Die fremde Frau
Roman
Sarah beginnt mit dem geheimnisvollen Alex ein völlig neues Leben. Schon bald merkt sie, dass im Dorf von Burrington Stoke etwas nicht stimmt. Warum ist die Frau von Alex einfach spurlos verschwunden? Und plötzlich tut sich vor Sarah ein Abgrund auf.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die fremde Frau “
Sarah beginnt mit dem geheimnisvollen Alex ein völlig neues Leben. Schon bald merkt sie, dass im Dorf von Burrington Stoke etwas nicht stimmt. Warum ist die Frau von Alex einfach spurlos verschwunden? Und plötzlich tut sich vor Sarah ein Abgrund auf.
Klappentext zu „Die fremde Frau “
Sarah lässt alles hinter sich, um mit dem faszinierenden Alex ein neues Leben zu beginnen. Sie zieht zu ihm in sein abgelegenes englisches Landhaus. Doch überall begegnen ihr die Spuren einer mysteriösen Vergangenheit - und die Schatten von Alex' verschwundener Ehefrau. Eine packende, düster-romantische Geschichte um Liebe, Verrat und die Geheimnisse, die selbst die, mit denen wir zusammenleben, im Innersten verborgen halten.
Lese-Probe zu „Die fremde Frau “
Die fremde Frau von Lesley TurneyAus dem Englischen von Monika Köpfer
Eins
Ich lernte Alexander im Hotel La Fiora kennen, in einer abgeschiedenen Gegend an der Südküste Siziliens. Ich schwamm schon eine ganze Weile im Pool, vielleicht eine halbe Stunde, jedenfalls lange genug, um die Haut meiner Finger schrumplig werden zu lassen. Mit weit ausgebreiteten Armen ließ ich mich auf dem Rücken im Wasser treiben. Von oben betrachtet musste ich wohl wie ein Kreuz aussehen, das sich langsam auf der Wasseroberfläche dreht. Zum Schutz vor der stechenden Sonne hielt ich die Augen geschlossen.
Es war an einem heißen Nachmittag Mitte August, eine Tageszeit, zu der die meisten Italiener bei heruntergelassenen Jalousien ein Mittagsschläfchen hielten. Auch meine Schwester war in ihr Zimmer gegangen, das sie mit ihrem Mann Neil teilte, um sich hinzulegen. Sie war wesentlich hellhäutiger als ich, und die Hitze machte ihr sehr viel mehr zu schaffen als mir. Statt mich auszuruhen, schwamm ich lieber. Ohnehin zog ich es vor, mich zu beschäftigen, denn in ruhigen Momenten neigten meine Gedanken dazu, nach Hause abzuschweifen, zu Laurie und der Szene, wie er eine Woche zuvor in der Tür unseres Schlafzimmers gestanden und mir beim Packen zugesehen hatte. Barfuß und nur in seiner grau verwaschenen Hose, die Haare zerzaust, fuchtelte er mit der Brille in der Luft herum und flehte mich an, ihn nicht zu verlassen. Wahllos stopfte ich meine Reisetasche voll, die auf dem Bett lag, während ich Laurie sagen hörte: »Sarah, das hilft uns auch nicht weiter. Wir müssen über unsere Probleme reden. Du kannst nicht einfach davonlaufen. «
Woraufhin ich ruhig erwiderte: »Und ob ich das kann.«
... mehr
Unser größtes Problem, jedenfalls von meiner Warte aus, war, dass Laurie mit meiner besten Freundin Rosita geschlafen hatte, und zwar in unserem Bett, und nicht nur einmal, sondern mehrmals. Was mir am meisten zu schaffen machte war nicht so sehr seine Untreue an sich, sondern die Tatsache, dass er seine Geliebte, meine Freundin, in unser gemeinsames Bett mitgenommen hatte, an unseren intimsten Ort. Hätten sie sich in irgendeinem anonymen Hotelzimmer getroffen, um schlicht und einfach zu vögeln, hätte es mich vielleicht nicht derart verletzt.
Ich stellte mir vor, wie er nach dem Sex noch ein wenig auf dem Bett liegen geblieben war, um ihr beim Anziehen zuzusehen, und wie er ihre nackten Schulterblätter betrachtet hatte, während sie mit den Händen nach hinten fasste, um den BH zu schließen. Wahrscheinlich begann er bereits in diesem Moment, Schuldgefühle zu haben, das würde Laurie ähnlich sehen. Bestimmt hatte er geduscht, nachdem Rosita gegangen war, um die Spuren seiner Untreue zu beseitigen. Dann hatte er das Bett gemacht, die Kissen glatt gestrichen, nach langen schwarzen Haaren gesucht, die Bettdecke aufgeschüttelt, umgedreht und geglättet und billigend in Kauf genommen, dass ich mich später am Abend auf dieselbe Stelle legte, wo er zuvor Rosita geliebt hatte.
Das konnte und würde ich ihm nie verzeihen.
Während ich also packte, flehte Laurie mich an zu bleiben. Dabei gab er mir die Schuld für seine Untreue, wenn auch indirekt, indem er durchblicken ließ, dass ich ihn so weit gebracht hätte. Er war völlig aufgelöst, und sein innerer Aufruhr spiegelte sich in seinen verzerrten Zügen wider. »Du warst in letzter Zeit so distanziert«, sagte er. »Ich konnte überhaupt nicht mehr zu dir durchdringen. «
Und ich erwiderte nur: »Glaub mir, Laurie, das war gewiss nicht die richtige Lösung.«
Ihm zufolge war Rosita nur eine Ablenkung gewesen, sozusagen Balsam für seine verletzte Seele, mehr nicht. Ein Symptom unserer vergifteten Beziehung, seit wir unser Kind verloren haben. Stets sprach er im Zusammenhang mit der Totgeburt unseres Kindes von »wir« und »uns«, um zu betonen, dass es sich um einen beiderseitigen Verlust handelte, unter dem wir beide litten, und keiner von uns trug Schuld oder Verantwortung dafür.
Natürlich sei es dumm von ihm gewesen, mit Rosita zu schlafen, hatte er gesagt, aber es bedeute ihm nichts. Ich erinnerte mich nicht mehr, ob ich etwas darauf geantwortet hatte. Stattdessen hallten immer dieselben Worte in meinem Kopf wider und drückten schmerzhaft gegen meine Stirn: Ja, aber du hast nicht einmal die Bettwäsche gewechselt, Laurie. Du hast sie in dasselbe Bett mitgenommen, in dem unser Kind gezeugt wurde, an unseren heiligen Ort, wo du jeden Abend deine Hand auf meinen Bauch gelegt hast, um sein Wachsen zu verfolgen, und wo wir zu ihm gesprochen haben. Und dann hast du zugelassen, dass ich mich in dieses Bett legte, in dem sie gelegen hatte. Du hast uns alle betrogen. Du hast gelogen, dein Körper hat gelogen, und du hast nicht mal die Bettwäsche gewechselt.
Ich ruderte ein wenig mit den Armen, um im sonnenbeschienenen Wasser zu kreisen. Meine Gedanken waren so schwer, dass sie mich niederdrückten. Obwohl ich auf dem Wasser umhertrieb, hatte ich das Gefühl, mein Körper sei bleischwer.
Es war heiß und ruhig in dem weitläufigen Garten. Das blendend weiße Hauptgebäude war terrassenartig in die Klippen hineingebaut, sodass jedes Zimmer auf die Bucht blickte. Dunkelblättrige Zitronenbäume, Palmen und stachlige Pflanzen in Terrakottatöpfen warfen Schattenmuster auf den Rasen. Ein Rasensprenger wässerte in gleichmäßigem Rhythmus die Beete. Im Schatten dösten Gäste auf ihren Liegen, und auf dem Gartenweg machte ein graues Kätzchen einen Satz, um eine Spinne zu erhaschen. Sogar der Mann hinter dem Tresen der Poolbar kämpfte mit dem Schlaf. Das Gesicht in die Hände gestützt, drohten ihm immer wieder die Augen zuzufallen. Auf der von Schlaglöchern übersäten Straße jenseits des Hotels fuhr knatternd ein Moped vorbei.
