Die Farben dieser Welt
Doch Gerüchte über seine Herkunft verstummen nicht, denn Pran ist nicht nur...
Doch Gerüchte über seine Herkunft verstummen nicht, denn Pran ist nicht nur bildhüsch, er ist auch hellhäutig. Da kommt die Wahrheit ans Licht.
Die Farben dieser Welt von Hari Kunzru
LESEPROBE
Eines Nachmittags,drei Jahre nach Beginn des neuen Jahrhunderts, flirrt roter Staub, der einstfetter Gebirgsboden war, in der Luft. Er gleitet auf einen Reiter herab, dersich langsam durch die Schluchten, mit denen die Ebenen südlich des Gebirgesdurchfurcht sind, vorwärts kämpft, dörrt ihm die Kehle aus, überzieht seineKleidung und verstopft ihm die Poren seines rosafarbenen, schwitzendenGesichts.
Sein Name ist Ronald Forrester, und Staub ist sein Spezialgebiet. Vielmehr:Sein Spezialgebiet ist der Kampf gegen den Staub. Im europäischen Club in Simla werden sie nie müde, über »Forrester den Förster« zuwitzeln. Ein- oder zweimal hat er versucht, seinen indischen Untergebenen imMinisterium den Witz zu erklären, aber die verstanden nicht, was daran komischsein soll. Sie nahmen an, der Name gehöre zum Job. Förster Sahib.Wie Ingenieur Sahib oder Mister Richter.
Forrester Sahib bekämpft den Staub mit Bäumen. SiebenJahre hat er oben im Gebirge damit zugebracht, auf erodierten Berghängenherumzureiten, Schonungen aus Jungbäumen anzupflanzen, seinen Bauern etwas überBodenerhaltung beizubringen und Verordnungen durchzusetzen, die Holzschlagenund unerlaubte Weidehaltung untersagen. Folglich ist er auch der Erste, dem dasunfreiwillig Komische an seiner gegenwärtigen Lage bewusst ist. Selbst jetzt,in seinem Urlaub, verfolgt ihn seine Arbeit überallhin.
Er trinkt aus einer Taschenflasche einen Schluck brackiges Wasser und presstsich in den Sattel, als sein Pferd stolpert, sich wieder fängt und eine kleineSteinlawine den steilen, trockenen Hang hinunterkollern lässt. Es istSpätnachmittag, und wenigstens lässt die Hitze langsam nach. Der Himmel überihm ist mit blauschwarzen Wolken überzogen, trächtig vom Monsunregen, der jedenTag losbrechen wird. Wenn er doch nur endlich käme, denkt er.
Forrester hat es genau deshalb in diese Gegend verschlagen, weil es hier keineBäume gibt. Auf der Veranda seines Regierungsbungalows an seinem Dienstort kamihm die perverse Idee, Baumlosigkeit könne einer erholsamen Rundreise förderlichsein. Und jetzt, wo er hier ist, gefällt sie ihm nicht mehr. Es ist ein ödesLand. Selbst das Jagen ist ziellos und unbefriedigend. Von den kümmerlichenGetreidefeldern der Dorfbewohner abgesehen, die durch ein Netzwerk aus Dämmenund Kanälen sorgsam bewässert werden, sind ein paar Büschel scharfen, gelbenGrases und verkrüppeltes Dornengebüsch das Einzige, was wächst. Inmitten alldieser Dürre fühlt er sich unbehaglich, am falschen Ort.
Wenn die Sonne am Morgen sein Zelt aufheizt, hat Forrester Träume vomMarschieren. Träume von Bäumen. Von ganzen Regimentern aus Deodar-Zedern,die hügelan und talwärts marschieren wie Rotröcke mit Nadeln dran. VonPaternoster-Bäumen, Saul-Bäumen und Amboinakino-Bäumen.Von Banyans, die Wurzeln ausstrecken wie Tentakel,von schwarzem Laubwerk, das sich vor das Blau des Himmels schiebt. Sogarenglische Bäume kommen darin vor, Bäume, die er seit Jahren nicht mehr zuGesicht bekommen hat. Krumme Eichen und schlaffe Weiden verwandeln sich inmarschierende Bataillone, während er sich im Schlaf herumwälzt und von einerSeite auf die andere wirft. Wenn ihn die Träume entlassen, liegt er schwitzendund unausgeruht auf seiner Pritsche und ärgert sich darüber, dass seine Wälderzu etwas Aufgeregtem, Albernem verzerrt wurden. Zu einer Klamotte. EinerBaum-Operette. Noch ehe er Zeit zum Rasieren gefunden hat, rinnen ihm roteSchweiß- und Staubbäche die Stirn herunter. Das alles, weiß er, hat er nur sichselber zuzuschreiben. Alle haben gesagt, es sei töricht, in dieser Jahreszeit inden Süden zu reisen.
