Die Hexenschrift
Historischer Roman. Deutsche Erstausgabe
Klosterschülerin, »Piratenhure«, Sklavin, Hexe: ein exzellenter, mitreißender historischer Roman mit einer mutigen Heldin.Mexiko,1683: Die junge Concepcion Benavidez wird nach ihrer Flucht aus dem Kloster, in dem sie aufwuchs, in Vera Cruz auf...
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Produktinformationen zu „Die Hexenschrift “
Klosterschülerin, »Piratenhure«, Sklavin, Hexe: ein exzellenter, mitreißender historischer Roman mit einer mutigen Heldin.
Mexiko,1683: Die junge Concepcion Benavidez wird nach ihrer Flucht aus dem Kloster, in dem sie aufwuchs, in Vera Cruz auf ein Piratenschiff verschleppt. Auf der langen, harten Reise nach Nordamerika wird sie mehrfach vom Kapitän vergewaltigt. Nach der Ankunft in Neuengland wird sie als Sklavin an einen Bostoner Händler verkauft. Bald darauf bringt sie eine Tochter zur Welt. Im Lauf der nächsten acht Jahre versucht sich Concepcion, die jetzt Thankful Seagraves genannt wird, an ihre neue Umgebung anzupassen und das Band zwischen ihr und ihrer Tochter Hanna zu halten. Dies wird immer schwieriger, da die Ehefrau ihres neuen Herrn erfolgreich dabei ist, ihr das Kind allmählich zu entfremden und die Erziehung selbst zu übernehmen. Als ewige Außenseiterin und spanisch sprechende »Papistin« unter den Puritanern gerät Concepcion in die Mühlen der Salemer Hexenprozesse - verraten von der eigenen Tochter.
Klappentext zu „Die Hexenschrift “
Klosterschülerin, "Piratenhure", Sklavin, Hexe: ein exzellenter, mitreißender historischer Roman mit einer mutigen Heldin.Mexiko,1683: Die junge Concepcion Benavidez wird nach ihrer Flucht aus dem Kloster, in dem sie aufwuchs, in Vera Cruz auf ein Piratenschiff verschleppt. Auf der langen, harten Reise nach Nordamerika wird sie mehrfach vom Kapitän vergewaltigt. Nach der Ankunft in Neuengland wird sie als Sklavin an einen Bostoner Händler verkauft. Bald darauf bringt sie eine Tochter zur Welt. Im Lauf der nächsten acht Jahre versucht sich Concepcion, die jetzt Thankful Seagraves genannt wird, an ihre neue Umgebung anzupassen und das Band zwischen ihr und ihrer Tochter Hanna zu halten. Dies wird immer schwieriger, da die Ehefrau ihres neuen Herrn erfolgreich dabei ist, ihr das Kind allmählich zu entfremden und die Erziehung selbst zu übernehmen. Als ewige Außenseiterin und spanisch sprechende "Papistin" unter den Puritanern gerät Concepcion in die Mühlen der Salemer Hexenprozesse- verraten von der eigenen Tochter.
Lese-Probe zu „Die Hexenschrift “
Die Hexenschrift von Alicia Gaspar de Alba1. Kapitel
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»Laaaand in Sicht!«
Kapitän Laurens de Graaf schaute durchs Fernrohr hin-
über. Ja, dort lag sie, die öde, neblige Küste von Neuengland. Die puritanischen Kaufleute hatten ihn im Januar beauftragt, Zucker, Melasse und Sklaven in die Bay Colony zu bringen. Damals war der Kapitän noch nicht so reich gewesen wie jetzt. Als er den Vertrag mit den puritanischen Kaufleuten unterzeichnete, war die Belagerung von Veracruz nichts als eine Herausforderung gewesen, die ihm Kapitän Van Horn bei einem Weihnachtsfestmahl in Port Royal wie einen Handschuh hingeworfen hatte.
Hätte der Kapitän im Januar gewusst, wie gut Van Horns merkwürdiger Plan funktionieren würde, dass sie Veracruz mit ihren eigenen Freibeuterschiffen unter spanischer Flagge belagern würden, während die spanische Flotte hilflos im Hafen lag, hätte er sich nie auf das Geschäft mit den Puritanern eingelassen. Die düstere, neblige Wildnis, die die Puritaner als Stadt auf dem Hügel bezeichneten, erbaut für die auserwählten Kinder Gottes, verursachte Kapitän de Graaf stets Albträume. Von Jahr zu Jahr wuchs sein Widerwille gegen den jährlichen Besuch im Hafen von Boston. Und gleich zweimal in einem Jahr dorthin zu segeln verdarb ihm die Stimmung bis Weihnachten.
