Die große Welt
Ausgezeichnet mit dem National Book Award für Literatur 2009
"Keiner, der jemals über New York schrieb, ist tiefer eingetaucht und höher aufgestiegen." -- Frank McCourt
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Buch
4.95 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die große Welt “
"Keiner, der jemals über New York schrieb, ist tiefer eingetaucht und höher aufgestiegen." -- Frank McCourt
Klappentext zu „Die große Welt “
1974: Am Morgen eines schönen Augustsommertags starren die Passanten in Lower Manhattan ungläubig zu den Twin Towers hinauf. Fast einen halben Kilometer über ihnen läuft, springt und tanzt ein Hochseilartist - ein schwebender Moment von absoluter Freiheit und künstlerischem Triumph in einer Stadt des ewigen Überlebenskampfes. Seine Magie lässt unten auf den Straßen in den gewöhnlichen Existenzen das Besondere hervortreten. Etwa in Corrigan, dem verrückten, aufopferungsvollen Iren, der sein Leben den Straßenhuren in der Bronx widmet. Er hat in seinem Kleinbus vor dem Zentralgericht am WTC übernachtet, um zweien seiner Schutzbefohlenen bei einem Ankalageerhebungstermin beizustehen: Tillie, die schon mit 38 Großmutter ist, und ihrer schönen Tochter Jazzlyn. Doch Corrigan weiß nicht, dass dieser Tag, der so großzügig Freiheit schenkt, auch den Tod bringen und damit das Leben zahlreicher Menschen verändern wird, die ihm und den beiden Frauen in seiner Obhut nahestehen...Colum McCannfängt die Atmosphäre und die Stimmen dieser Stadt zu einem mitreißenden Epos ein. Es sprüht vom wilden Geist seiner Zeit wie von der elektrisierenden Sprache und Bildwelt eines Autors, der zu den sinnlichsten und mutigsten Erzählern englischer Zunge zu rechnen ist.
1974: Am Morgen eines sch? Augustsommertags starren die Passanten in Lower Manhattan ungl?ig zu den Twin Towers hinauf. Fast einen halben Kilometer ? ihnen l?t, springt und tanzt ein Hochseilart ist - ein schwebender Moment von absoluter Freiheit und k?lerischem Triumph in einer Stadt des ewigen ?erlebenskampfes. Seine Magie l?t unten auf den Stra?n in den gew?ichen Existenzen das Besondere hervortreten. Etwa in Corrigan, dem verr?en, aufopferungsvollen Iren, der sein Leben den Stra?nhuren in der Bronx widmet. Er hat in seinem Kleinbus vor dem Zentralgericht am World Trade Center ?nachtet, um zweien seiner Schutzbefohlenen bei einem Anklageerhebungstermin beizustehen: Tillie, die schon mit achtunddrei?g Gro?mutter ist, und ihrer sch? Tochter Jazzlyn. Doch Corrigan wei?nicht, dass dieser Tag, der so gro?? Freiheit schenkt, auch den Tod bringen und damit das Leben zahlreicher Menschen ver?ern wird, die ihm und den beiden Frauen in seiner Obhut nahestehen...
"Colum McCann f?t die Atmosph? und die Stimmen dieser Stadt zu einem mitrei?nden Epos ein. Es spr?vom wilden Geist seiner Zeit wie von der elektrisierenden Sprache und Bildwelt eines Autors, der zu den sinnlichsten und mutigsten Erz?ern englischer Zunge z?t...
Was will McCann nach dieser herzzerrei?nden Symphonie von einem Roman denn noch komponieren? Keiner, der ? New York schrieb, ist jemals tiefer eingetaucht und h? aufgestiegen." -- Frank McCourt
"Dies ist ein gro?rtiges Buch, vielschichtig und tief empfunden, und es macht verdammten Spa? es zu lesen. Da muss erst ein Ire kommen, um einen der gr?n New-York-Romane ?haupt zu schreiben. In jeder Zeile von 'Die gro? Welt' steckt so viel Leidenschaft, Humor und Lebenskraft, dass man es schwindelnd und schier ?w?igt liest." -- Dave Eggers
"Colum McCann f?t die Atmosph? und die Stimmen dieser Stadt zu einem mitrei?nden Epos ein. Es spr?vom wilden Geist seiner Zeit wie von der elektrisierenden Sprache und Bildwelt eines Autors, der zu den sinnlichsten und mutigsten Erz?ern englischer Zunge z?t...
