Die gelöschte Welt
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die "Große Löschung" hat alle Informationen auf der Welt vernichtet. Die Zivilisation ist beinahe vollständig zerstört. Die Überlebenden scharen sich um die Jorgmund Pipeline, ein gigantisches Röhrensystem, das einen...
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Produktinformationen zu „Die gelöschte Welt “
Die "Große Löschung" hat alle Informationen auf der Welt vernichtet. Die Zivilisation ist beinahe vollständig zerstört. Die Überlebenden scharen sich um die Jorgmund Pipeline, ein gigantisches Röhrensystem, das einen lebenswichtigen Stoff verbreitet. Doch jetzt steht die Pipeline in Flammen. Gonzo Lubitsch, Problemlöser für alle Fälle, wird engagiert, um das Feuer zu löschen. Hinter dem Brand und der Pipeline steckt jedoch weit mehr, als Gonzo ahnen kann. Sein Auftrag führt ihn in die Vergangenheit der zerstörten Welt, in apokalyptische Kriege und Zeiten der Liebe und des Verlusts, zu Politikern, Piraten und ins dunkle Herz der geheimnisvollen Jorgmund Company ...Nick Harkaways Debüt ist definitiv das ungewöhnlichste Abenteuer unserer Zeit.
Klappentext zu „Die gelöschte Welt “
Die »Große Löschung« hat alle Informationen auf der Welt vernichtet. Die Zivilisation ist beinahe vollständig zerstört. Die Überlebenden scharen sich um die Jorgmund Pipeline, ein gigantisches Röhrensystem, das einen lebenswichtigen Stoff verbreitet. Doch jetzt steht die Pipeline in Flammen. Gonzo Lubitsch, Problemlöser für alle Fälle, wird engagiert, um das Feuer zu löschen. Hinter dem Brand und der Pipeline steckt jedoch weit mehr, als Gonzo ahnen kann. Sein Auftrag führt ihn in die Vergangenheit der zerstörten Welt, in apokalyptische Kriege und Zeiten der Liebe und des Verlusts, zu Politikern, Piraten und ins dunkle Herz der geheimnisvollen Jorgmund Company Nick Harkaways Debüt ist definitiv das ungewöhnlichste Abenteuer unserer Zeit.
Lese-Probe zu „Die gelöschte Welt “
Die gelöschte Welt von Nick Harkaway1
Wie alles begann • Schweine und Krisen •
Begegnung mit dem Management
Um kurz nach neun ging in der Bar ohne Namen das Licht aus.
Ich hatte mich über den Pooltisch gebeugt und vor der Anstoßlinie eine Hand auf den hellen Fleck gestützt, der, wie der Wirt Flynn behauptete, von verschüttetem Bier stammte, obwohl er nach Form und Umriss eher Mrs Flynns Hinterteil glich: knapp einen Meter breit und so üppig gerundet wie der Querschnitt eines Apfels. Die Neonröhre über dem Tisch erlosch und flammte wieder auf, das Kühlregal mit der Glastür gab ein tiefes, verunsichertes Brummen von sich. Noch ein elektrisches Knistern, und dann war es dunkel. Im Fernseher auf dem Brett leuchtete schwach die statische Aufladung, gleich darauf ging über der Tür die grüne Lampe an, die den Notausgang markierte.
Ich ließ mich auf dem Abdruck von Mrs Flynns Hinterteil nieder und spielte trotzdem meinen Stoß. Die weiße Kugel lief flüsternd über das Tuch, prallte von zwei Banden ab und beförderte die Acht sauber in ein Mittelloch. Puff, puff, klack. Perfekt.
Allerdings hatte ich auf die Sechs gezielt. Damit hatte ich gegen Jim Hepsobah verloren, und sobald der Strom wieder da war und in der Bar ohne Namen alles wie immer seinen geregelten Gang ging, würde ich das Queue an meinen heldenhaften Kumpel Gonzo weiterreichen, den Jim dann ebenfalls schlüge. Jeden Augenblick musste es so weit sein.
Dummerweise ging aber das Licht nicht wieder an, und irgendwann verblasste auch das Geisterbild auf dem Fernseher. Es gab eine kurze Stille – die Sorte von Stille, die einen aus irgendeinem Grund einen Moment lang traurig macht und schnell wieder vorüber ist. Dann ging Flynn nach hinten raus. Er fluchte wie ein Fuhrknecht, aber falls jemals ein Fuhrknecht Flynn begegnen würde und falls sie
... mehr
sich gegenseitig beschimpfen würden – so eine Art High Noon mit Flüchen –, dann wüsste ich genau, auf wen ich mein Geld zu setzen hätte.