Würde man Forrester fragen, könnte er nur schwer erklären, was er eigentlichhier tut. Vielleicht ist er aus Trotz hergekommen, weil es die Jahreszeit ist,in der alle anderen in den Norden, in die Kühle der Berge aufbrechen. Er hat dreiWochen damit verbracht, einfach in der Gegend herumzureiten und nach etwas zusuchen. Was das ist, kann er nicht mit Sicherheit sagen. Etwas, das eine Lückefüllt. Bis vor kurzem kam ihm sein Leben in den Bergen durchaus befriedigendvor. Einsam ist es allerdings, keine Frage. Im Gegensatz zu manch anderem redetForrester mit seinen Mitarbeitern und ist an den Einzelheiten ihres Lebensehrlich interessiert. Aber Rassengegensätze sind schwer zu überwinden, undschon an der Universität war er nie sehr gesellig. Es bestand immer einegewisse Distanz.
Konventionellere Leute hätten dieser Lücke die Form einer Frau gegeben undihren Urlaub damit zugebracht, auf Teepartys und bei Polospielen in Simla auf Ehefrauenjagd zu gehen. Forrester dagegen,schwierig, schweigsam, wie er ist, beschloss, sich mal anzusehen, wie das Lebenohne Bäume ist. Er hat festgestellt, dass er es nicht mag. Das ist ein gewisserFortschritt. Für Forrester liegt der Zweck des Lebens im Wesentlichen darin,sich darüber Klarheit zu verschaffen, was man mag und was nicht. Sein Problemist nur, dass er bisher sehr wenig gefunden hat, was er auf der Plusseite derBilanz veranschlagen könnte. Und so reitet er durch die Schluchten, eine inKhaki gekleidete Leerstelle, träumt von Bäumen und wartet auf etwas,irgendetwas, das ihn ausfüllen könnte.
Dieses Etwas ist in Luftlinie nicht weiter als eine Meile entfernt, aber beider Welligkeit des Schotterwegs beträgt die Entfernung möglicherweise dasDoppelte. Als die Sonne tiefer sinkt, sieht Forrester einen funkelndenLichtreflex auf Metall, kurz blitzt etwas rosafarben vor der graubraunen Erdeauf. Er macht Halt und wartet, während seine Kiefer sich seltsam verspannen under im Sattel erstarrt wie ein Kavallerist bei der Parade. Er hat die letzten anderthalbTage keinen Menschen zu Gesicht bekommen. Allmählich erkennt er eine GruppeMänner, dem Aussehen nach Rajputen-Bauern, diemehrere Kamele am Zügel führen und einen verhängten Palankin,eine Sänfte, begleiten. Die Sänfte wird von vieren von ihnen schaukelnd auf denSchultern getragen.
Als die Gruppe sich bis auf Rufweite genähert hat, berührt die Sonne fast denHorizont. Drohendes Rot steht in Streifen vor einer dichten, grauen Wolkenwand.Forrester wartet, während sein Pferd mit den Hufen auf dem Ufer einesausgetrockneten Flussbetts herumstampft. Nicht weit von ihm entfernt halten dieSänftenträger und setzen ihre Last ab. Mit ihren gewaltigen rosa Turbanen undden zu enormer Länge gezwirbelten Schnurrbärten taxieren sie den schwitzendenEngländer, als wären sie Käufer, die einen Ochsen begutachten. Vier schwarzeAugenpaare, gespannt und gleichmütig. Forresters Hand fährt unwillkürlich zuseinem Hals empor.
Aus dem Hintergrund taucht ein magerer Mann mittleren Alters auf, der einen Dhoti und ein schmutziges weißes Hemd trägt und sich einenschwarzen Regenschirm unter den Arm geklemmt hat. Er sieht aus wie einEisenbahner oder Hauslehrer, und seine Erscheinung nimmt sich in der Wüsteseltsam und unpassend aus. Sichtlich führt er hier das Kommando, und ebensosichtlich ist er verärgert darüber, dass seine Diener den Befehl zum Anhaltennicht abgewartet haben. Er drängt sich durch sie hindurch nach vorn und grüßtForrester mit einer Verbeugung, die dieser mit einem Tippen an den Rand seinesTropenhelms erwidert. Forrester will sich gerade auf Hindi an den Mann wenden,als der ihn auf Englisch anspricht.»Sieht nach Regen aus, was?«
Beide blicken sie zum Himmel hinauf. Wie auf Kommando landet ein dickerWassertropfen auf Forresters Gesicht.