Was will McCann nach dieser herzzerrei?nden Symphonie von einem Roman denn noch komponieren? Keiner, der ? New York schrieb, ist jemals tiefer eingetaucht und h? aufgestiegen." -- Frank McCourt
"Dies ist ein gro?rtiges Buch, vielschichtig und tief empfunden, und es macht verdammten Spa? es zu lesen. Da muss erst ein Ire kommen, um einen der gr?n New-York-Romane ?haupt zu schreiben. In jeder Zeile von 'Die gro? Welt' steckt so viel Leidenschaft, Humor und Lebenskraft, dass man es schwindelnd und schier ?w?igt liest." -- Dave Eggers
Lese-Probe zu „Die große Welt “
Die große Welt von Colum McCann Wer ihn sah, verstummte. Auf der Church Street. Auf der Liberty. Cortlandt. West Street. Fulton. Vesey. Es war eine Stille, die sich selbst hörte, schrecklich und schön. Anfangs dachten manche, es müsse eine Lichtspiegelung sein, etwas, das mit dem Wetter zu tun habe, mit dem Spiel von Licht und Schatten. Andere meinten, es sei der klassische Großstadtwitz: Jemand stand herum und zeigte nach oben, bis auch andere stehenblieben, den Kopf in den Nacken legten und bestätigend nickten, und schließlich starrten alle in den Himmel, wo gar nichts war, als warteten sie auf die Pointe eines Lenny-Bruce-Witzes.
Doch je länger sie hinsahen, desto sicherer waren sie. Er stand genau am Rand des Gebäudes, eine schwarze Silhouette vor dem Grau des Morgens. Vielleicht ein Fensterputzer. Oder ein Bauarbeiter. Oder ein Selbstmörder. Dort oben, hundertzehn Stockwerke hoch, vollkommen reglos, eine dunkle Spielzeugfigur vor bewölktem Himmel. Man konnte ihn nur aus bestimmten Blickwinkeln sehen, sodass man an Straßenecken stehenbleiben, eine Lücke zwischen den Häusern finden, im Zickzack aus den Schatten treten musste, um einen von Simsen, Wasserspeiern, Brüstungen und Dachkanten unbehinderten Blick zu haben. Noch wusste keiner, was es mit dem Strich auf sich hatte, der zu seinen Füßen von einem Turm zum anderen verlief. Eher ließ die Gestalt des Mannes sie mit gereckten Hälsen innehalten, hin- und hergerissen zwischen Schreckensverheißung und der Enttäuschung durch das Gewöhnliche.
... mehr
Es war das Dilemma der Schaulustigen: Sie wollten nicht umsonst gewartet haben, wegen eines Idioten am Abgrund zwischen den Türmen; doch sie wollten auch nicht den Augenblick verpassen, in dem er ausrutschte, verhaftet wurde oder sich mit ausgebreiteten Armen kopfüber in die Tiefe stürzte. Ringsum machte die Stadt weiter ihre alltäglichen Geräusche. Autohupen. Mülltransporter. Die Sirenen der Fährschiffe. Das Rumpeln der U-Bahnen. Ein Bus der Linie M 22 fuhr an den Bordstein, bremste, tauchte seufzend in ein Schlagloch. Die vom Wind verwehte Hülle eines Schokoriegels berührte tanzend einen Hydranten. Taxitüren wurden zugeworfen. In den dunkelsten Winkeln der Gassen lieferten Abfallreste sich Sparringskämpfe. Turnschuhe ließen ihre Besitzer gleichsam hüpfen. Das Leder der Aktentaschen rieb an Hosenbeinen.