Flynn startete den Generator, der, Gott helfe mir, mit Schweinen betrieben wurde. Vier große, stinkende Wüstenschweine protestierten, als er sie über Joche mit einem Göpelwerk verband. Die Viecher machten einen Lärm wie ein kleiner Kavallerieangriff. Schließlich deckte Flynn das vorderste Schwein mit einigen seiner abscheulichsten Verwünschungen ein. Das Tier machte schon Anstalten, sich zu übergeben, dann aber schoss es los. Gezwungenermaßen folgten ihm die anderen und wanderten langsam, aber stetig um das Göpelwerk herum. Nach der ersten Runde bemerkte das Schwein Flynn, der gerade zur nächsten Tirade ausholte, und wollte stehen bleiben.
Da es mit seinen drei Kollegen am Joch hing, konnte es aber nicht anhalten, also bewegte es seinen Speck etwas schneller und rannte mit schweinischer Höchstgeschwindigkeit an Flynn vorbei. So beschleunigte das Göpelwerk, bis der Generator mit einem grunzenden oder quiekenden Geräusch ansprang. Der Fernsehbildschirm leuchtete auf, und wir hörten die schlechten Nachrichten.
Oder vielmehr, er ging nicht richtig an, denn das Bild war so düster, dass man meinen konnte, der Apparat wäre kaputt. Wir sahen eine Art Feuerwerk und hörten erschrockene und ängstliche Schreie. Es war sehr leise, bis Sally Culpepper mit einiger Verspätung auf die Idee kam, den Ton aufzudrehen. Das Bild bebte und schwankte, Männer rannten vorbei und riefen: »Haut ab hier !«, »Verschwindet !« oder »Verdammte Scheiße, hast du das gesehen ?«, was nicht einmal mit einem Piepston überspielt wurde. Es sah so aus, als wälzte sich in mittlerer Entfernung jemand auf dem Boden. Irgendwo in der Welt lief etwas schrecklich schief, und natürlich war ein Affe mit einer Kamera in der Nähe, der lieber zehntausend Dollar die Stunde an Gefahrenzulage kassierte, als sich die verdammten Ärmel hochzukrempeln, um ein paar Leuten das Leben zu retten. Ich kannte einen Typ, der während der Großen Löschung genau das getan hatte. Er hatte seine kostbare Digi-VII-Kamera in einen Latrinengraben geschmissen und sechs Zivilisten und einen Sergeant aus einem brennenden Krankenwagen geholt. Zu Hause hatte er von der Queen die Ehrenmedaille und von seinem Arbeitgeber die Papiere bekommen.
Jetzt sitzt er in einer Anstalt. Er heißt Micah Monroe, und jeden Tag kommen zwei Kameraden vom Veteran’s Hospital vorbei, nehmen ihn auf einen Spaziergang mit und achten dar auf, dass die Medaille ordentlich poliert im Etui auf dem Nachttisch steht. Harry und Hoyle sind reizende alte Knacker, die selber auch Auszeichnungen erhalten haben und der Ansicht sind, dies sei das Mindeste, was sie für einen Mann tun können, der sich über alles hinweggesetzt und dabei den Verstand verloren hat. Harrys Sohn war auch in diesem Krankenwagen. Er gehörte aber zu denen, die Micah nicht mehr retten konnte.
Wir starrten den Bildschirm an und rätselten herum, was dort gezeigt wurde. Im ersten Augenblick sah es aus, als würde das Jorgmund-Rohr brennen, was aber ungefähr das Gleiche bedeutet hätte, als würde jemand behauptet haben, ihm sei der Himmel auf den Kopf gefallen. Diese Leitung war das stabilste Bauwerk auf der ganzen Welt – dreifach redundant, kompromisslos auf Sicherheit ausgelegt und einzigartig. Zuerst hatten wir es schnell hingepfuscht, weil es nicht anders ging, und danach hatten wir es unzerstörbar gemacht. Die Besten hatten die Pläne gezeichnet, woraufhin die Allerbesten sie mehrfach überprüft hatten. Dann hatte man die Prüfer selbst unter die Lupe genommen, ob irgendwo Sabotage, Märtyrertum oder vielleicht einfach nur ein bislang unerkannter Fall von Dummheit im Spiel wären, und schließlich hatten sich die Baufirmen an die Arbeit gemacht. Dabei waren Gründlichkeit und die Einhaltung der Pläne wichtiger gewesen als die rasche Vollendung.