»Reyes!«, rief der Kapitän seinem spanischen Diener zu. »Leg meine Perücke und den Mantel bereit, und vergiss nicht die wollenen Strümpfe. Wir ankern bald.« Selbst im Frühsommer ließ die Küste von Neuengland sein Blut gefrieren. »Sag dem Koch, er soll
den Grog bereiten. Ich will ihn schön heiß.« Er drehte sich um und rief auf Französisch nach dem Quartiermeister, dem er befahl, den Auktionstisch aufzustellen.
Obwohl er als Sohn einer Mulattin in den Niederlanden geboren und mit dem merkwürdigen Dialekt der Sklaven aufgewachsen war, hatte man den Kapitän schon früh zu einem Vetter seines niederländischen Vaters in die Lehre gegeben, der als Quartiermeister in der spanischen Marine diente. Dort sollte er bleiben, bis er selbst als Seemann der spanischen Krone einberufen wurde. So sprach er Kastilisch fließender als sein heimatliches Niederländisch und konnte auch den vermischten Jargon der Sklaven verstehen, die er über den Atlantik beförderte. Französisch beherrschte er auch, erlernt von den Korsaren, die zehn Jahre zuvor sein spanisches Schiff gekapert und ihn eingeladen hatten, einer von ihnen zu werden. Kapitän de Graaf nutzte die Gelegenheit und wurde zum Freibeuter, der inzwischen zwei Schiffe befehligte, von denen ihm die Neptune das liebere war. Obgleich er einige französische Seeleute an Bord hatte, stammte seine Besatzung auf der Neptune zumeist von den britischen Inseln, so dass Kapitän de Graaf auch Englisch hatte lernen müssen. Vom Leben auf hoher See war seine Haut dunkel wie eine Vanilleschote gefärbt. Sonne und Seewind hatten seine wehenden Locken wie auch Augenbrauen, Bart und sogar die Wimpern der haselnussbraunen Augen zur Farbe frischen Biers gebleicht.
Der einzige Spanier unter ihnen war Reyes, ein Segelmacher, den der Kapitän aus seiner Zeit in der spanischen Marine kannte und der ihm als persönlicher Diener und, wenn nötig, auch als Bettgefährte diente. Reyes ging unter Deck, und der Kapitän sah zu, wie sich die Männer auf dem Achterdeck versammelten, die Segel einholten, die Ankertaue ausrollten, die Kanonen luden, um ihre Ankunft anzukündigen, und einander aus lauter Vorfreude auf den Landgang zubrüllten und auf die Schultern klopften. Der Kapitän schrie wieder nach dem Quartiermeister und wies ihn an, der Besatzung zu verkünden, dass niemand an Land gehen werde. Sie würden die Kaufleute mit dem Beiboot holen, die Ladung löschen und am selben Tag nach Virginia weitersegeln. Es war noch früh, und sie würden günstigen Wind haben, sobald sie den kalten Schatten des Bostoner Hafens hinter sich gelassen hatten. Die Küste von Neuengland erinnerte ihn zu sehr an das englische Verlies, in dem man ihn zu Beginn seiner ruhmreichen Freibeutertage eingekerkert hatte.
Die Kanone wurde abgefeuert, und er bekreuzigte sich dreimal. Obwohl Lutheraner, war Kapitän de Graaf ein abergläubischer Mensch und hatte viele Gewohnheiten der Spanier übernommen.
»Die kleine Hure, hija de puta, hat schon wieder eine Schweinerei in Eurer Kajüte veranstaltet, mi capitán«, verkündete Reyes, als er aufs Achterdeck zurückkehrte.