Ein paar Regenschirmspitzen klickten auf den Bürgersteigen. Drehtüren wirbelten Gesprächsfetzen auf die Straße. Doch hätten die Zuschauer all diese Geräusche genommen und zu einem einzigen verrührt, so hätten sie dennoch nicht sonderlich viel gehört: Selbst wenn sie fluchten, taten sie es leise, ehrfürchtig. Sie fanden sich zu kleinen Gruppen zusammen – neben der Ampel an der Kreuzung Church und Dey Street, unter der Markise von Sam’s Barber Shop, im Eingang zu Charlie’s Audio, als dicht an dicht stehendes kleines Publikum am schmiedeeisernen Zaun um die St. Paul’s Chapel, im Gedränge vor den Schaufenstern des Woolworth Buildings. Anwälte. Liftboys. Ärzte. Putzfrauen. Köche. Diamantenhändler. Fischverkäufer. Huren in traurigen Jeans. Alle bestätigt durch die Anwesenheit der anderen. Stenografinnen. Börsenhändler. Lieferanten. Männer mit Reklametafeln. Zocker. Con Edison. AT&T. Wall Street.
Ein Mann vom Schlüsseldienst in seinem Lieferwagen an der Ecke Dey und Broadway. Ein Fahrradkurier, der in der West Street an einem Laternenpfahl lehnte. Ein Säufer mit rotem Gesicht, unterwegs zum ersten Drink des Tages. Sie sahen ihn von der Staten Island Ferry. Von den Fleischkühlhäusern an der West Side. Von den neuen Hochhäusern im Battery Park. Von den Frühstücksständen am Broadway. Von der Plaza am Fuß der Türme. Von den Türmen selbst. Natürlich gab es einige, die die ganze Aufregung ignorierten, die nichts damit zu tun haben wollten. Es war sieben Uhr siebenundvierzig, und sie dachten nur an ihren Schreibtisch, ihren Stift, ihr Telefon. Sie kamen aus U-Bahnhöfen, stiegen aus Limousinen und Bussen, überquerten mit zielstrebigen Schritten die Straße und verweigerten sich der Aussicht auf ein Spektakel. Wer die Tortur nicht ehrt, ist des Dollars nicht wert.
Doch als sie an den kleinen Trauben von Schaulustigen vorbeigingen, verlangsamten sie ihre Schritte. Manche blieben sogar stehen, zuckten die Schultern, drehten sich nonchalant um, gingen zur nächsten Ecke, gesellten sich zu dem Grüppchen, das dort stand, stellten sich auf die Zehenspitzen, spähten über die Köpfe der anderen hinweg und führten sich mit einem «Donnerwetter», «Junge, Junge» oder «Mein Gott» ein. Der Mann über ihren Köpfen stand starr und aufgerichtet, und doch umgab ihn das Geheimnis der Beweglichkeit. Er stand vor dem Geländer der Aussichtsplattform auf dem Südturm und konnte jeden Augenblick den Schritt ins Leere tun. Unter ihm segelte eine einzelne Taube vom Dach des Federal Office Buildings, als wollte sie seinen Sturz vorwegnehmen. Die Bewegung fiel einigen Zuschauern ins Auge, und sie folgten dem grauen Flattern vor der kleinen Gestalt des stehenden Mannes.
Der Vogel schoss von einem Dach zum anderen, und da erst merkten die Leute, dass andere es ihnen in den Bürogebäuden gleichtaten, wo Jalousien hochgezogen und Fenster geöffnet wurden. Man sah zunächst nur zwei Ellbogen, eine Manschette oder einen Ärmelhalter, doch dann erschien ein Kopf oder ein seltsam wirkendes Paar Hände, die das Fenster noch ein Stück weiter emporschoben. In den nahe gelegenen Wolkenkratzern waren Gestalten zu sehen: Männer in Hemdsärmeln und Frauen in bunten Blusen – wabernde Schemen hinter Glas, wie Pappfiguren in einer Geisterbahn. Noch weiter oben vollführte ein Wetterbeobachtungshubschrauber eine Abwärtskurve über dem Hudson – eine Verbeugung vor der Tatsache, dass dieser Sommertag bewölkt und kühl werden würde –, und die Rotoren hämmerten einen Rhythmus über den Lagerhäusern an der West Side. Zunächst wirkte der herumschwenkende Hubschrauber schief, und ein kleines Fenster wurde aufgeschoben, als wollte der Motor tiefer Luft holen.