Die meisten Hotelgäste waren älter als ich; italienische und deutsche Touristen mit kurzen grauen Haaren und Sonnenbrillen, faltiger Brust und Kugelbauch. Ich tauchte unter Wasser, schwamm bis zum Ende des Beckens, wendete und schwamm wieder zurück.
Unter den Bäumen zog ein kleiner Junge seine Hose aus. Neben ihm saß ein Mann in Hawaiishorts und mit Sonnenbrille, die Ellbogen auf den gespreizten Knien, und blies einen Schwimmflügel auf. Bislang hatte ich noch keine Kinder hier gesehen, offensichtlich war es kein Hotel, das von jungen Familien frequentiert wurde.
Ich tauchte erneut unter, schwamm ein paar Züge, und plötzlich platschte und spritzte es; Wasser schwappte mir ins Gesicht. Ich drehte mich um und sah den Jungen, der mit hochgerecktem Kinn und orangefarbenen Schwimmflügeln an den Oberarmen wie ein Hund auf mich zupaddelte. Sein weizenblondes Haar war sehr kurz geschnitten, was seine Augen und Ohren übergroß, sein Gesicht dagegen zu klein wirken ließ. Schlieren von Sonnencreme leuchteten auf Nase und Wangen. Ich schwamm zu der Treppe am anderen Ende des Beckens, denn ich hatte keine Lust, den Pool gemeinsam mit einem Kind zu benutzen. Der Mann stand zögernd auf der zweiten Stufe. Irgendwo war ein Handy zu hören, dessen Klingelton die nachmittägliche Trägheit zerriss. Offensichtlich gehörte es dem Mann. Die anderen Gäste hoben, in ihrer Ruhe gestört, die Köpfe, schoben die Sonnenbrillen hoch und verzogen ärgerlich ihre Gesichter. Der Mann sah zwischen dem Kind und dem Handy auf seiner Liege hin und her. Dann blieb sein Blick an mir hängen.
»Könnten Sie bitte kurz auf den Kleinen aufpassen?«
Einen Moment lang zögerte ich, dann nickte ich halbherzig. Was blieb mir denn anderes übrig?
Der Mann bedankte sich mit einem Daumen-hoch-Zeichen und stieg aus dem Pool, die nassen Haare klebten an seinen Beinen. Ich schwamm zu dem Kind zurück, das sich ganz und gar auf seine Bewegungen konzentrierte.
»Hallo«, sagte ich.
»Hallo.«
Ihm schien meine Rolle als Aufpasserin genauso wenig zu gefallen wie mir. Einen Moment lang wusste ich nicht so recht, was ich sagen sollte, dann fragte ich: »Wer hat dir denn das Schwimmen beigebracht?«
»Ich brauche keine Schwimmflügel«, erwiderte er. Er lispelte ein wenig. Seine beiden mittleren Schneidezähne fehlten.
»Ach ja?«
»Mami hat gesagt, ich brauche keine, aber Dad will, dass ich sie trage.«
Der Junge sah zu seinem Vater hinüber, der das Handy angespannt ans Ohr presste.
»Wie heißt du?«
»Jamie.«
»Das ist ein hübscher Name. Und wie alt bist du?«
Der Junge sah mich an. Seine Augen waren von dem gleichen Blau wie die winzigen quadratischen Keramikfliesen, die den Pool säumten. Seine Iris waren blauschwarz umrandet, und an seinen Wimpern hingen Wassertropfen. Er hatte ein kleines, zartes Gesicht, fast wie ein Baby, doch sein Ausdruck glich in seiner Ernsthaftigkeit dem eines Erwachsenen.
»Sechs und dreiviertel.«
»Oh, wie schön.«
Ich fragte mich, ob mein Sohn ihm irgendwie ähnlich gewesen wäre, wenn er sechs und dreiviertel Jahre gelebt hätte. Gewiss wäre er dunkelhäutiger gewesen, aber weniger ernsthaft. Ich stellte mir meinen Sohn immer als sonniges, engelsgleiches Kind mit rosigen Wangen und klebrigen Fingern vor, das sich in meinen Armen wand, wenn ich es knuddelte und kitzelte, und sich gegen meine Küsse sträubte.
Nein, diesem Jungen wäre er bestimmt nicht ähnlich gewesen.
Jamie strampelte mit den Beinen im eisblauen Wasser und rief: »Schau!«
Er spreizte seine zarten Finger mit den muschelfarbenen Nägeln, legte die Hände flach auf die Wasseroberfläche und bewegte sie feierlich, als würde er Klavier spielen. Die Muster des Wassers, die Jamie auf diese Weise erzeugte, spiegelten sich im Sonnenlicht auf dem Boden wider. Die Lichtreflexe tanzten auf den Fliesen, kräuselten sich und bildeten Blumengirlanden, Spiralen und Kreise. Jamie verwandelte den Boden des Pools in ein Kaleidoskop. Ich sah ihm zu, wie er mich gebeten hatte, und nach einer Weile blickte er erwartungsvoll zu mir auf. Offensichtlich wollte er von mir gelobt werden.
»Das ist toll. Wer hat dir das gezeigt?«
»Mami.«
»Und wo ist deine Mutter jetzt? Ruht sie sich aus?«
Jamie schüttelte den Kopf. Seine Augen wirkten im hellen Licht glasig, und die mit Sommersprossen übersäte blasse Haut auf seiner Nase und seinen Wangen zeigte die Anzeichen eines beginnenden Sonnenbrands. Er stieß einen leisen Seufzer aus, als hätte er es satt, Fragen zu beantworten, wäre es leid, überhaupt gefragt zu werden.
»Mami ist weggegangen«, sagte er schließlich, und so, wie er die Worte betonte, war mir klar, dass sie nicht mal eben einkaufen oder aufs Zimmer gegangen war, sondern für immer.
Zwei
Nachdem er sein Telefonat beendet hatte, gesellte sich Jamies Vater zu uns in den Pool. Er hatte seine Sonnenbrille abgenommen und blinzelte im Sonnenlicht, sodass seine Wimpern die tief sitzenden braunen Augen verbargen. Sein langes schwarzes Haar reichte ihm bis zu den Schultern. Er hatte sich seit mehreren Tagen nicht rasiert, seine Haut war fahl, als wäre er gerade erst von einer Krankheit genesen. Etwas stimmte nicht mit ihm, er hatte etwas von einem Gejagten an sich und gleichzeitig etwas von einem Jäger. Als er neben mir auftauchte, wich ich unwillkürlich ein Stück zurück.
»Danke«, sagte er.
»Gern geschehen.«
»Hören Sie ...«, sagte er, und ich begann gleichzeitig zu sprechen: »Also ...« Wir mussten beide über unsere Unbeholfenheit lächeln.
»Ich heiße Alexander, Alex.«
»Sarah.«
Weil mir nichts anderes einfiel und ich auch keine Neigung verspürte, den Pool mit anderen Menschen zu teilen, zuckte ich die Schultern und sagte: »Gut, ich muss jetzt raus.«
»Okay.«
Ich war erleichtert, dass er nicht versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Mir graute vor höflichen Fragen zu meiner Person und davor, lügen zu müssen, denn eine ehrliche Antwort hätte meine Gesprächspartner unweigerlich in Verlegenheit gebracht. So viel verbergen zu müssen beschämte mich. Und ich fühlte mich irgendwie beschmutzt und zog es vor, in Ruhe gelassen zu werden.
Während ich zur Treppe schwamm, spürte ich die Blicke von Vater und Sohn auf meinem Rücken. Ich stieg die Stufen empor und ging zu der Duschvorrichtung, die sich über einem Lattenboden befand. Ich legte den Kopf in den Nacken und ließ mir das saubere Wasser durch die Haare rinnen, während ich die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht genoss. Als ich den Kopf wieder aufrichtete und die Augen öffnete, bemerkte ich, wie er mich beobachtete, während Jamie im Wasser herumspritzte. Alexanders Miene war ausdruckslos. Lichtreflexe von Sonnenstrahlen, die sich auf dem Wasser brachen, tanzten auf seinen Wangen und dem Kinn. Einen Moment lang verharrte ich, die Hände in den Haaren, um ihn ebenfalls anzusehen, während er meinem Blick standhielt. Warum starrte er mich so an? Spürte er, dass mit mir etwas nicht stimmte?