»¡Joder, hombre! Beim Schwanz des Teufels!«, fluchte der Kapitän. »Du solltest doch auf das Weibsbild aufpassen. Was denn jetzt? Hat sie wieder Feuer gelegt?«
»Sieht aus, als hätte sie sich Euer Logbuch vorgenommen, Sir. Überall Kratzer wie von Hühnerkrallen.«
»Verflucht sei ihre Hure von einer Mutter!« Der Kapitän schob sein Fernrohr zusammen. »Warum haben wir sie nur wieder freigelassen, Reyes?«
Mit zusammengepressten Lippen folgte Reyes dem Kapitän die Leiter hinunter. Am liebsten hätte er gesagt: »Du hast ihr Dirnenfleisch begehrt, seit sie an Bord kam«, doch el capitán de Graaf, der berüchtigte Lorencillo, die Geißel der Karibik, hasste Unverschämtheiten wie die Pocken. »Letzte Nacht habt Ihr sie gewollt, mi capitán.« Reyes versuchte, die Eifersucht in seiner Stimme zu verbergen. »Ihr wisst, dass sie es Euch jedes Mal heimzahlt.«
»Zur Hölle mit ihr! Ich hätte sie in Campeche lassen sollen. Was will ich bloß mit diesem verrückten Weib an Bord?«
Mit der halbblütigen mexikanischen Hure, hätte Reyes ihn gern korrigiert, beherrschte sich aber aufs Neue. In der Kajüte warf der Kapitän zornig die Arme in die Luft. Das Weibsbild hatte das Tintenfass auf den Boden gekippt und die Tinte auf der Bettwäsche verschmiert. Die beschriebenen Seiten seines Logbuchs waren mitten durchgerissen, und die übrigen ... Der Kapitän schob die Lampe über den Schreibtisch, um besser sehen zu können. »Bei deinem Leben«, murmelte er, »das sind keine Hühnerkrallen, du Schwachkopf! Das ist die Kalligraphie eines gelernten Schreibers.«
Auf eine Seite hatte das Weib wieder und wieder den Namen Jerónima geschrieben, auf die anderen ein langes Gedicht, und das alles von so eleganter und verschnörkelter Hand, dass er sich im Verdacht bestätigt sah, das Halbblut, das ihm in den vergangenen fünf Wochen zur Unterhaltung gedient hatte, sei im Kloster erzogen worden. Weshalb sie sich mit den Negern eingelassen hatte, wusste er nicht. Unter Freibeutern war es nicht üblich, Indianerinnen oder Mischlinge als Sklaven zu nehmen, doch das Mädchen war mit einer der Negerinnen befreundet gewesen, die er in Veracruz erbeutet hatte, und hatte ihn angefleht, sie mitzunehmen, war sogar vor ihm auf die Knie gefallen und hatte seine Lenden geküsst und versprochen, alles zu tun, was er wolle, wenn er sie nur an Bord der Neptune ließe. Kapitän de Graaf hatte eine Schwäche für mutige Frauen. Außerdem war er noch nie mit einem Weib ins Bett gegangen, dessen Augen verschiedene Farben hatten: eins dunkel wie Jamaika-Rum, das andere grün wie französischer Chartreuse.
Zunächst zeigte sich das Mädchen pflichtbewusst und gehorsam, obwohl es Jungfrau war und jedes Mal weinte, wenn er es nahm. Dann holte sich die Negerin, mit der sie befreundet war, von einem Sklaven, den sie in Havanna an Bord genommen hatten, die Pocken. Sein Quartiermeister hatte befohlen, alle über Bord zu werfen, damit sich der Rest der Ladung nicht ansteckte. Seither wanderte das Halbblut über Deck, heulte wie eine Irre und rief nach seiner Freundin.
Gegen Mittag, wenn die Sklaven auf Deck gebracht wurden, um zu essen und sich zu bewegen, der Haufen Männer an der Steuerbordseite, die Frauen an Backbord, brachte das Mädchen das Essen und sang dabei so wehklagend das Ave Maria, dass die Sklaven und auch einige irische Seeleute in Schluchzen ausbrachen. Der Koch sagte, das Mädchen habe ihm in der Kombüse geholfen und dabei mit einer schwarzen Figur gesprochen, die es in einem winzigen Beutel um den Hals trage. Die Kleine könne stundenlang am Heck stehen, aufs Wasser starren, den Stürmen, Böen und sogar den Neckereien und Berührungen der Seeleute trotzen, einen unsichtbaren Rosenkranz in den Händen, während sie die Lippen in stummem Gebet bewegte. Wenn der Kapitän sie in sein Bett holte, sah sie ihn aus irren, verängstigten Augen an und rief ein gereimtes Gedicht - etwas über verstockte Männer und das Fleisch des Teufels -, bis er fertig war.