An dem geöffneten Fenster erschien ein Objektiv und reflektierte für einen winzigen Augenblick das Licht. Im nächsten Moment fing sich der Hubschrauber und glitt elegant durch den weiten Himmel. Ein paar Polizisten auf dem West Side Highway schalteten das Jammerlicht ein, jagten die Ausfahrten hinunter und machten den Morgen noch ein wenig faszinierender. Eine Spannung erfüllte die Luft um die Schaulustigen, und nun, da der Tag durch die Sirenen etwas Offizielles bekommen hatte, begannen sie miteinander zu reden – ihr inneres Gleichgewicht war gefährdet, ihre Ruhe verschwunden, und sie wandten sich einander zu und begannen zu spekulieren: Würde er springen, würde er abstürzen, würde er am Rand des Dachs entlanglaufen, arbeitete er dort, war er allein, war er ein Lockvogel, trug er eine Uniform, hatte irgendjemand ein Fernglas? Wildfremde berührten einander am Ellbogen.
Flüche flogen hin und her, es wurde geflüstert, das sei das Ende eines gescheiterten Raubüberfalls, der Mann sei eine Art Fassadenkletterer, er sei Araber, Jude, Zypriot, ein IRA-Mann, das Ganze sei bloß eine Publicity-Sache, eine Werbeaktion für irgendeinen großen Konzern: Mehr Coca-Cola, Mehr Fruitos, Mehr Marlboros, Mehr Lysol, Mehr Jesus. Er sei ein Protestler und werde gleich ein Transparent entfalten, er werde es vom Sims stoßen, damit es in der Brise flatterte wie ein riesiges Stück Himmelswäsche – Weg mit Nixon!
USA raus aus Vietnam! Unabhängigkeit für Indochina! –, und dann sagte irgendwer, er sei vielleicht ein Drachenflieger oder Fallschirmspringer, und alle, die es hörten, lachten, doch das Seil zu seinen Füßen verwirrte sie, und die Gerüchte begannen aufs Neue, ein Gegeneinander von Flüstern und Flüchen, verstärkt durch das zunehmende Gejaule der Sirenen, das ihre Herzen noch schneller schlagen ließ, und der Hubschrauber fand einen guten Blickwinkel westlich der Türme, während unten, im Foyer des World Trade Centers, die Polizisten über die Marmorplatten des Fußbodens hasteten und die Zivilpolizisten ihre um den Hals baumelnden Dienstmarken unter den Hemden hervorzerrten, während die Feuerwehrwagen auf die Plaza fuhren, die roten und blauen Blinklichter im Glas der Fensterscheiben blitzten, ein Tieflader mit einem Teleskopkran, an dessen Ende ein Rettungskorb befestigt war, eintraf und mit seinen dicken Rädern den Bordstein hinauffuhr und jemand lachte, als der Fahrer im schaukelnden Wagen nach oben sah, als könnte der Kran diese gewaltige, traurige Distanz überbrücken, derweil die Wachmänner in ihre Sprechfunkgeräte schrien, der ganze Augustmorgen entzweigerissen wurde, die Schaulustigen wie angenagelt dastanden und sich für eine ganze Weile nirgendwohin bewegten, die Stimmen ein Crescendo erreichten und alle möglichen Akzente zu hören waren, das reinste Babel – bis ein kleiner Mann mit rotem Kopf das Fenster seines Büros in der Home Title Guarantee Company in der Church Street hochschob, die Ellbogen auf das Sims stützte, sich hinausbeugte, tief Luft holte und hinaufbrüllte: Mach schon, du Arschloch!
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Ein paar Regenschirmspitzen klickten auf den Bürgersteigen. Drehtüren wirbelten Gesprächsfetzen auf die Straße. Doch hätten die Zuschauer all diese Geräusche genommen und zu einem einzigen verrührt, so hätten sie dennoch nicht sonderlich viel gehört: Selbst wenn sie fluchten, taten sie es leise, ehrfürchtig. Sie fanden sich zu kleinen Gruppen zusammen – neben der Ampel an der Kreuzung Church und Dey Street, unter der Markise von Sam’s Barber Shop, im Eingang zu Charlie’s Audio, als dicht an dicht stehendes kleines Publikum am schmiedeeisernen Zaun um die St. Paul’s Chapel, im Gedränge vor den Schaufenstern des Woolworth Buildings. Anwälte. Liftboys. Ärzte. Putzfrauen. Köche. Diamantenhändler. Fischverkäufer. Huren in traurigen Jeans. Alle bestätigt durch die Anwesenheit der anderen. Stenografinnen. Börsenhändler. Lieferanten. Männer mit Reklametafeln. Zocker. Con Edison. AT&T. Wall Street.