Ich wandte mich ab, um mein Haar auszuwringen und mir das hoteleigene gelbe Handtuch umzuwickeln, das über dem Zaun neben der Dusche hing. Dann ergriff ich mein Portemonnaie, das ich unter dem Handtuch versteckt hatte, und überquerte den Rasen in Richtung Bar. Im selben Moment, als ich an Alexanders Liege vorbeikam, klingelte erneut das Handy. Ich konnte den Namen des Anrufers auf dem Display lesen: Raul. Neben der Liege lag mit dem Gesicht nach unten ein kleiner blauer Teddybär. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben, und setzte ihn, mit dem Rücken an einen Kleiderhaufen gelehnt, ins Gras, sodass er zum Pool blickte.
Am Tresen bat ich den Barkeeper um ein Glas Limonade und nahm sie mit an einen schattigen Tisch. Neben mir huschte eine kleine Eidechse die Mauer empor und hielt regungslos auf meiner Augenhöhe inne. Es war ein hübsches kleines Ding, dessen Zehenballen wie Pailletten an der weiß getünchten Mauer hafteten. Ich spähte durch die Hecke, die den Hotelgarten zum Meer hin begrenzte. Tiefblauer Himmel wölbte sich über der Bucht, und in der Ferne konnte ich die Küstenlinie des Festlandes erkennen. Ich versuchte, mich in den Anblick der Farben und der Weite zu verlieren, wurde jedoch von Jamies Schwimmübungen im Pool abgelenkt und von der Stimme seines Vaters, der ihm zurief, er möge herauskommen.
Auf dem Rückweg zu meiner Liege musste ich abermals an Vater und Sohn vorbei. Alexander rubbelte mit einem Handtuch Jamies Haare trocken, dabei jammerte der Junge, er solle nicht so grob sein. Zitternd schlang er seine dünnen Ärmchen um die Brust. Alexander hatte seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, wohl aber seinen geschmeidigen, muskulösen Rücken und die mit schwarzen Haaren bedeckten Arme. Unter dem einen Arm, direkt unter dem Rippenbogen, prangte eine noch nicht ganz verheilte rötliche Narbe mit ausgefransten Rändern.
Ich drehte ihnen den Rücken zu, um mein Strandkleid über meinem feuchten Bikini überzuziehen, und packte meine Tasche zusammen. Dann schlüpfte ich in die Sandalen und folgte dem Plattenweg, der zum Hoteleingang führte. Mit erhobenem Kopf, und ohne mich umzublicken, betrat ich die klimatisierte Lobby.
Drei
Zurück in meinem Zimmer, legte ich mich bäuchlings aufs Bett. Ich setzte meine Brille auf, um mir im Fernsehen irgendeine italienische Spielshow anzusehen. Aber ich war so müde. So elend müde.
Ich muss eingeschlafen sein, denn als es an der Tür klopfte, wusste ich zunächst nicht, wo ich mich befand. Einen schwindeligen Moment lang wähnte ich mich noch im Krankenhaus, wo ich gerade aus der Narkose erwacht war, und glaubte, dass alles nur ein böser Traum gewesen sei. Vielleicht würde ja, wenn ich jetzt die Augen aufmachte, ein Baby mit dunklen Haaren in einem Kinderbettchen neben mir liegen, an seinem Fäustchen saugen und mich anschauen. Mein Herzschlag raste bei diesem Gedanken. Ich spürte einen Funken Hoffnung in mir aufsteigen und gleichzeitig das Gefühl von Panik, dass es eben doch nicht so war.
Ich rollte mich auf die Seite und öffnete die Augen. Als ich die Wandfarbe des Hotelzimmers und das in Gold gerahmte Stillleben erkannte, hatte ich Mühe, meine Enttäuschung zu unterdrücken.
Wieder ein Klopfen, etwas lauter diesmal.
Ich kletterte aus dem Bett und bemühte mich, meinem Gesicht einen entspannten Ausdruck zu verleihen, bevor ich die Tür öffnete. Es war May, meine wundervolle Schwester, frisch geduscht und hübsch zurechtgemacht. Sie roch nach Shampoo und Babypuder. Als sie mich ansah, huschte ein Anflug von Besorgnis über ihr Gesicht. Ich versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, aber es gelang mir nicht recht.
»Ach, du bist noch nicht fertig?«, fragte sie.
Mein Blick wanderte an mir hinab. Noch immer war der feuchte Abdruck meines Bikinis auf meinem Strandkleid zu sehen.
May streckte die Hand aus und fuhr mit dem Handrücken über mein Haar. »Alles in Ordnung mit dir, Sarah?«
»Ja.« Ich nickte energisch. »Ich muss wohl eingeschlafen sein.«
»Du hast noch Falten vom Kissen im Gesicht.«
»Puh, tut mir leid.«
»Ach was, macht doch nichts!«, sagte May.
Sie trug ein hauchdünnes blassgrünes Top zu einer weißen Jeans, die einen Tick zu eng saß.
»Du siehst bezaubernd aus, May. Ist schon Zeit fürs Abendessen?«
»Wir haben für acht ein Taxi bestellt, erinnerst du dich? Weil wir vor dem Abendessen noch einen Aperitif im Ort trinken wollten.«
»Ach ja. Und wie spät ist es jetzt?«
»Viertel vor acht. Aber keine Sorge. Neil ist schon nach unten gegangen, und wenn der Fahrer nicht warten möchte, nehmen wir eben ein anderes Taxi. Zieh dich in Ruhe an.«
May ging zum geöffneten Fenster hinüber und betrachtete den malerischen Sonnenuntergang über dem Meer. Man konnte hören, wie sich die Wellen weit unten an den Klippen brachen. Ich öffnete den Schrank und nahm ein marineblaues knöchellanges Kleid heraus. Im Spiegel auf der Innenseite der Schranktür konnte ich sehen, dass May mich beobachtete. Sie fuhr sich mit der Fingerspitze über die Unterlippe, wie immer, wenn sie sich Sorgen machte.
»Du hast wieder an das Baby gedacht, stimmt's?«
»Nein, ich habe nur geträumt, ganz einfach.«
»Ist etwas passiert?«
»Nein.«
»Du hast nicht mit Laurie telefoniert?«
»Nein.«
Ich streifte das feuchte Kleid über den Kopf und drapierte es zum Trocknen über das Bettgestell.
»Hat er dir keine SMS geschickt? Ich dachte, dass er dir vielleicht schreiben würde. Ich weiß, du hast ihm zwar gesagt, er soll dich in Ruhe lassen, aber ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er hat keine SMS geschickt. «
Ich drehte mich um, um den Bikini auszuziehen, und schlüpfte in das blaue Kleid.
»Wie auch immer, jedenfalls siehst du besser aus«, sagte May betont fröhlich, und mir war sofort klar, dass das Gegenteil der Fall war.
»Es geht mir gut.«
»Sarah ...«
»Wirklich, es geht mir gut.«
»Ich hätte dich heute Nachmittag nicht allein lassen sollen. Ich hätte bei dir bleiben sollen.«
Ich zupfte am Kleid herum, bis es richtig saß.