Eines Abends hatte sie beinahe den Koch kastriert.
Der Koch, so berichtete er dem Kapitän, habe in seiner Hängematte gedöst und nicht die Hand an seinen Lenden gespürt, die seine Kniehose aufschnürte, bis sie sein Glied hochnahm. Er konnte riechen, dass es das Halbblut war, das ihn berührte, und hielt die Augen geschlossen, weil er etwas anderes erwartete und rasch anschwoll. Er schrak erst zusammen, als sich die Spitze der Klinge in sein Fleisch bohrte. Im Schein der Laterne funkelten die Augen des Halbbluts wie die einer Wahnsinnigen. Der Koch verdrehte ihr das Handgelenk, worauf sie die Klinge in seine Hoden stieß. Er ließ sie los. Sie rannte aus der Kombüse und stieß, dessen war sich der Koch sicher, Flüche in ihrer heidnischen Zunge aus.
»Das Weib hätte mich fast verschnitten, Kapitän.«
»Hat sie dir Schaden zugefügt, Koch?«
»Schwer zu sagen, Sir, ich denke nicht. Hoffentlich nur ein bisschen Blut.«
»Dann wirst auch du sie nicht beschädigen, verstanden?« »Aye, Sir.«
»Warne die anderen. Ein ermordetes Weib bringt schlechten Wind. Sie soll in Ruhe gelassen werden. Man hätte sie überhaupt niemals anrühren dürfen.«
»Bei allem Respekt, Kapitän, aber sie ist eine Gefahr für die Besatzung, das ist meine Meinung. So wie sie sich an einen heranschleicht. Und dann die schwarze Puppe, mit der sie ständig flüstert, dieses Voodoo-Ding, das sie um den Hals trägt.«
»Die Männer können selbst auf sich aufpassen, Koch. Ich an deiner Stelle würde mir eine andere Gespielin suchen. Das Weibsbild findet keinen Gefallen an unserem Zeitvertreib. Und was die Figur angeht, mit der sie ständig redet, ist das keine Voodoo-Puppe. Ich habe sie selbst gesehen. Es ist nur ein Spielzeug.«
»Komische Spiele, Kapitän.«
»Wer kennt schon die Frauen?«
»Aye, bei Gott, das ist ein wahres Wort, Sir.«
Der Kapitän dachte, das Mädchen habe völlig den Verstand verloren, doch die Schrift auf der Seite bewies, dass er sich irrte und durchaus Hoffnung bestand, sie zu einem anständigen Preis loszuschlagen. Der Kapitän überflog die Strophen des Gedichts und lachte in sich hinein, weil ihm Fortuna ein so wertvolles Gut geschenkt hatte. Das war kein einfaches Weibsbild. Wer immer sie wollte, würde sie nicht unter Wert bekommen.
»Reyes! Schnell, geh sie holen! Ich muss mit ihr reden, bevor die Kaufleute kommen.«
Als Reyes gegangen war, nahm der Kapitän am Schreibtisch Platz, tauchte seine Feder in die dicke Tintenpfütze, die allmählich in die Bodenbretter sickerte, und setzte einen Kaufbrief auf.
Ich, Kapitän Laurens-Cornille de Graaf, Kommandeur der Freibeuterfregatte Neptune, verkaufe hiermit diese Halbblutfrau, die im Krieg an der Küste von Neuspanien gefangen genommen und zur Sklavin gemacht wurde. Ihr Name lautet Jerónima. Sie ist ungefähr zwanzig Jahre alt. Hat noch alle Zähne. Ist gegen Pocken immun. Sie ist von robuster Gesundheit und kann lesen und schreiben, weshalb ich ihren Preis auf fünfzig Pfund Sterling festsetze. 21. Juni 1683
Der Kapitän unterzeichnete die Urkunde, streute Sand über die Tinte und goss sich einen anständigen Schluck spanischen Brandys in einen polierten Silberkelch, um sein Glück zu begießen. Wenn man etwas Gutes über die Puritaner sagen konnte, dann war es die Tatsache, dass sie eine schöne Handschrift zu schätzen wussten, sogar bei einem Weibsbild. Er hörte die Kanonen im Hafen und wusste, dass die Kaufleute aus Neuengland unterwegs waren.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Laaaand in Sicht!«
Kapitän Laurens de Graaf schaute durchs Fernrohr hin-
über. Ja, dort lag sie, die öde, neblige Küste von Neuengland. Die puritanischen Kaufleute hatten ihn im Januar beauftragt, Zucker, Melasse und Sklaven in die Bay Colony zu bringen. Damals war der Kapitän noch nicht so reich gewesen wie jetzt. Als er den Vertrag mit den puritanischen Kaufleuten unterzeichnete, war die Belagerung von Veracruz nichts als eine Herausforderung gewesen, die ihm Kapitän Van Horn bei einem Weihnachtsfestmahl in Port Royal wie einen Handschuh hingeworfen hatte.