Betrügern und Halsabschneidern hatten derart drastische Strafen gedroht, dass es für sie angenehmer gewesen wäre, sich von einem Hochhaus zu stürzen. Zu guter Letzt waren die Materialprüfer und Katastrophenexperten mit Hämmern, Sägen, Blitzgeneratoren und Torsionstests darüber hergefallen und hatten den Bau für sicher erklärt. Jeder in der Lebenszone wollte ihn erhalten und schützen. Es war absolut ausgeschlossen und einfach unvorstellbar, dass er brennen konnte.
Dennoch brannte es lichterloh, das Rohr glühte sogar weiß auf. Wie Magnesium. Wie der Bauch einer Leiche. Ein Übelkeit erregendes Weiß. Daneben waren Gebäude und Zäune zu sehen, was bedeutete, dass es nicht nur die Leitung getroffen hatte, sondern etwas noch Wichtigeres, vielleicht ein Pumpwerk oder eine Raffinerie. Überall wallte heißer, fettig schimmernder Rauch, und im Herzen des Brandes passierten Dinge, mit denen das menschliche Auge nichts anfangen konnte. Verrückte, gefährliche Dinge, die mit Lauten untermalt waren, die von panischen Menschen stammten. Irgendetwas Wichtiges ging auf dem Bildschirm in Rauch und Flammen auf.
»Verdammter Mist«, sagte Gonzo William Lubitsch und sprach damit aus, was alle dachten.
Es war ein komisches Gefühl. Wir beobachteten – wieder einmal – das Ende der Welt und sahen Dinge, die wir lieber nicht gesehen hätten, aber gleichzeitig verhieß uns dies auch Ruhm, Reichtum und so ziemlich alles, was wir von einem dankbaren Publikum je erwarten konnten. Wir betrachteten gewissermaßen, was unsere Daseinsberechtigung ausmachte.
Denn das da auf dem Bildschirm war ein Feuer, zugleich aber auch ein toxisches Ereignis der schlimmsten Art, und wir, meine Damen und Herren, wir konnten uns bei den Händen fassen, denn wir waren die Haulage & Hazmat Emergency Civil Freebooting Company of Exmoor County mit Hauptsitz in der Bar ohne Namen. Unsere Geschäftsführerin war Sally J. Culpepper, und so einen Brand zu bekämpfen, war genau die Sache, die wir besser konnten als jeder andere in der ganzen Lebenszone und somit auf der ganzen Welt. Sally sprach sofort mit Jim Hepsobah und dann mit Gonzo, schrieb Listen und gab Befehle. Flynn, der Wirt, beauftragte sie, seinen hochkarätigen Espresso zu kochen, und inzwischen hatte sich sogar Mrs Flynn von ihren eingebauten Sitzkissen erhoben, um mit bemerkenswerter Geschwindigkeit ihre Vorkehrungen zu treffen: Leichenanhänger vorbereiten und Briefe an die Angehörigen, Enterbten und alle anderen entwerfen, die für uns alle in der dicken Luft der Bar ohne Namen irgendwie von Bedeutung waren. Unterdessen rannten wir hin und her und stießen gegeneinander, weil wir noch nichts zu tun hatten. Der Tumult und Krawall dauerte an, bis Sally auf den Pooltisch stieg und uns sagte, wir sollten den Mund halten und wieder zu uns kommen. Sie hob ihr Handy, als wäre es der Knochen eines Heiligen.
Sally Culpepper war einsachtzig groß und bestand überwiegend aus Beinen. Auf dem rechten Schulterblatt hatte sie eine Tätowierung. Eine Orchidee, gestaltet von einem Kerl, an dem ein Michelangelo verloren gegangen war. Sie hatte einen Erdbeermund, milchweiße Haut und Sommersprossen auf der Nase, die nach einer Kneipenschlägerei in Lissabon renoviert worden war. Gonzo behauptete, er hätte mal mit ihr geschlafen, und sie hätte die langen Beine um seine Hüften geschlungen wie Pythonschlangen aus italienischem Kalbsleder. Danach wäre er dann halb tot gewesen und hätte bis über beide Ohren gegrinst. Es sei eines Abends nach einem großen Job passiert, das Bier sei in Strömen geflossen, und alle hätten vor Freude über ihren Erfolg wie Honigkuchenpferde gestrahlt. Es sei zu der Zeit gewesen, als Jim und Sally noch so getan hatten, als wären sie nicht zusammen, und bevor sie sich ins Unvermeidliche geschickt hatten und zusammengezogen waren.