»Ganz im Gegenteil, ich war froh, dass du mich mal allein gelassen hast. Es war schön am Pool. Ich bin geschwommen und habe mich gesonnt. Außerdem habe ich Engländer am Pool getroffen.«
»Ach ja?«
»Einen Mann und seinen kleinen Jungen.«
Augenblicklich spürte ich Mays Anspannung. Ich wusste, was sie dachte: dass dieser Mann mit seinem Kind mich daran erinnert hat, was ich alles verloren habe. Und obwohl es aus lauter schwesterlicher Fürsorge war, hasste ich es doch, der Grund für ihre Besorgnis zu sein. Schnell redete ich weiter, als wäre mir die Parallelität zu meiner Situation gar nicht in den Sinn gekommen. »Der Junge ist fast sieben. Ich habe ein paar Minuten lang im Pool auf ihn aufgepasst, während sein Vater auf dem Handy telefoniert hat. Er heißt Jamie, der Junge, meine ich.«
»Und was ist mit seiner Mutter? Hast du sie auch kennengelernt? «
»Nein, sie war nicht bei ihnen. Jamie hat gesagt, sie sei weggegangen.«
»Wahrscheinlich besucht sie Freunde«, sagte May, »oder muss arbeiten, während die beiden Urlaub machen.«
»Möglich.«
May trat einen Schritt zurück, um mich in Augenschein zu nehmen.
»Du hast einen leichten Sonnenbrand«, sagte sie. Sie griff nach ihrer Tasche, kramte darin herum und reichte mir einen Tiegel mit einer teuren After-Sun-Creme, die sie im Duty-free-Shop am Flughafen gekauft hatte. »Nimm die.«
Gehorsam schraubte ich den Deckel auf und tauchte die Fingerspitzen in die Lotion. Sie war kühl und roch süßlich. Ich massierte sie sanft in meine erhitzte Gesichtshaut, vor allem auf die trockenen Augenpartien. Wieder versuchte ich, May ein Lächeln zu schenken, und diesmal schien es mir besser zu gelingen als zuvor, denn sie lächelte zurück.
»Nein, ich hätte dich nicht allein lassen sollen«, sagte sie sanft.
Vier
Die nächsten Tage vergingen langsam. Tagsüber hielten May und ich uns auf dem Hotelgelände auf. Am liebsten hätte ich die ganze Zeit unter den Bäumen beim Pool verbracht, aber May wurde nachmittags die Hitze zu viel. Da sie mich nicht allein lassen wollte, folgte ich ihr ins Hotel, wenn sie zu schnaufen und stöhnen begann.
Im viel zu kühl klimatisierten Speiseraum aßen wir Fisch, Oliven und Tomatensalat und setzten uns dann in die Liegesessel auf der Terrasse, um dem italienischen Tenor zu lauschen, der über die Stereoanlage herzzerreißende Liebeslieder schmetterte. Wir nippten an unserem eisgekühlten Wasser, schlugen nach den Fliegen und plauderten über dieses und jenes.
Am späten Nachmittag, wenn die Hitze ein wenig nachließ, folgten May und ich einem steilen Pfad, der sich durch die Klippen hinter dem Hotel schlängelte. Eingebettet zwischen zwei hüfthohen Mauern aus verwittertem Vulkanfelsen, in dessen Ritzen und Spalten hie und da ein paar kümmerliche silbrige oder lavendelfarbene Pflanzen wuchsen, führte er zu der kleinen hoteleigenen Bade- bucht hinab. Ein breiter Holzsteg ragte aus dem Felsen über das blaugrüne Meer hinaus. Im Wasser wimmelte es von Fischen. Ich liebte es, am Rand des Stegs zu sitzen und die Beine im kühlen Wasser baumeln zu lassen, während ich das schillernde Spiel der Sonnenstrahlen betrachtete, die auf den Wellen tanzten. Ich mochte den Geruch des Meeres und die erfrischende Brise. Während May auf einem Handtuch lag und in einem Buch las, ließ ich den Blick zur Küste auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht schweifen. An klaren Tagen konnte ich sogar Bäume und Häuser am jenseitigen Ufer ausmachen; an anderen Tagen wiederum trübte die flirrende Hitze über dem Wasser die Sicht.
In dieser kleinen Bucht war es so friedlich. Ich musste mit niemandem reden, keine Erklärungen abgeben und geriet auch weniger ins Grübeln.
Neil, Mays Mann, arbeitete als Dokumentarjournalist für die in Manchester ansässige Nachrichten- und Featureagentur NWM. Er sollte ein Feature über die Dreharbeiten eines Films machen, die auf Sizilien stattfanden, und May und er hatten mir angeboten, sie zu begleiten. Derart aus der Bahn geworfen, hatte ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und meine Entscheidung keine Sekunde lang bereut: Ich wusste nicht, wo ich lieber hätte sein wollen. Zu Hause jedenfalls nicht.
Wäre ich zu Hause geblieben, hätte dies endlose Gespräche, Diskussionen und Erklärungen mit sich gebracht. Oder mit anderen - nämlich in Lauries - Worten, wir hätten die meiste Zeit damit verbracht, das Kernproblem unserer Beziehung zu analysieren. Ich wusste, dass er unter einer Mischung aus Schuldgefühlen und Enttäuschung litt, die sich in einem unaufhörlichen Strom versteckter Vorwürfe mir gegenüber Luft gemacht hätte. Unterschwellige Wut, die sich als Besorgnis tarnte. Denn seiner Meinung nach wäre nichts dergleichen passiert, wenn ich nach dem Verlust unseres Babys meine Gefühle mit ihm geteilt und zugelassen hätte, dass er mich umsorgt.
Während all der Zeit mit Laurie, also praktisch mein ganzes Leben, seit ich erwachsen bin, war ich von anderen vorwiegend als seine Freundin und Partnerin wahrgenommen worden statt als ein selbstbestimmtes Individuum. Wir waren »Laurie und Sarah«. Nicht, dass er mich hatte bevormunden oder kontrollieren wollen, aber in unserer Beziehung gab es ganz einfach mehr von ihm als von mir. Er war älter, klüger, gebildeter und geselliger. Ich war ruhiger, schüchterner, weniger gebildet und durchaus glücklich, in seinem Kielwasser zu schwimmen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie ich ausgesehen oder mich verhalten, ja nicht einmal, wie meine Stimme geklungen hatte, als ich noch allein war, also ohne ihn. Laurie hatte sich immer um mich gekümmert, mir alle Entscheidungen abgenommen, doch nachdem unser Sohn tot zur Welt gekommen war, veränderte sich etwas. Ich wollte meine Gefühle nicht gemeinsam mit Laurie analysieren, ich wollte nur in Ruhe gelassen werden. Prompt hatte er sich von mir vernachlässigt gefühlt und bei Rosita Trost gesucht.
Ich war zu müde, um mich mit Laurie auseinanderzusetzen. Sizilien fühlte sich sicher an, weit weg. Mir war, als wäre ich in einer Blase eingeschlossen, und von mir aus konnte dieser Zustand für immer so bleiben.
fünf
D D och von einem Tag auf den anderen änderte sich plötzlich alles. Der männliche Hauptdarsteller des Films, dessen Dreharbeiten Neil begleitete, ein altgedienter Hollywoodschauspieler, brach am Set zusammen und musste ins Krankenhaus. Offiziell hieß es, er habe einen Hitzschlag erlitten, aber Neil hegte den Verdacht, dass es sich um etwas Schlimmeres handelte. Der Schauspieler wurde nach Amerika zurückgeflogen, die Dreharbeiten wurden auf Eis gelegt.
Das hieß, dass unsere Tage auf Sizilien gezählt waren. Mit einem Mal erschien mir die Insel noch verlockender als zu vor. Ich konnte den Gedanken, bald abreisen zu müssen, nicht ertragen.
An einem unserer letzten Abende beschlossen wir, zur Abwechslung mal im Hotel zu essen. May und ich stiegen gemeinsam die Treppe hinunter. Die Gartenterrasse, die man durch Glastüren betrat, wurde von Lichterketten und Windlichtern erleuchtet sowie von Kerzen, die in leeren bauchigen Weinflaschen auf den Tischen standen. Große, blasse Falter tanzten im Licht. Im nachtschwarzen Garten erstrahlte der illuminierte Pool in künstlichem Blau, und an der gegenüberliegenden Küste der Bucht blinkten die Lichter von verstreuten Villen und Gehöften wie Sterne. Einen Moment lang blieb ich stehen und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Mondlicht sickerte aufs Meer, ein kleines Boot tuckerte an der Küste entlang und warf im Licht einer Lampe Netze aus.