Hätte der Kapitän im Januar gewusst, wie gut Van Horns merkwürdiger Plan funktionieren würde, dass sie Veracruz mit ihren eigenen Freibeuterschiffen unter spanischer Flagge belagern würden, während die spanische Flotte hilflos im Hafen lag, hätte er sich nie auf das Geschäft mit den Puritanern eingelassen. Die düstere, neblige Wildnis, die die Puritaner als Stadt auf dem Hügel bezeichneten, erbaut für die auserwählten Kinder Gottes, verursachte Kapitän de Graaf stets Albträume. Von Jahr zu Jahr wuchs sein Widerwille gegen den jährlichen Besuch im Hafen von Boston. Und gleich zweimal in einem Jahr dorthin zu segeln verdarb ihm die Stimmung bis Weihnachten.
»Reyes!«, rief der Kapitän seinem spanischen Diener zu. »Leg meine Perücke und den Mantel bereit, und vergiss nicht die wollenen Strümpfe. Wir ankern bald.« Selbst im Frühsommer ließ die Küste von Neuengland sein Blut gefrieren. »Sag dem Koch, er soll
den Grog bereiten. Ich will ihn schön heiß.« Er drehte sich um und rief auf Französisch nach dem Quartiermeister, dem er befahl, den Auktionstisch aufzustellen.
Obwohl er als Sohn einer Mulattin in den Niederlanden geboren und mit dem merkwürdigen Dialekt der Sklaven aufgewachsen war, hatte man den Kapitän schon früh zu einem Vetter seines niederländischen Vaters in die Lehre gegeben, der als Quartiermeister in der spanischen Marine diente. Dort sollte er bleiben, bis er selbst als Seemann der spanischen Krone einberufen wurde. So sprach er Kastilisch fließender als sein heimatliches Niederländisch und konnte auch den vermischten Jargon der Sklaven verstehen, die er über den Atlantik beförderte. Französisch beherrschte er auch, erlernt von den Korsaren, die zehn Jahre zuvor sein spanisches Schiff gekapert und ihn eingeladen hatten, einer von ihnen zu werden. Kapitän de Graaf nutzte die Gelegenheit und wurde zum Freibeuter, der inzwischen zwei Schiffe befehligte, von denen ihm die Neptune das liebere war. Obgleich er einige französische Seeleute an Bord hatte, stammte seine Besatzung auf der Neptune zumeist von den britischen Inseln, so dass Kapitän de Graaf auch Englisch hatte lernen müssen. Vom Leben auf hoher See war seine Haut dunkel wie eine Vanilleschote gefärbt. Sonne und Seewind hatten seine wehenden Locken wie auch Augenbrauen, Bart und sogar die Wimpern der haselnussbraunen Augen zur Farbe frischen Biers gebleicht.
Der einzige Spanier unter ihnen war Reyes, ein Segelmacher, den der Kapitän aus seiner Zeit in der spanischen Marine kannte und der ihm als persönlicher Diener und, wenn nötig, auch als Bettgefährte diente. Reyes ging unter Deck, und der Kapitän sah zu, wie sich die Männer auf dem Achterdeck versammelten, die Segel einholten, die Ankertaue ausrollten, die Kanonen luden, um ihre Ankunft anzukündigen, und einander aus lauter Vorfreude auf den Landgang zubrüllten und auf die Schultern klopften. Der Kapitän schrie wieder nach dem Quartiermeister und wies ihn an, der Besatzung zu verkünden, dass niemand an Land gehen werde. Sie würden die Kaufleute mit dem Beiboot holen, die Ladung löschen und am selben Tag nach Virginia weitersegeln. Es war noch früh, und sie würden günstigen Wind haben, sobald sie den kalten Schatten des Bostoner Hafens hinter sich gelassen hatten. Die Küste von Neuengland erinnerte ihn zu sehr an das englische Verlies, in dem man ihn zu Beginn seiner ruhmreichen Freibeutertage eingekerkert hatte.