Feuer und Wasser. Erde und Luft. Denk über diese Gegensätze nach und bring siemiteinander in Einklang. Lass sie ineinander stürzen, jage sie trudelnd durcheinen Tunnel aus Schwärze, aus dem sie heil wieder hervorkommen, eins mit demAll, bloße Erscheinungen der großen Einheit aller Dinge, deren Name Gott ist.Der Gedanke kann auf diese Weise weiterwandern, vom Teil zum Ganzen, glatt wiedie Berührung der öligen Hände des Masseurs im Hammam.Amrita würde am liebsten ewig so weiterdenken. Daswäre wahrer Genuss! Doch sie ist nur eine Frau, und »ewig« wird ihr nichtzugestanden. In Ermangelung der Unendlichkeit wird sie sich damit begnügen,das, was ihr an Zeit gegeben ist, in die Länge zu ziehen, zu einem dünnen Fadenauszuspinnen.
Im Inneren der Sänfte ist es heiß und eng, die Gerüche von Essen, altem Schweißund Rosenwasser vermischen sich mit einem anderen Geruch, scharf und bitter.Schon wieder streckt sich Amritas Hand nach demkleinen Sandelholzkästchen mit den Pillen aus. Sie beobachtet die Hand, alsbeobachte sie eine Schlange, die über einen Steinboden kriecht, mit Distanz undleisem Ekel. Ja, es ist ihre Hand, aber nur im Moment, nur eine Zeit lang. Amrita weiß, dass sie und ihr Körper nicht ein und dasselbesind. Dieses krebsartige Ding, das mit Kästchen und Schlüssel und Kügelchen ausklebrigem, schwarzem Harz herumfummelt, gehört ihr nur so, wie ihr ein Schaloder ein Schmuckstück gehört.
Ein heftiger Stoß. Sie haben angehalten. Draußen hört man Stimmen. Amrita ist erfreut. Mit ihren neunzehn Jahren wird diesihre letzte Reise sein, und jede Verzögerung ist ein Grund zum Feiern. Sieschluckt noch ein Opiumkügelchen, dessen bitteres Harzsie auf der Zunge schmeckt.
Wie jedes Jahr hat der Wind stetig aus Südwesten geweht, seine Fracht ausfeuchtweicher Luft über die Ebene gewälzt und sie hart gegen die Berge prallenlassen. Tagelang, wochenlang hat sich die Luft durch die Täler in die Höhegeschoben, sich abgekühlt und ist in gewaltigen Kondenswassertürmen über dieGipfel gewirbelt. Nun sind diese hängenden Wolkengärten so reif, dass sie nichtmehr an sich halten können.
Und so fällt Regen.
Er geht zuerst über den Bergen nieder, Wassermassen von unvorstellbarer Wucht.Hirten und Holzfäller, die er im Freien erwischt, ziehen sich ihre Tücher überdie Köpfe und suchen rennend Deckung. Dann rollt der Regen in einerKettenreaktion, die sich von Wolke zu Wolke fortsetzt, über die Vorgebirge,löscht Feuer, prasselt auf Dächer und zaubert ein Lächeln auf die Gesichter derMenschen, die nach draußen laufen, um ihn zu begrüßen, das Wasser, auf das sieso lange gewartet haben.
© GoldmannVerlag
Übersetzung:Benjamin Schwarz
Autoren-Porträt von Hari Kunzru
Hari Kunzru wurde 1969 als Sohn einer Engländerin und einesInders geboren. Er schreibt für zahlreiche Zeitungen und Magazine, darunter"The Economist", "TheGuardian", "London Review of Books", "Wired","Mute" und "Wallpaper". Er lebt in London und arbeitet anseinem zweiten Roman.
- Autor: Hari Kunzru
- 2004, 508 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Schwarz, Benjamin
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 344245719X
- ISBN-13: 9783442457199
"Die Wandlungen des Pran Nath" ist ein gekonntes, üppiges Epos zwischen allen Welten." (taz)
"Ein Roman von wahrhaft epischer Größe. Von diesem Buch wird die Welt reden." (Daily Telegraph)
"Fasziniert taucht man ein in ein orientalisches Märchen - und liest sich süchtig." Madame
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