Neil wartete bereits an unserem Tisch auf uns. Als er uns sah, stand er lächelnd auf.
»Hallo, Liebes«, sagte er und ergriff die Hände meiner Schwester. Sie küssten sich ganz selbstverständlich, während ich auf meine Füße starrte.
Auch als sie sich voneinander lösten, schauten sie sich noch immer in die Augen, wie zwei Verliebte, die lange getrennt waren, und nicht wie ein verheiratetes Paar, das sich vor zwanzig Minuten zuletzt gesehen hat. Sie konnten nichts dafür, aber ich empfand ihre Vertrautheit als demütigend. Zum hundertsten Mal wünschte ich, ihre Zweisamkeit nicht zu stören, trotzdem war ich ihnen zugleich zutiefst dankbar für den Rettungsring, den sie mir zugeworfen hatten.
Als wir uns setzten, eilte sofort ein Kellner herbei und stellte einen Krug mit eisgekühltem Wasser, einen kleinen Weidenkorb mit Brot und eine Schüssel Oliven mit Kräutern auf unseren Tisch.
»Wie lief es heute?«, fragte ich Neil. »Hast du alles zu deiner Zufriedenheit erledigt?«
Copyright © 2011 Piper Verlag GmbH, München erschienen im Verlagsprogramm Pendo
Unser größtes Problem, jedenfalls von meiner Warte aus, war, dass Laurie mit meiner besten Freundin Rosita geschlafen hatte, und zwar in unserem Bett, und nicht nur einmal, sondern mehrmals. Was mir am meisten zu schaffen machte war nicht so sehr seine Untreue an sich, sondern die Tatsache, dass er seine Geliebte, meine Freundin, in unser gemeinsames Bett mitgenommen hatte, an unseren intimsten Ort. Hätten sie sich in irgendeinem anonymen Hotelzimmer getroffen, um schlicht und einfach zu vögeln, hätte es mich vielleicht nicht derart verletzt.
Ich stellte mir vor, wie er nach dem Sex noch ein wenig auf dem Bett liegen geblieben war, um ihr beim Anziehen zuzusehen, und wie er ihre nackten Schulterblätter betrachtet hatte, während sie mit den Händen nach hinten fasste, um den BH zu schließen. Wahrscheinlich begann er bereits in diesem Moment, Schuldgefühle zu haben, das würde Laurie ähnlich sehen. Bestimmt hatte er geduscht, nachdem Rosita gegangen war, um die Spuren seiner Untreue zu beseitigen. Dann hatte er das Bett gemacht, die Kissen glatt gestrichen, nach langen schwarzen Haaren gesucht, die Bettdecke aufgeschüttelt, umgedreht und geglättet und billigend in Kauf genommen, dass ich mich später am Abend auf dieselbe Stelle legte, wo er zuvor Rosita geliebt hatte.
Das konnte und würde ich ihm nie verzeihen.
Während ich also packte, flehte Laurie mich an zu bleiben. Dabei gab er mir die Schuld für seine Untreue, wenn auch indirekt, indem er durchblicken ließ, dass ich ihn so weit gebracht hätte. Er war völlig aufgelöst, und sein innerer Aufruhr spiegelte sich in seinen verzerrten Zügen wider. »Du warst in letzter Zeit so distanziert«, sagte er. »Ich konnte überhaupt nicht mehr zu dir durchdringen. «
Und ich erwiderte nur: »Glaub mir, Laurie, das war gewiss nicht die richtige Lösung.«
Ihm zufolge war Rosita nur eine Ablenkung gewesen, sozusagen Balsam für seine verletzte Seele, mehr nicht. Ein Symptom unserer vergifteten Beziehung, seit wir unser Kind verloren haben. Stets sprach er im Zusammenhang mit der Totgeburt unseres Kindes von »wir« und »uns«, um zu betonen, dass es sich um einen beiderseitigen Verlust handelte, unter dem wir beide litten, und keiner von uns trug Schuld oder Verantwortung dafür.
Natürlich sei es dumm von ihm gewesen, mit Rosita zu schlafen, hatte er gesagt, aber es bedeute ihm nichts. Ich erinnerte mich nicht mehr, ob ich etwas darauf geantwortet hatte. Stattdessen hallten immer dieselben Worte in meinem Kopf wider und drückten schmerzhaft gegen meine Stirn: Ja, aber du hast nicht einmal die Bettwäsche gewechselt, Laurie. Du hast sie in dasselbe Bett mitgenommen, in dem unser Kind gezeugt wurde, an unseren heiligen Ort, wo du jeden Abend deine Hand auf meinen Bauch gelegt hast, um sein Wachsen zu verfolgen, und wo wir zu ihm gesprochen haben. Und dann hast du zugelassen, dass ich mich in dieses Bett legte, in dem sie gelegen hatte. Du hast uns alle betrogen. Du hast gelogen, dein Körper hat gelogen, und du hast nicht mal die Bettwäsche gewechselt.
Ich ruderte ein wenig mit den Armen, um im sonnenbeschienenen Wasser zu kreisen. Meine Gedanken waren so schwer, dass sie mich niederdrückten. Obwohl ich auf dem Wasser umhertrieb, hatte ich das Gefühl, mein Körper sei bleischwer.
Es war heiß und ruhig in dem weitläufigen Garten. Das blendend weiße Hauptgebäude war terrassenartig in die Klippen hineingebaut, sodass jedes Zimmer auf die Bucht blickte. Dunkelblättrige Zitronenbäume, Palmen und stachlige Pflanzen in Terrakottatöpfen warfen Schattenmuster auf den Rasen. Ein Rasensprenger wässerte in gleichmäßigem Rhythmus die Beete. Im Schatten dösten Gäste auf ihren Liegen, und auf dem Gartenweg machte ein graues Kätzchen einen Satz, um eine Spinne zu erhaschen. Sogar der Mann hinter dem Tresen der Poolbar kämpfte mit dem Schlaf. Das Gesicht in die Hände gestützt, drohten ihm immer wieder die Augen zuzufallen. Auf der von Schlaglöchern übersäten Straße jenseits des Hotels fuhr knatternd ein Moped vorbei.
Die meisten Hotelgäste waren älter als ich; italienische und deutsche Touristen mit kurzen grauen Haaren und Sonnenbrillen, faltiger Brust und Kugelbauch. Ich tauchte unter Wasser, schwamm bis zum Ende des Beckens, wendete und schwamm wieder zurück.
Unter den Bäumen zog ein kleiner Junge seine Hose aus. Neben ihm saß ein Mann in Hawaiishorts und mit Sonnenbrille, die Ellbogen auf den gespreizten Knien, und blies einen Schwimmflügel auf. Bislang hatte ich noch keine Kinder hier gesehen, offensichtlich war es kein Hotel, das von jungen Familien frequentiert wurde.
Ich tauchte erneut unter, schwamm ein paar Züge, und plötzlich platschte und spritzte es; Wasser schwappte mir ins Gesicht. Ich drehte mich um und sah den Jungen, der mit hochgerecktem Kinn und orangefarbenen Schwimmflügeln an den Oberarmen wie ein Hund auf mich zupaddelte. Sein weizenblondes Haar war sehr kurz geschnitten, was seine Augen und Ohren übergroß, sein Gesicht dagegen zu klein wirken ließ. Schlieren von Sonnencreme leuchteten auf Nase und Wangen. Ich schwamm zu der Treppe am anderen Ende des Beckens, denn ich hatte keine Lust, den Pool gemeinsam mit einem Kind zu benutzen. Der Mann stand zögernd auf der zweiten Stufe. Irgendwo war ein Handy zu hören, dessen Klingelton die nachmittägliche Trägheit zerriss. Offensichtlich gehörte es dem Mann. Die anderen Gäste hoben, in ihrer Ruhe gestört, die Köpfe, schoben die Sonnenbrillen hoch und verzogen ärgerlich ihre Gesichter. Der Mann sah zwischen dem Kind und dem Handy auf seiner Liege hin und her. Dann blieb sein Blick an mir hängen.