Immer wenn wir uns trafen, ich und Gonzo, Sally und Jim und die anderen, grinste Gonzo sie lüstern an und fragte nach ihrer anderen Tätowierung, worauf Sally Culpepper nur geheimnisvoll lächelte, was bedeutete, dass sie nichts dazu sagen würde. Vielleicht hatte er diese andere Tätowierung gesehen, vielleicht auch nicht. Jim Hepsobah tat dann immer so, als hätte er es nicht gehört, weil er Gonzo wie einen Bruder liebte. Wenn man jemanden so liebt, kann man trotzdem erkennen, dass er manchmal ein Arschloch ist, aber es stört einen dann nicht. Wir alle mochten Sally Culpepper, die uns mit ihren durchsichtigen Wimpern und dem Engelsgesicht regierte – und mit ihren schlanken Armen, die wie ein Dampfhammer Kinnhaken austeilen konnten. Nun stand sie da, und wir bemühten uns, einigermaßen ruhig und aufmerksam zu bleiben, denn wenn der Anruf kam, dann kam er über ihr Handy. Sie hatte hier den besten Empfang, und genau deshalb war die Bar ohne Namen auch unser Firmensitz.
Also hörten wir auf, nach verlorenen Socken und Rucksäcken zu suchen und uns darüber zu sorgen, wir könnten noch den Startschuss verpassen, und ließen uns an Mrs Flynns Futternäpfen nieder. Nach einer Weile begannen wir dann doch wieder leise zu schwatzen und redeten über kleine häusliche Aufgaben wie etwa Abwasserkanäle zu säubern und Fledermäuse vom Dachboden zu verjagen. Wenn das Telefon klingelte, was jetzt jeden Augenblick passieren konnte, würden wir losziehen und vor der ganzen Welt als Helden dastehen. Das mochte Gonzo ganz besonders, und notgedrungen war ich ab und zu dabei. Bis es aber losging, hielten wir uns zurück. Dann wurde es in der Bar ohne Namen wieder ganz still. In kleinen Gruppen und einer nach dem anderen verstummten wir, während wir eine grauenhafte Erscheinung beobachteten. Ein kleines Kind, das einen mit Rotz bekleckerten und auch sonst nicht mehr ganz neuwertigen Teddybär herumschleppte, kam wichtig in den Raum hereinmarschiert, betrachtete uns mit strengem Blick und wandte sich an die Wirtin Flynn, um mit der Beweisaufnahme zu beginnen.
»Warum war es so dunkel?«, wollte es wissen.
»Der Strom ist ausgefallen«, erwiderte die Wirtin Flynn. »Es ist ein Feuer ausgebrochen.« Das Kind sah sich böse um.
»Die Männer da sind laut«, sagte es immer noch empört.
»Und der da ist dreckig.« Es zeigte auf Gonzo, der zusammenzuckte.
Dann nahm es sich Sally Culpepper vor.
»Die Frau da hat eine Blume auf dem Rücken«, fügte es hinzu. Nachdem es genügend Beweise für unsere Schlechtigkeit gesammelt hatte, ließ es sich auf dem Fußboden nieder und futterte ein Brötchen mit Käse und Speck. Wir starrten es an und versuchten, die Erscheinung zu vertreiben, indem wir uns die Augen rieben.
»Entschuldigung«, sagte die Wirtin Flynn. »Wir lassen ihn normalerweise nicht raus, aber dies ist ein Notfall.« Ohne jeden Vorwurf wandte sie sich an das Kind. »Mein Süßer, du darfst das nicht essen, es hat neben dem schmutzigen Mann auf dem Boden gelegen.«
Gonzo hätte sicher gern Einwände erhoben, aber er hatte nicht einmal zugehört, sondern starrte nur in stummem Entsetzen das Kind an, genau wie ich und vermutlich alle anderen auch. Es war zweifellos ein menschliches Kleinkind, und aus dem Kontext mussten wir gewisse Schlussfolgerungen ziehen, die unbehaglich und sogar widerwärtig waren. Dieses Kind, in ein Badehandtuch gepackt und gerade damit beschäftigt, sich ein pfannkuchengroßes Körnerbrötchen ins Ohr zu stopfen, war Sprössling Flynn.