Die Kanone wurde abgefeuert, und er bekreuzigte sich dreimal. Obwohl Lutheraner, war Kapitän de Graaf ein abergläubischer Mensch und hatte viele Gewohnheiten der Spanier übernommen.
»Die kleine Hure, hija de puta, hat schon wieder eine Schweinerei in Eurer Kajüte veranstaltet, mi capitán«, verkündete Reyes, als er aufs Achterdeck zurückkehrte.
»¡Joder, hombre! Beim Schwanz des Teufels!«, fluchte der Kapitän. »Du solltest doch auf das Weibsbild aufpassen. Was denn jetzt? Hat sie wieder Feuer gelegt?«
»Sieht aus, als hätte sie sich Euer Logbuch vorgenommen, Sir. Überall Kratzer wie von Hühnerkrallen.«
»Verflucht sei ihre Hure von einer Mutter!« Der Kapitän schob sein Fernrohr zusammen. »Warum haben wir sie nur wieder freigelassen, Reyes?«
Mit zusammengepressten Lippen folgte Reyes dem Kapitän die Leiter hinunter. Am liebsten hätte er gesagt: »Du hast ihr Dirnenfleisch begehrt, seit sie an Bord kam«, doch el capitán de Graaf, der berüchtigte Lorencillo, die Geißel der Karibik, hasste Unverschämtheiten wie die Pocken. »Letzte Nacht habt Ihr sie gewollt, mi capitán.« Reyes versuchte, die Eifersucht in seiner Stimme zu verbergen. »Ihr wisst, dass sie es Euch jedes Mal heimzahlt.«
»Zur Hölle mit ihr! Ich hätte sie in Campeche lassen sollen. Was will ich bloß mit diesem verrückten Weib an Bord?«
Mit der halbblütigen mexikanischen Hure, hätte Reyes ihn gern korrigiert, beherrschte sich aber aufs Neue. In der Kajüte warf der Kapitän zornig die Arme in die Luft. Das Weibsbild hatte das Tintenfass auf den Boden gekippt und die Tinte auf der Bettwäsche verschmiert. Die beschriebenen Seiten seines Logbuchs waren mitten durchgerissen, und die übrigen ... Der Kapitän schob die Lampe über den Schreibtisch, um besser sehen zu können. »Bei deinem Leben«, murmelte er, »das sind keine Hühnerkrallen, du Schwachkopf! Das ist die Kalligraphie eines gelernten Schreibers.«
Auf eine Seite hatte das Weib wieder und wieder den Namen Jerónima geschrieben, auf die anderen ein langes Gedicht, und das alles von so eleganter und verschnörkelter Hand, dass er sich im Verdacht bestätigt sah, das Halbblut, das ihm in den vergangenen fünf Wochen zur Unterhaltung gedient hatte, sei im Kloster erzogen worden. Weshalb sie sich mit den Negern eingelassen hatte, wusste er nicht. Unter Freibeutern war es nicht üblich, Indianerinnen oder Mischlinge als Sklaven zu nehmen, doch das Mädchen war mit einer der Negerinnen befreundet gewesen, die er in Veracruz erbeutet hatte, und hatte ihn angefleht, sie mitzunehmen, war sogar vor ihm auf die Knie gefallen und hatte seine Lenden geküsst und versprochen, alles zu tun, was er wolle, wenn er sie nur an Bord der Neptune ließe. Kapitän de Graaf hatte eine Schwäche für mutige Frauen. Außerdem war er noch nie mit einem Weib ins Bett gegangen, dessen Augen verschiedene Farben hatten: eins dunkel wie Jamaika-Rum, das andere grün wie französischer Chartreuse.
Zunächst zeigte sich das Mädchen pflichtbewusst und gehorsam, obwohl es Jungfrau war und jedes Mal weinte, wenn er es nahm. Dann holte sich die Negerin, mit der sie befreundet war, von einem Sklaven, den sie in Havanna an Bord genommen hatten, die Pocken. Sein Quartiermeister hatte befohlen, alle über Bord zu werfen, damit sich der Rest der Ladung nicht ansteckte. Seither wanderte das Halbblut über Deck, heulte wie eine Irre und rief nach seiner Freundin.