»Könnten Sie bitte kurz auf den Kleinen aufpassen?«
Einen Moment lang zögerte ich, dann nickte ich halbherzig. Was blieb mir denn anderes übrig?
Der Mann bedankte sich mit einem Daumen-hoch-Zeichen und stieg aus dem Pool, die nassen Haare klebten an seinen Beinen. Ich schwamm zu dem Kind zurück, das sich ganz und gar auf seine Bewegungen konzentrierte.
»Hallo«, sagte ich.
»Hallo.«
Ihm schien meine Rolle als Aufpasserin genauso wenig zu gefallen wie mir. Einen Moment lang wusste ich nicht so recht, was ich sagen sollte, dann fragte ich: »Wer hat dir denn das Schwimmen beigebracht?«
»Ich brauche keine Schwimmflügel«, erwiderte er. Er lispelte ein wenig. Seine beiden mittleren Schneidezähne fehlten.
»Ach ja?«
»Mami hat gesagt, ich brauche keine, aber Dad will, dass ich sie trage.«
Der Junge sah zu seinem Vater hinüber, der das Handy angespannt ans Ohr presste.
»Wie heißt du?«
»Jamie.«
»Das ist ein hübscher Name. Und wie alt bist du?«
Der Junge sah mich an. Seine Augen waren von dem gleichen Blau wie die winzigen quadratischen Keramikfliesen, die den Pool säumten. Seine Iris waren blauschwarz umrandet, und an seinen Wimpern hingen Wassertropfen. Er hatte ein kleines, zartes Gesicht, fast wie ein Baby, doch sein Ausdruck glich in seiner Ernsthaftigkeit dem eines Erwachsenen.
»Sechs und dreiviertel.«
»Oh, wie schön.«
Ich fragte mich, ob mein Sohn ihm irgendwie ähnlich gewesen wäre, wenn er sechs und dreiviertel Jahre gelebt hätte. Gewiss wäre er dunkelhäutiger gewesen, aber weniger ernsthaft. Ich stellte mir meinen Sohn immer als sonniges, engelsgleiches Kind mit rosigen Wangen und klebrigen Fingern vor, das sich in meinen Armen wand, wenn ich es knuddelte und kitzelte, und sich gegen meine Küsse sträubte.
Nein, diesem Jungen wäre er bestimmt nicht ähnlich gewesen.
Jamie strampelte mit den Beinen im eisblauen Wasser und rief: »Schau!«
Er spreizte seine zarten Finger mit den muschelfarbenen Nägeln, legte die Hände flach auf die Wasseroberfläche und bewegte sie feierlich, als würde er Klavier spielen. Die Muster des Wassers, die Jamie auf diese Weise erzeugte, spiegelten sich im Sonnenlicht auf dem Boden wider. Die Lichtreflexe tanzten auf den Fliesen, kräuselten sich und bildeten Blumengirlanden, Spiralen und Kreise. Jamie verwandelte den Boden des Pools in ein Kaleidoskop. Ich sah ihm zu, wie er mich gebeten hatte, und nach einer Weile blickte er erwartungsvoll zu mir auf. Offensichtlich wollte er von mir gelobt werden.
»Das ist toll. Wer hat dir das gezeigt?«
»Mami.«
»Und wo ist deine Mutter jetzt? Ruht sie sich aus?«
Jamie schüttelte den Kopf. Seine Augen wirkten im hellen Licht glasig, und die mit Sommersprossen übersäte blasse Haut auf seiner Nase und seinen Wangen zeigte die Anzeichen eines beginnenden Sonnenbrands. Er stieß einen leisen Seufzer aus, als hätte er es satt, Fragen zu beantworten, wäre es leid, überhaupt gefragt zu werden.
»Mami ist weggegangen«, sagte er schließlich, und so, wie er die Worte betonte, war mir klar, dass sie nicht mal eben einkaufen oder aufs Zimmer gegangen war, sondern für immer.
Zwei
Nachdem er sein Telefonat beendet hatte, gesellte sich Jamies Vater zu uns in den Pool. Er hatte seine Sonnenbrille abgenommen und blinzelte im Sonnenlicht, sodass seine Wimpern die tief sitzenden braunen Augen verbargen. Sein langes schwarzes Haar reichte ihm bis zu den Schultern. Er hatte sich seit mehreren Tagen nicht rasiert, seine Haut war fahl, als wäre er gerade erst von einer Krankheit genesen. Etwas stimmte nicht mit ihm, er hatte etwas von einem Gejagten an sich und gleichzeitig etwas von einem Jäger. Als er neben mir auftauchte, wich ich unwillkürlich ein Stück zurück.
»Danke«, sagte er.
»Gern geschehen.«
»Hören Sie ...«, sagte er, und ich begann gleichzeitig zu sprechen: »Also ...« Wir mussten beide über unsere Unbeholfenheit lächeln.
»Ich heiße Alexander, Alex.«
»Sarah.«
Weil mir nichts anderes einfiel und ich auch keine Neigung verspürte, den Pool mit anderen Menschen zu teilen, zuckte ich die Schultern und sagte: »Gut, ich muss jetzt raus.«
»Okay.«
Ich war erleichtert, dass er nicht versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Mir graute vor höflichen Fragen zu meiner Person und davor, lügen zu müssen, denn eine ehrliche Antwort hätte meine Gesprächspartner unweigerlich in Verlegenheit gebracht. So viel verbergen zu müssen beschämte mich. Und ich fühlte mich irgendwie beschmutzt und zog es vor, in Ruhe gelassen zu werden.
Während ich zur Treppe schwamm, spürte ich die Blicke von Vater und Sohn auf meinem Rücken. Ich stieg die Stufen empor und ging zu der Duschvorrichtung, die sich über einem Lattenboden befand. Ich legte den Kopf in den Nacken und ließ mir das saubere Wasser durch die Haare rinnen, während ich die warmen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht genoss. Als ich den Kopf wieder aufrichtete und die Augen öffnete, bemerkte ich, wie er mich beobachtete, während Jamie im Wasser herumspritzte. Alexanders Miene war ausdruckslos. Lichtreflexe von Sonnenstrahlen, die sich auf dem Wasser brachen, tanzten auf seinen Wangen und dem Kinn. Einen Moment lang verharrte ich, die Hände in den Haaren, um ihn ebenfalls anzusehen, während er meinem Blick standhielt. Warum starrte er mich so an? Spürte er, dass mit mir etwas nicht stimmte?
Ich wandte mich ab, um mein Haar auszuwringen und mir das hoteleigene gelbe Handtuch umzuwickeln, das über dem Zaun neben der Dusche hing. Dann ergriff ich mein Portemonnaie, das ich unter dem Handtuch versteckt hatte, und überquerte den Rasen in Richtung Bar. Im selben Moment, als ich an Alexanders Liege vorbeikam, klingelte erneut das Handy. Ich konnte den Namen des Anrufers auf dem Display lesen: Raul. Neben der Liege lag mit dem Gesicht nach unten ein kleiner blauer Teddybär. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben, und setzte ihn, mit dem Rücken an einen Kleiderhaufen gelehnt, ins Gras, sodass er zum Pool blickte.
Am Tresen bat ich den Barkeeper um ein Glas Limonade und nahm sie mit an einen schattigen Tisch. Neben mir huschte eine kleine Eidechse die Mauer empor und hielt regungslos auf meiner Augenhöhe inne. Es war ein hübsches kleines Ding, dessen Zehenballen wie Pailletten an der weiß getünchten Mauer hafteten. Ich spähte durch die Hecke, die den Hotelgarten zum Meer hin begrenzte. Tiefblauer Himmel wölbte sich über der Bucht, und in der Ferne konnte ich die Küstenlinie des Festlandes erkennen. Ich versuchte, mich in den Anblick der Farben und der Weite zu verlieren, wurde jedoch von Jamies Schwimmübungen im Pool abgelenkt und von der Stimme seines Vaters, der ihm zurief, er möge herauskommen.