Der Brand des Jorgmund-Rohrs wirkte schon beunruhigend genug. Er verkörperte Gefahr und Verdienstmöglichkeit, mit großer Sicherheit auch Täuschungen und Intrigen. Jedoch ließ er sich mit unserem gewöhnlichen Verständnis durchaus erfassen. Manchmal gerieten Dinge in Brand oder explodierten, und dann kamen wir und brachten die Sache wieder in Ordnung. Eine sich vermehrende Bevölkerung von Flynns war dagegen ein ganz anderes Kapitel. Wir betrachteten Flynn als unser persönliches Monster, einen zwar ungefährlichen, doch beunruhigenden Oger, von bestürzender Gewöhnlichkeit, aber leicht durchschaubar. Er gehörte uns, er war mächtig, und wir waren es auch, weil wir uns mit ihm zusammentaten. Der Beweis seiner gefährlichen, überbordenden Männlichkeit waren seine furchtlosen sexuellen Zusammenkünfte mit der umfangreichen Mrs Flynn. In einer Welt, die vollständig aus dicht gestaffelten Flynn- Wesen bestand, aus beleidigenden, mürrischen Geschöpfen, die nicht einmal Schuldscheine annahmen, wollten wir aber nun wirklich nicht leben. Das wäre eine neue Weltordnung, die auch die Tapfersten unter uns als unerträglich empfunden hätten. Das jüngste Produkt, Sprössling Flynn, war inzwischen schon dabei, zermatschte Käsestücke auf Gonzos Stiefel zu kleistern.
Mrs Flynn bemerkte es offenbar nicht, beendete irgendwelche Hausarbeiten, ob sie nun Tücher faltete oder wischte, und trottete hinaus. Sprössling Flynn wiederum achtete nicht auf seine Mutter, sondern biss seitlich in das schmutzige Brötchen. »Knusprig«, sagte Sprössling Flynn.
Sally Culpeppers Handy zwitscherte leise, und alle taten so, als bemerkten sie es nicht.
»Culpepper«, meldete sich Sally und klappte es gleich darauf wieder zu. »Verwählt.« Wir taten alle so, als machte es uns nichts aus.
Übersetzung: Jürgen Langowski
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2009 Piper Verlag GmbH, München
Flynn startete den Generator, der, Gott helfe mir, mit Schweinen betrieben wurde. Vier große, stinkende Wüstenschweine protestierten, als er sie über Joche mit einem Göpelwerk verband. Die Viecher machten einen Lärm wie ein kleiner Kavallerieangriff. Schließlich deckte Flynn das vorderste Schwein mit einigen seiner abscheulichsten Verwünschungen ein. Das Tier machte schon Anstalten, sich zu übergeben, dann aber schoss es los. Gezwungenermaßen folgten ihm die anderen und wanderten langsam, aber stetig um das Göpelwerk herum. Nach der ersten Runde bemerkte das Schwein Flynn, der gerade zur nächsten Tirade ausholte, und wollte stehen bleiben.
Da es mit seinen drei Kollegen am Joch hing, konnte es aber nicht anhalten, also bewegte es seinen Speck etwas schneller und rannte mit schweinischer Höchstgeschwindigkeit an Flynn vorbei. So beschleunigte das Göpelwerk, bis der Generator mit einem grunzenden oder quiekenden Geräusch ansprang. Der Fernsehbildschirm leuchtete auf, und wir hörten die schlechten Nachrichten.
Oder vielmehr, er ging nicht richtig an, denn das Bild war so düster, dass man meinen konnte, der Apparat wäre kaputt. Wir sahen eine Art Feuerwerk und hörten erschrockene und ängstliche Schreie. Es war sehr leise, bis Sally Culpepper mit einiger Verspätung auf die Idee kam, den Ton aufzudrehen. Das Bild bebte und schwankte, Männer rannten vorbei und riefen: »Haut ab hier !«, »Verschwindet !« oder »Verdammte Scheiße, hast du das gesehen ?«, was nicht einmal mit einem Piepston überspielt wurde. Es sah so aus, als wälzte sich in mittlerer Entfernung jemand auf dem Boden. Irgendwo in der Welt lief etwas schrecklich schief, und natürlich war ein Affe mit einer Kamera in der Nähe, der lieber zehntausend Dollar die Stunde an Gefahrenzulage kassierte, als sich die verdammten Ärmel hochzukrempeln, um ein paar Leuten das Leben zu retten. Ich kannte einen Typ, der während der Großen Löschung genau das getan hatte. Er hatte seine kostbare Digi-VII-Kamera in einen Latrinengraben geschmissen und sechs Zivilisten und einen Sergeant aus einem brennenden Krankenwagen geholt. Zu Hause hatte er von der Queen die Ehrenmedaille und von seinem Arbeitgeber die Papiere bekommen.