Ein Mann vom Schlüsseldienst in seinem Lieferwagen an der Ecke Dey und Broadway. Ein Fahrradkurier, der in der West Street an einem Laternenpfahl lehnte. Ein Säufer mit rotem Gesicht, unterwegs zum ersten Drink des Tages. Sie sahen ihn von der Staten Island Ferry. Von den Fleischkühlhäusern an der West Side. Von den neuen Hochhäusern im Battery Park. Von den Frühstücksständen am Broadway. Von der Plaza am Fuß der Türme. Von den Türmen selbst. Natürlich gab es einige, die die ganze Aufregung ignorierten, die nichts damit zu tun haben wollten. Es war sieben Uhr siebenundvierzig, und sie dachten nur an ihren Schreibtisch, ihren Stift, ihr Telefon. Sie kamen aus U-Bahnhöfen, stiegen aus Limousinen und Bussen, überquerten mit zielstrebigen Schritten die Straße und verweigerten sich der Aussicht auf ein Spektakel. Wer die Tortur nicht ehrt, ist des Dollars nicht wert.
Doch als sie an den kleinen Trauben von Schaulustigen vorbeigingen, verlangsamten sie ihre Schritte. Manche blieben sogar stehen, zuckten die Schultern, drehten sich nonchalant um, gingen zur nächsten Ecke, gesellten sich zu dem Grüppchen, das dort stand, stellten sich auf die Zehenspitzen, spähten über die Köpfe der anderen hinweg und führten sich mit einem «Donnerwetter», «Junge, Junge» oder «Mein Gott» ein. Der Mann über ihren Köpfen stand starr und aufgerichtet, und doch umgab ihn das Geheimnis der Beweglichkeit. Er stand vor dem Geländer der Aussichtsplattform auf dem Südturm und konnte jeden Augenblick den Schritt ins Leere tun. Unter ihm segelte eine einzelne Taube vom Dach des Federal Office Buildings, als wollte sie seinen Sturz vorwegnehmen. Die Bewegung fiel einigen Zuschauern ins Auge, und sie folgten dem grauen Flattern vor der kleinen Gestalt des stehenden Mannes.
Der Vogel schoss von einem Dach zum anderen, und da erst merkten die Leute, dass andere es ihnen in den Bürogebäuden gleichtaten, wo Jalousien hochgezogen und Fenster geöffnet wurden. Man sah zunächst nur zwei Ellbogen, eine Manschette oder einen Ärmelhalter, doch dann erschien ein Kopf oder ein seltsam wirkendes Paar Hände, die das Fenster noch ein Stück weiter emporschoben. In den nahe gelegenen Wolkenkratzern waren Gestalten zu sehen: Männer in Hemdsärmeln und Frauen in bunten Blusen – wabernde Schemen hinter Glas, wie Pappfiguren in einer Geisterbahn. Noch weiter oben vollführte ein Wetterbeobachtungshubschrauber eine Abwärtskurve über dem Hudson – eine Verbeugung vor der Tatsache, dass dieser Sommertag bewölkt und kühl werden würde –, und die Rotoren hämmerten einen Rhythmus über den Lagerhäusern an der West Side. Zunächst wirkte der herumschwenkende Hubschrauber schief, und ein kleines Fenster wurde aufgeschoben, als wollte der Motor tiefer Luft holen.