Auf dem Rückweg zu meiner Liege musste ich abermals an Vater und Sohn vorbei. Alexander rubbelte mit einem Handtuch Jamies Haare trocken, dabei jammerte der Junge, er solle nicht so grob sein. Zitternd schlang er seine dünnen Ärmchen um die Brust. Alexander hatte seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, wohl aber seinen geschmeidigen, muskulösen Rücken und die mit schwarzen Haaren bedeckten Arme. Unter dem einen Arm, direkt unter dem Rippenbogen, prangte eine noch nicht ganz verheilte rötliche Narbe mit ausgefransten Rändern.
Ich drehte ihnen den Rücken zu, um mein Strandkleid über meinem feuchten Bikini überzuziehen, und packte meine Tasche zusammen. Dann schlüpfte ich in die Sandalen und folgte dem Plattenweg, der zum Hoteleingang führte. Mit erhobenem Kopf, und ohne mich umzublicken, betrat ich die klimatisierte Lobby.
Drei
Zurück in meinem Zimmer, legte ich mich bäuchlings aufs Bett. Ich setzte meine Brille auf, um mir im Fernsehen irgendeine italienische Spielshow anzusehen. Aber ich war so müde. So elend müde.
Ich muss eingeschlafen sein, denn als es an der Tür klopfte, wusste ich zunächst nicht, wo ich mich befand. Einen schwindeligen Moment lang wähnte ich mich noch im Krankenhaus, wo ich gerade aus der Narkose erwacht war, und glaubte, dass alles nur ein böser Traum gewesen sei. Vielleicht würde ja, wenn ich jetzt die Augen aufmachte, ein Baby mit dunklen Haaren in einem Kinderbettchen neben mir liegen, an seinem Fäustchen saugen und mich anschauen. Mein Herzschlag raste bei diesem Gedanken. Ich spürte einen Funken Hoffnung in mir aufsteigen und gleichzeitig das Gefühl von Panik, dass es eben doch nicht so war.
Ich rollte mich auf die Seite und öffnete die Augen. Als ich die Wandfarbe des Hotelzimmers und das in Gold gerahmte Stillleben erkannte, hatte ich Mühe, meine Enttäuschung zu unterdrücken.
Wieder ein Klopfen, etwas lauter diesmal.
Ich kletterte aus dem Bett und bemühte mich, meinem Gesicht einen entspannten Ausdruck zu verleihen, bevor ich die Tür öffnete. Es war May, meine wundervolle Schwester, frisch geduscht und hübsch zurechtgemacht. Sie roch nach Shampoo und Babypuder. Als sie mich ansah, huschte ein Anflug von Besorgnis über ihr Gesicht. Ich versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, aber es gelang mir nicht recht.
»Ach, du bist noch nicht fertig?«, fragte sie.
Mein Blick wanderte an mir hinab. Noch immer war der feuchte Abdruck meines Bikinis auf meinem Strandkleid zu sehen.
May streckte die Hand aus und fuhr mit dem Handrücken über mein Haar. »Alles in Ordnung mit dir, Sarah?«
»Ja.« Ich nickte energisch. »Ich muss wohl eingeschlafen sein.«
»Du hast noch Falten vom Kissen im Gesicht.«
»Puh, tut mir leid.«
»Ach was, macht doch nichts!«, sagte May.
Sie trug ein hauchdünnes blassgrünes Top zu einer weißen Jeans, die einen Tick zu eng saß.
»Du siehst bezaubernd aus, May. Ist schon Zeit fürs Abendessen?«
»Wir haben für acht ein Taxi bestellt, erinnerst du dich? Weil wir vor dem Abendessen noch einen Aperitif im Ort trinken wollten.«
»Ach ja. Und wie spät ist es jetzt?«
»Viertel vor acht. Aber keine Sorge. Neil ist schon nach unten gegangen, und wenn der Fahrer nicht warten möchte, nehmen wir eben ein anderes Taxi. Zieh dich in Ruhe an.«
May ging zum geöffneten Fenster hinüber und betrachtete den malerischen Sonnenuntergang über dem Meer. Man konnte hören, wie sich die Wellen weit unten an den Klippen brachen. Ich öffnete den Schrank und nahm ein marineblaues knöchellanges Kleid heraus. Im Spiegel auf der Innenseite der Schranktür konnte ich sehen, dass May mich beobachtete. Sie fuhr sich mit der Fingerspitze über die Unterlippe, wie immer, wenn sie sich Sorgen machte.
»Du hast wieder an das Baby gedacht, stimmt's?«
»Nein, ich habe nur geträumt, ganz einfach.«
»Ist etwas passiert?«
»Nein.«
»Du hast nicht mit Laurie telefoniert?«
»Nein.«
Ich streifte das feuchte Kleid über den Kopf und drapierte es zum Trocknen über das Bettgestell.
»Hat er dir keine SMS geschickt? Ich dachte, dass er dir vielleicht schreiben würde. Ich weiß, du hast ihm zwar gesagt, er soll dich in Ruhe lassen, aber ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er hat keine SMS geschickt. «
Ich drehte mich um, um den Bikini auszuziehen, und schlüpfte in das blaue Kleid.
»Wie auch immer, jedenfalls siehst du besser aus«, sagte May betont fröhlich, und mir war sofort klar, dass das Gegenteil der Fall war.
»Es geht mir gut.«
»Sarah ...«
»Wirklich, es geht mir gut.«
»Ich hätte dich heute Nachmittag nicht allein lassen sollen. Ich hätte bei dir bleiben sollen.«
Ich zupfte am Kleid herum, bis es richtig saß.
»Ganz im Gegenteil, ich war froh, dass du mich mal allein gelassen hast. Es war schön am Pool. Ich bin geschwommen und habe mich gesonnt. Außerdem habe ich Engländer am Pool getroffen.«
»Ach ja?«
»Einen Mann und seinen kleinen Jungen.«
Augenblicklich spürte ich Mays Anspannung. Ich wusste, was sie dachte: dass dieser Mann mit seinem Kind mich daran erinnert hat, was ich alles verloren habe. Und obwohl es aus lauter schwesterlicher Fürsorge war, hasste ich es doch, der Grund für ihre Besorgnis zu sein. Schnell redete ich weiter, als wäre mir die Parallelität zu meiner Situation gar nicht in den Sinn gekommen. »Der Junge ist fast sieben. Ich habe ein paar Minuten lang im Pool auf ihn aufgepasst, während sein Vater auf dem Handy telefoniert hat. Er heißt Jamie, der Junge, meine ich.«
»Und was ist mit seiner Mutter? Hast du sie auch kennengelernt? «
»Nein, sie war nicht bei ihnen. Jamie hat gesagt, sie sei weggegangen.«
»Wahrscheinlich besucht sie Freunde«, sagte May, »oder muss arbeiten, während die beiden Urlaub machen.«
»Möglich.«
May trat einen Schritt zurück, um mich in Augenschein zu nehmen.
»Du hast einen leichten Sonnenbrand«, sagte sie. Sie griff nach ihrer Tasche, kramte darin herum und reichte mir einen Tiegel mit einer teuren After-Sun-Creme, die sie im Duty-free-Shop am Flughafen gekauft hatte. »Nimm die.«
Gehorsam schraubte ich den Deckel auf und tauchte die Fingerspitzen in die Lotion. Sie war kühl und roch süßlich. Ich massierte sie sanft in meine erhitzte Gesichtshaut, vor allem auf die trockenen Augenpartien. Wieder versuchte ich, May ein Lächeln zu schenken, und diesmal schien es mir besser zu gelingen als zuvor, denn sie lächelte zurück.
»Nein, ich hätte dich nicht allein lassen sollen«, sagte sie sanft.
Vier
Die nächsten Tage vergingen langsam. Tagsüber hielten May und ich uns auf dem Hotelgelände auf. Am liebsten hätte ich die ganze Zeit unter den Bäumen beim Pool verbracht, aber May wurde nachmittags die Hitze zu viel. Da sie mich nicht allein lassen wollte, folgte ich ihr ins Hotel, wenn sie zu schnaufen und stöhnen begann.