Jetzt sitzt er in einer Anstalt. Er heißt Micah Monroe, und jeden Tag kommen zwei Kameraden vom Veteran’s Hospital vorbei, nehmen ihn auf einen Spaziergang mit und achten dar auf, dass die Medaille ordentlich poliert im Etui auf dem Nachttisch steht. Harry und Hoyle sind reizende alte Knacker, die selber auch Auszeichnungen erhalten haben und der Ansicht sind, dies sei das Mindeste, was sie für einen Mann tun können, der sich über alles hinweggesetzt und dabei den Verstand verloren hat. Harrys Sohn war auch in diesem Krankenwagen. Er gehörte aber zu denen, die Micah nicht mehr retten konnte.
Wir starrten den Bildschirm an und rätselten herum, was dort gezeigt wurde. Im ersten Augenblick sah es aus, als würde das Jorgmund-Rohr brennen, was aber ungefähr das Gleiche bedeutet hätte, als würde jemand behauptet haben, ihm sei der Himmel auf den Kopf gefallen. Diese Leitung war das stabilste Bauwerk auf der ganzen Welt – dreifach redundant, kompromisslos auf Sicherheit ausgelegt und einzigartig. Zuerst hatten wir es schnell hingepfuscht, weil es nicht anders ging, und danach hatten wir es unzerstörbar gemacht. Die Besten hatten die Pläne gezeichnet, woraufhin die Allerbesten sie mehrfach überprüft hatten. Dann hatte man die Prüfer selbst unter die Lupe genommen, ob irgendwo Sabotage, Märtyrertum oder vielleicht einfach nur ein bislang unerkannter Fall von Dummheit im Spiel wären, und schließlich hatten sich die Baufirmen an die Arbeit gemacht. Dabei waren Gründlichkeit und die Einhaltung der Pläne wichtiger gewesen als die rasche Vollendung.
Betrügern und Halsabschneidern hatten derart drastische Strafen gedroht, dass es für sie angenehmer gewesen wäre, sich von einem Hochhaus zu stürzen. Zu guter Letzt waren die Materialprüfer und Katastrophenexperten mit Hämmern, Sägen, Blitzgeneratoren und Torsionstests darüber hergefallen und hatten den Bau für sicher erklärt. Jeder in der Lebenszone wollte ihn erhalten und schützen. Es war absolut ausgeschlossen und einfach unvorstellbar, dass er brennen konnte.
Dennoch brannte es lichterloh, das Rohr glühte sogar weiß auf. Wie Magnesium. Wie der Bauch einer Leiche. Ein Übelkeit erregendes Weiß. Daneben waren Gebäude und Zäune zu sehen, was bedeutete, dass es nicht nur die Leitung getroffen hatte, sondern etwas noch Wichtigeres, vielleicht ein Pumpwerk oder eine Raffinerie. Überall wallte heißer, fettig schimmernder Rauch, und im Herzen des Brandes passierten Dinge, mit denen das menschliche Auge nichts anfangen konnte. Verrückte, gefährliche Dinge, die mit Lauten untermalt waren, die von panischen Menschen stammten. Irgendetwas Wichtiges ging auf dem Bildschirm in Rauch und Flammen auf.
»Verdammter Mist«, sagte Gonzo William Lubitsch und sprach damit aus, was alle dachten.
Es war ein komisches Gefühl. Wir beobachteten – wieder einmal – das Ende der Welt und sahen Dinge, die wir lieber nicht gesehen hätten, aber gleichzeitig verhieß uns dies auch Ruhm, Reichtum und so ziemlich alles, was wir von einem dankbaren Publikum je erwarten konnten. Wir betrachteten gewissermaßen, was unsere Daseinsberechtigung ausmachte.