An dem geöffneten Fenster erschien ein Objektiv und reflektierte für einen winzigen Augenblick das Licht. Im nächsten Moment fing sich der Hubschrauber und glitt elegant durch den weiten Himmel. Ein paar Polizisten auf dem West Side Highway schalteten das Jammerlicht ein, jagten die Ausfahrten hinunter und machten den Morgen noch ein wenig faszinierender. Eine Spannung erfüllte die Luft um die Schaulustigen, und nun, da der Tag durch die Sirenen etwas Offizielles bekommen hatte, begannen sie miteinander zu reden – ihr inneres Gleichgewicht war gefährdet, ihre Ruhe verschwunden, und sie wandten sich einander zu und begannen zu spekulieren: Würde er springen, würde er abstürzen, würde er am Rand des Dachs entlanglaufen, arbeitete er dort, war er allein, war er ein Lockvogel, trug er eine Uniform, hatte irgendjemand ein Fernglas? Wildfremde berührten einander am Ellbogen.
Flüche flogen hin und her, es wurde geflüstert, das sei das Ende eines gescheiterten Raubüberfalls, der Mann sei eine Art Fassadenkletterer, er sei Araber, Jude, Zypriot, ein IRA-Mann, das Ganze sei bloß eine Publicity-Sache, eine Werbeaktion für irgendeinen großen Konzern: Mehr Coca-Cola, Mehr Fruitos, Mehr Marlboros, Mehr Lysol, Mehr Jesus. Er sei ein Protestler und werde gleich ein Transparent entfalten, er werde es vom Sims stoßen, damit es in der Brise flatterte wie ein riesiges Stück Himmelswäsche – Weg mit Nixon!
USA raus aus Vietnam! Unabhängigkeit für Indochina! –, und dann sagte irgendwer, er sei vielleicht ein Drachenflieger oder Fallschirmspringer, und alle, die es hörten, lachten, doch das Seil zu seinen Füßen verwirrte sie, und die Gerüchte begannen aufs Neue, ein Gegeneinander von Flüstern und Flüchen, verstärkt durch das zunehmende Gejaule der Sirenen, das ihre Herzen noch schneller schlagen ließ, und der Hubschrauber fand einen guten Blickwinkel westlich der Türme, während unten, im Foyer des World Trade Centers, die Polizisten über die Marmorplatten des Fußbodens hasteten und die Zivilpolizisten ihre um den Hals baumelnden Dienstmarken unter den Hemden hervorzerrten, während die Feuerwehrwagen auf die Plaza fuhren, die roten und blauen Blinklichter im Glas der Fensterscheiben blitzten, ein Tieflader mit einem Teleskopkran, an dessen Ende ein Rettungskorb befestigt war, eintraf und mit seinen dicken Rädern den Bordstein hinauffuhr und jemand lachte, als der Fahrer im schaukelnden Wagen nach oben sah, als könnte der Kran diese gewaltige, traurige Distanz überbrücken, derweil die Wachmänner in ihre Sprechfunkgeräte schrien, der ganze Augustmorgen entzweigerissen wurde, die Schaulustigen wie angenagelt dastanden und sich für eine ganze Weile nirgendwohin bewegten, die Stimmen ein Crescendo erreichten und alle möglichen Akzente zu hören waren, das reinste Babel – bis ein kleiner Mann mit rotem Kopf das Fenster seines Büros in der Home Title Guarantee Company in der Church Street hochschob, die Ellbogen auf das Sims stützte, sich hinausbeugte, tief Luft holte und hinaufbrüllte: Mach schon, du Arschloch!
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Autoren-Porträt von Colum Mccann
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. für seine Erzählungen erhielt McCann, der heute in New York lebt, zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award for Irish Literature sowie den Rooney Prize.Dirk van Gunsteren, geb. 1953 in Düsseldorf, ist ein deutscher literarischer Übersetzer aus dem Englischen und Niederländischen und freiberuflicher Redakteur. Van Gunsteren wuchs in Duisburg auf, seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Holländer. Nach mehreren Aufenthalten in Indien und in den USA studierte er in München Amerikanistik. Seit 1984 ist er als Übersetzer insbesondere aus dem Englischen tätig. Van Gunsteren lebt in München. 2007 erhielt van Gunsteren den 'Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis' für seine Übersetzung angelsächsischer Literatur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Colum Mccann
- 2009, 2. Aufl., 544 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Gunsteren, Dirk van
- Übersetzer: Dirk van Gunsteren
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498045113
- ISBN-13: 9783498045111
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