Im viel zu kühl klimatisierten Speiseraum aßen wir Fisch, Oliven und Tomatensalat und setzten uns dann in die Liegesessel auf der Terrasse, um dem italienischen Tenor zu lauschen, der über die Stereoanlage herzzerreißende Liebeslieder schmetterte. Wir nippten an unserem eisgekühlten Wasser, schlugen nach den Fliegen und plauderten über dieses und jenes.
Am späten Nachmittag, wenn die Hitze ein wenig nachließ, folgten May und ich einem steilen Pfad, der sich durch die Klippen hinter dem Hotel schlängelte. Eingebettet zwischen zwei hüfthohen Mauern aus verwittertem Vulkanfelsen, in dessen Ritzen und Spalten hie und da ein paar kümmerliche silbrige oder lavendelfarbene Pflanzen wuchsen, führte er zu der kleinen hoteleigenen Bade- bucht hinab. Ein breiter Holzsteg ragte aus dem Felsen über das blaugrüne Meer hinaus. Im Wasser wimmelte es von Fischen. Ich liebte es, am Rand des Stegs zu sitzen und die Beine im kühlen Wasser baumeln zu lassen, während ich das schillernde Spiel der Sonnenstrahlen betrachtete, die auf den Wellen tanzten. Ich mochte den Geruch des Meeres und die erfrischende Brise. Während May auf einem Handtuch lag und in einem Buch las, ließ ich den Blick zur Küste auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht schweifen. An klaren Tagen konnte ich sogar Bäume und Häuser am jenseitigen Ufer ausmachen; an anderen Tagen wiederum trübte die flirrende Hitze über dem Wasser die Sicht.
In dieser kleinen Bucht war es so friedlich. Ich musste mit niemandem reden, keine Erklärungen abgeben und geriet auch weniger ins Grübeln.
Neil, Mays Mann, arbeitete als Dokumentarjournalist für die in Manchester ansässige Nachrichten- und Featureagentur NWM. Er sollte ein Feature über die Dreharbeiten eines Films machen, die auf Sizilien stattfanden, und May und er hatten mir angeboten, sie zu begleiten. Derart aus der Bahn geworfen, hatte ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt und meine Entscheidung keine Sekunde lang bereut: Ich wusste nicht, wo ich lieber hätte sein wollen. Zu Hause jedenfalls nicht.
Wäre ich zu Hause geblieben, hätte dies endlose Gespräche, Diskussionen und Erklärungen mit sich gebracht. Oder mit anderen - nämlich in Lauries - Worten, wir hätten die meiste Zeit damit verbracht, das Kernproblem unserer Beziehung zu analysieren. Ich wusste, dass er unter einer Mischung aus Schuldgefühlen und Enttäuschung litt, die sich in einem unaufhörlichen Strom versteckter Vorwürfe mir gegenüber Luft gemacht hätte. Unterschwellige Wut, die sich als Besorgnis tarnte. Denn seiner Meinung nach wäre nichts dergleichen passiert, wenn ich nach dem Verlust unseres Babys meine Gefühle mit ihm geteilt und zugelassen hätte, dass er mich umsorgt.
Während all der Zeit mit Laurie, also praktisch mein ganzes Leben, seit ich erwachsen bin, war ich von anderen vorwiegend als seine Freundin und Partnerin wahrgenommen worden statt als ein selbstbestimmtes Individuum. Wir waren »Laurie und Sarah«. Nicht, dass er mich hatte bevormunden oder kontrollieren wollen, aber in unserer Beziehung gab es ganz einfach mehr von ihm als von mir. Er war älter, klüger, gebildeter und geselliger. Ich war ruhiger, schüchterner, weniger gebildet und durchaus glücklich, in seinem Kielwasser zu schwimmen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie ich ausgesehen oder mich verhalten, ja nicht einmal, wie meine Stimme geklungen hatte, als ich noch allein war, also ohne ihn. Laurie hatte sich immer um mich gekümmert, mir alle Entscheidungen abgenommen, doch nachdem unser Sohn tot zur Welt gekommen war, veränderte sich etwas. Ich wollte meine Gefühle nicht gemeinsam mit Laurie analysieren, ich wollte nur in Ruhe gelassen werden. Prompt hatte er sich von mir vernachlässigt gefühlt und bei Rosita Trost gesucht.
Ich war zu müde, um mich mit Laurie auseinanderzusetzen. Sizilien fühlte sich sicher an, weit weg. Mir war, als wäre ich in einer Blase eingeschlossen, und von mir aus konnte dieser Zustand für immer so bleiben.
fünf
D D och von einem Tag auf den anderen änderte sich plötzlich alles. Der männliche Hauptdarsteller des Films, dessen Dreharbeiten Neil begleitete, ein altgedienter Hollywoodschauspieler, brach am Set zusammen und musste ins Krankenhaus. Offiziell hieß es, er habe einen Hitzschlag erlitten, aber Neil hegte den Verdacht, dass es sich um etwas Schlimmeres handelte. Der Schauspieler wurde nach Amerika zurückgeflogen, die Dreharbeiten wurden auf Eis gelegt.
Das hieß, dass unsere Tage auf Sizilien gezählt waren. Mit einem Mal erschien mir die Insel noch verlockender als zu vor. Ich konnte den Gedanken, bald abreisen zu müssen, nicht ertragen.
An einem unserer letzten Abende beschlossen wir, zur Abwechslung mal im Hotel zu essen. May und ich stiegen gemeinsam die Treppe hinunter. Die Gartenterrasse, die man durch Glastüren betrat, wurde von Lichterketten und Windlichtern erleuchtet sowie von Kerzen, die in leeren bauchigen Weinflaschen auf den Tischen standen. Große, blasse Falter tanzten im Licht. Im nachtschwarzen Garten erstrahlte der illuminierte Pool in künstlichem Blau, und an der gegenüberliegenden Küste der Bucht blinkten die Lichter von verstreuten Villen und Gehöften wie Sterne. Einen Moment lang blieb ich stehen und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Mondlicht sickerte aufs Meer, ein kleines Boot tuckerte an der Küste entlang und warf im Licht einer Lampe Netze aus.
Neil wartete bereits an unserem Tisch auf uns. Als er uns sah, stand er lächelnd auf.
»Hallo, Liebes«, sagte er und ergriff die Hände meiner Schwester. Sie küssten sich ganz selbstverständlich, während ich auf meine Füße starrte.
Auch als sie sich voneinander lösten, schauten sie sich noch immer in die Augen, wie zwei Verliebte, die lange getrennt waren, und nicht wie ein verheiratetes Paar, das sich vor zwanzig Minuten zuletzt gesehen hat. Sie konnten nichts dafür, aber ich empfand ihre Vertrautheit als demütigend. Zum hundertsten Mal wünschte ich, ihre Zweisamkeit nicht zu stören, trotzdem war ich ihnen zugleich zutiefst dankbar für den Rettungsring, den sie mir zugeworfen hatten.
Als wir uns setzten, eilte sofort ein Kellner herbei und stellte einen Krug mit eisgekühltem Wasser, einen kleinen Weidenkorb mit Brot und eine Schüssel Oliven mit Kräutern auf unseren Tisch.
»Wie lief es heute?«, fragte ich Neil. »Hast du alles zu deiner Zufriedenheit erledigt?«
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Autoren-Porträt von Lesley Turney
Turney, LesleyLesley Turney arbeitet als Texterin und lebt mit ihren drei Söhnen und ihrem Partner in Bath, einer historischen Stadt in der Grafschaft Somerset, deren heiße Quellen bereits zur Römerzeit genutzt wurden. Nach »Die fremde Frau«, »Das Dornenhaus« und »Das Flüsterhaus« ist »Das Haus der leeren Zimmer« ihr vierter Roman bei Piper.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lesley Turney
- 2013, 480 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Köpfer, Monika
- Übersetzer: Monika Köpfer
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492301479
- ISBN-13: 9783492301473
- Erscheinungsdatum: 15.01.2013
Rezension zu „Die fremde Frau “
"Sehr spannendes Lesefutter.", Böhme Zeitung, 13.02.2013 20151120
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