Denn das da auf dem Bildschirm war ein Feuer, zugleich aber auch ein toxisches Ereignis der schlimmsten Art, und wir, meine Damen und Herren, wir konnten uns bei den Händen fassen, denn wir waren die Haulage & Hazmat Emergency Civil Freebooting Company of Exmoor County mit Hauptsitz in der Bar ohne Namen. Unsere Geschäftsführerin war Sally J. Culpepper, und so einen Brand zu bekämpfen, war genau die Sache, die wir besser konnten als jeder andere in der ganzen Lebenszone und somit auf der ganzen Welt. Sally sprach sofort mit Jim Hepsobah und dann mit Gonzo, schrieb Listen und gab Befehle. Flynn, der Wirt, beauftragte sie, seinen hochkarätigen Espresso zu kochen, und inzwischen hatte sich sogar Mrs Flynn von ihren eingebauten Sitzkissen erhoben, um mit bemerkenswerter Geschwindigkeit ihre Vorkehrungen zu treffen: Leichenanhänger vorbereiten und Briefe an die Angehörigen, Enterbten und alle anderen entwerfen, die für uns alle in der dicken Luft der Bar ohne Namen irgendwie von Bedeutung waren. Unterdessen rannten wir hin und her und stießen gegeneinander, weil wir noch nichts zu tun hatten. Der Tumult und Krawall dauerte an, bis Sally auf den Pooltisch stieg und uns sagte, wir sollten den Mund halten und wieder zu uns kommen. Sie hob ihr Handy, als wäre es der Knochen eines Heiligen.
Sally Culpepper war einsachtzig groß und bestand überwiegend aus Beinen. Auf dem rechten Schulterblatt hatte sie eine Tätowierung. Eine Orchidee, gestaltet von einem Kerl, an dem ein Michelangelo verloren gegangen war. Sie hatte einen Erdbeermund, milchweiße Haut und Sommersprossen auf der Nase, die nach einer Kneipenschlägerei in Lissabon renoviert worden war. Gonzo behauptete, er hätte mal mit ihr geschlafen, und sie hätte die langen Beine um seine Hüften geschlungen wie Pythonschlangen aus italienischem Kalbsleder. Danach wäre er dann halb tot gewesen und hätte bis über beide Ohren gegrinst. Es sei eines Abends nach einem großen Job passiert, das Bier sei in Strömen geflossen, und alle hätten vor Freude über ihren Erfolg wie Honigkuchenpferde gestrahlt. Es sei zu der Zeit gewesen, als Jim und Sally noch so getan hatten, als wären sie nicht zusammen, und bevor sie sich ins Unvermeidliche geschickt hatten und zusammengezogen waren.
Immer wenn wir uns trafen, ich und Gonzo, Sally und Jim und die anderen, grinste Gonzo sie lüstern an und fragte nach ihrer anderen Tätowierung, worauf Sally Culpepper nur geheimnisvoll lächelte, was bedeutete, dass sie nichts dazu sagen würde. Vielleicht hatte er diese andere Tätowierung gesehen, vielleicht auch nicht. Jim Hepsobah tat dann immer so, als hätte er es nicht gehört, weil er Gonzo wie einen Bruder liebte. Wenn man jemanden so liebt, kann man trotzdem erkennen, dass er manchmal ein Arschloch ist, aber es stört einen dann nicht. Wir alle mochten Sally Culpepper, die uns mit ihren durchsichtigen Wimpern und dem Engelsgesicht regierte – und mit ihren schlanken Armen, die wie ein Dampfhammer Kinnhaken austeilen konnten. Nun stand sie da, und wir bemühten uns, einigermaßen ruhig und aufmerksam zu bleiben, denn wenn der Anruf kam, dann kam er über ihr Handy. Sie hatte hier den besten Empfang, und genau deshalb war die Bar ohne Namen auch unser Firmensitz.
Also hörten wir auf, nach verlorenen Socken und Rucksäcken zu suchen und uns darüber zu sorgen, wir könnten noch den Startschuss verpassen, und ließen uns an Mrs Flynns Futternäpfen nieder. Nach einer Weile begannen wir dann doch wieder leise zu schwatzen und redeten über kleine häusliche Aufgaben wie etwa Abwasserkanäle zu säubern und Fledermäuse vom Dachboden zu verjagen. Wenn das Telefon klingelte, was jetzt jeden Augenblick passieren konnte, würden wir losziehen und vor der ganzen Welt als Helden dastehen. Das mochte Gonzo ganz besonders, und notgedrungen war ich ab und zu dabei. Bis es aber losging, hielten wir uns zurück. Dann wurde es in der Bar ohne Namen wieder ganz still. In kleinen Gruppen und einer nach dem anderen verstummten wir, während wir eine grauenhafte Erscheinung beobachteten. Ein kleines Kind, das einen mit Rotz bekleckerten und auch sonst nicht mehr ganz neuwertigen Teddybär herumschleppte, kam wichtig in den Raum hereinmarschiert, betrachtete uns mit strengem Blick und wandte sich an die Wirtin Flynn, um mit der Beweisaufnahme zu beginnen.
»Warum war es so dunkel?«, wollte es wissen.
