Holzboden der Veranda war mit einer gläsernen Eisschicht überzogen.Ich bettelte, dass meine Mutter nicht wegfahren solle. Herrscherin der Welt.Das Mädchen, das nur an sich selbst dachte. Heute weiß ich, dass man überbelanglose Dinge immer am schlimmsten streitet. Der Moment jedoch, in dem sichdas Leben verändert, ist unsichtbar, löst sich wie Zucker in Wasser auf. Aberdas sage man mal einem achtjährigen Mädchen. Oder irgendwem; mal sehen, wer daseinem glaubt. Als meine Mutter sagte, Betsy und Amanda warteten auf sie und siesei schon spät dran, sprach ich meinen Wunsch aus. Er brannte sofort auf derZunge, und er schmeckte bitter; dennoch hielt ich mich nicht zurück. Ichwünschte, sie nie mehr wiederzusehen. Ich sagte es ihr direkt ins Gesicht. Ichwünschte, sie solle verschwinden, auf der Stelle. Meine Mutter lachte undküsste mich. Ihr Kuss war klar und kalt, ihre Haut so weiß wie Schnee. Sieflüsterte etwas, aber ich hörte nicht zu. Ich wusste genau, was ich wollte. Ichhatte nur Gedanken für die eigenen Bedürfnisse. Meine Mutter musste denAnlasser mehrmals betätigen, bis der Wangen ansprang. Die ganze Luft warverqualmt. Das Dach der Veranda ratterte im Einklang mit dem stotternden Motor.Ich spürte die ätzende Säure in mir. Und was an dem Wunsch, dass sie verschwindensollte, ganz seltsam war: Er tat weh. »Komm rein, du Dummkopf«, rief meinBruder. »Du frierst dir da draußen nur den Hintern ab.« Ned dachte logisch undvernünftig; er war vier Jahre älter als ich und Experte für Sternbilder, roteAmeisen, Fledermäuse und Wirbellose. Er hatte mir schon oft gesagt, dass Gefühlereine Zeitverschwendung sind. Ich hörte nicht gern auf Ned, auch wenn er Rechthatte, und ich gab ihm an diesem Abend keine Antwort. Er rief, dass er mirvorlesen würde, Märchen sogar, was er gewöhnlich verabscheute. Unlogische,unvernünftige, unmögliche Geschichten. Aber nicht einmal das brachte mich dazu,ins Haus zu kommen. Ich musste irgendwie auf die leere Straße starren. MeinBruder gab es auf mit mir. Taten das nicht alle? Meine Füße waren blauangelaufen und schmerzten, aber ich blieb noch eine ganze Weile auf der Verandastehen. Bis die Zunge nicht mehr brannte. Später schaute ich aus dem Fenster, undsogar Ned trat zu mir, aber da draußen gab es nichts zu sehen. Nur Schnee. MeineMutter verunglückte auf der Zufahrt zum Highway. Als Ursache gab die Polizeieine vereiste Straßendecke und abgefahrene Reifen an. Dabei waren wir arm,sagte ich das nicht schon? Meine Mutter erschien nicht zu ihremGeburtstagstreffen; nach einer Stunde Warten rief ihre Freundin Betsy bei derPolizei an. Am nächsten Morgen, nachdem unsere Großmutter zu uns gekommen war,um die Nachricht zu überbringen, flocht ich mir die Haare zum ersten Malallein. Dann schnitt ich sie mit einer Gartenschere ab und ließ sie liegen, fürdie Fledermäuse. Es kümmerte mich nicht mehr. Ich fragte mich, ob mein Bruder nichtRecht hatte. Man sollte nichts fühlen. Man sollte nicht einmal versuchen, etwaszu fühlen. Nach dem Begräbnis zogen mein Bruder und ich bei meiner Großmutterein. Wir mussten einiges zurücklassen: Mein Bruder verzichtete auf seineAmeisenkolonie und ich auf meine Spielsachen. Ich war jetzt zu alt fürSpielzeug. Meine Großmutter nannte meine Frisur einen Koboldhaarschnitt, aberhatte sie auch ein Wort für das parat, was ich mit meiner Mutter gemacht hatte?Ich wusste eines, sprach es aber nicht aus. Meine Großmutter war zu gutherzig, umzu erkennen, was jetzt in ihrem Haus lebte. Ich hatte meine Mutter mit Wortenvernichtet; Worte waren von nun an meine Feinde. Ich gewöhnte mir schnell an, denMund zu halten. (...)

© Goldmann Verlag

Übersetzung:Leonore Beadsman