»Der Strom ist ausgefallen«, erwiderte die Wirtin Flynn. »Es ist ein Feuer ausgebrochen.« Das Kind sah sich böse um.
»Die Männer da sind laut«, sagte es immer noch empört.
»Und der da ist dreckig.« Es zeigte auf Gonzo, der zusammenzuckte.
Dann nahm es sich Sally Culpepper vor.
»Die Frau da hat eine Blume auf dem Rücken«, fügte es hinzu. Nachdem es genügend Beweise für unsere Schlechtigkeit gesammelt hatte, ließ es sich auf dem Fußboden nieder und futterte ein Brötchen mit Käse und Speck. Wir starrten es an und versuchten, die Erscheinung zu vertreiben, indem wir uns die Augen rieben.
»Entschuldigung«, sagte die Wirtin Flynn. »Wir lassen ihn normalerweise nicht raus, aber dies ist ein Notfall.« Ohne jeden Vorwurf wandte sie sich an das Kind. »Mein Süßer, du darfst das nicht essen, es hat neben dem schmutzigen Mann auf dem Boden gelegen.«
Gonzo hätte sicher gern Einwände erhoben, aber er hatte nicht einmal zugehört, sondern starrte nur in stummem Entsetzen das Kind an, genau wie ich und vermutlich alle anderen auch. Es war zweifellos ein menschliches Kleinkind, und aus dem Kontext mussten wir gewisse Schlussfolgerungen ziehen, die unbehaglich und sogar widerwärtig waren. Dieses Kind, in ein Badehandtuch gepackt und gerade damit beschäftigt, sich ein pfannkuchengroßes Körnerbrötchen ins Ohr zu stopfen, war Sprössling Flynn.
Der Brand des Jorgmund-Rohrs wirkte schon beunruhigend genug. Er verkörperte Gefahr und Verdienstmöglichkeit, mit großer Sicherheit auch Täuschungen und Intrigen. Jedoch ließ er sich mit unserem gewöhnlichen Verständnis durchaus erfassen. Manchmal gerieten Dinge in Brand oder explodierten, und dann kamen wir und brachten die Sache wieder in Ordnung. Eine sich vermehrende Bevölkerung von Flynns war dagegen ein ganz anderes Kapitel. Wir betrachteten Flynn als unser persönliches Monster, einen zwar ungefährlichen, doch beunruhigenden Oger, von bestürzender Gewöhnlichkeit, aber leicht durchschaubar. Er gehörte uns, er war mächtig, und wir waren es auch, weil wir uns mit ihm zusammentaten. Der Beweis seiner gefährlichen, überbordenden Männlichkeit waren seine furchtlosen sexuellen Zusammenkünfte mit der umfangreichen Mrs Flynn. In einer Welt, die vollständig aus dicht gestaffelten Flynn- Wesen bestand, aus beleidigenden, mürrischen Geschöpfen, die nicht einmal Schuldscheine annahmen, wollten wir aber nun wirklich nicht leben. Das wäre eine neue Weltordnung, die auch die Tapfersten unter uns als unerträglich empfunden hätten. Das jüngste Produkt, Sprössling Flynn, war inzwischen schon dabei, zermatschte Käsestücke auf Gonzos Stiefel zu kleistern.
Mrs Flynn bemerkte es offenbar nicht, beendete irgendwelche Hausarbeiten, ob sie nun Tücher faltete oder wischte, und trottete hinaus. Sprössling Flynn wiederum achtete nicht auf seine Mutter, sondern biss seitlich in das schmutzige Brötchen. »Knusprig«, sagte Sprössling Flynn.
Sally Culpeppers Handy zwitscherte leise, und alle taten so, als bemerkten sie es nicht.
»Culpepper«, meldete sich Sally und klappte es gleich darauf wieder zu. »Verwählt.« Wir taten alle so, als machte es uns nichts aus.
Übersetzung: Jürgen Langowski
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2009 Piper Verlag GmbH, München
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Autoren-Porträt von Nick Harkaway
Nick Harkaway, 1972 in Cornwall geboren, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und hat bereits als Drehbuchautor, Blogger und Werbetexter gearbeitet. Nick Harkaway lebt mit seiner Familie in London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nick Harkaway
- 2009, 728 Seiten, Maße: 12,1 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Jürgen Langowski
- Übersetzer: Jürgen Langowski
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492267041
- ISBN-13: 9783492267045
Rezension zu „Die gelöschte Welt “
»Ein triumphales postapokalyptisches Epos, überschäumend vor Einfallsreichtum.« The Times
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