Gegen Mittag, wenn die Sklaven auf Deck gebracht wurden, um zu essen und sich zu bewegen, der Haufen Männer an der Steuerbordseite, die Frauen an Backbord, brachte das Mädchen das Essen und sang dabei so wehklagend das Ave Maria, dass die Sklaven und auch einige irische Seeleute in Schluchzen ausbrachen. Der Koch sagte, das Mädchen habe ihm in der Kombüse geholfen und dabei mit einer schwarzen Figur gesprochen, die es in einem winzigen Beutel um den Hals trage. Die Kleine könne stundenlang am Heck stehen, aufs Wasser starren, den Stürmen, Böen und sogar den Neckereien und Berührungen der Seeleute trotzen, einen unsichtbaren Rosenkranz in den Händen, während sie die Lippen in stummem Gebet bewegte. Wenn der Kapitän sie in sein Bett holte, sah sie ihn aus irren, verängstigten Augen an und rief ein gereimtes Gedicht - etwas über verstockte Männer und das Fleisch des Teufels -, bis er fertig war.
Eines Abends hatte sie beinahe den Koch kastriert.
Der Koch, so berichtete er dem Kapitän, habe in seiner Hängematte gedöst und nicht die Hand an seinen Lenden gespürt, die seine Kniehose aufschnürte, bis sie sein Glied hochnahm. Er konnte riechen, dass es das Halbblut war, das ihn berührte, und hielt die Augen geschlossen, weil er etwas anderes erwartete und rasch anschwoll. Er schrak erst zusammen, als sich die Spitze der Klinge in sein Fleisch bohrte. Im Schein der Laterne funkelten die Augen des Halbbluts wie die einer Wahnsinnigen. Der Koch verdrehte ihr das Handgelenk, worauf sie die Klinge in seine Hoden stieß. Er ließ sie los. Sie rannte aus der Kombüse und stieß, dessen war sich der Koch sicher, Flüche in ihrer heidnischen Zunge aus.
»Das Weib hätte mich fast verschnitten, Kapitän.«
»Hat sie dir Schaden zugefügt, Koch?«
»Schwer zu sagen, Sir, ich denke nicht. Hoffentlich nur ein bisschen Blut.«
»Dann wirst auch du sie nicht beschädigen, verstanden?« »Aye, Sir.«
»Warne die anderen. Ein ermordetes Weib bringt schlechten Wind. Sie soll in Ruhe gelassen werden. Man hätte sie überhaupt niemals anrühren dürfen.«
»Bei allem Respekt, Kapitän, aber sie ist eine Gefahr für die Besatzung, das ist meine Meinung. So wie sie sich an einen heranschleicht. Und dann die schwarze Puppe, mit der sie ständig flüstert, dieses Voodoo-Ding, das sie um den Hals trägt.«
»Die Männer können selbst auf sich aufpassen, Koch. Ich an deiner Stelle würde mir eine andere Gespielin suchen. Das Weibsbild findet keinen Gefallen an unserem Zeitvertreib. Und was die Figur angeht, mit der sie ständig redet, ist das keine Voodoo-Puppe. Ich habe sie selbst gesehen. Es ist nur ein Spielzeug.«
»Komische Spiele, Kapitän.«
»Wer kennt schon die Frauen?«
»Aye, bei Gott, das ist ein wahres Wort, Sir.«
Der Kapitän dachte, das Mädchen habe völlig den Verstand verloren, doch die Schrift auf der Seite bewies, dass er sich irrte und durchaus Hoffnung bestand, sie zu einem anständigen Preis loszuschlagen. Der Kapitän überflog die Strophen des Gedichts und lachte in sich hinein, weil ihm Fortuna ein so wertvolles Gut geschenkt hatte. Das war kein einfaches Weibsbild. Wer immer sie wollte, würde sie nicht unter Wert bekommen.
»Reyes! Schnell, geh sie holen! Ich muss mit ihr reden, bevor die Kaufleute kommen.«
Als Reyes gegangen war, nahm der Kapitän am Schreibtisch Platz, tauchte seine Feder in die dicke Tintenpfütze, die allmählich in die Bodenbretter sickerte, und setzte einen Kaufbrief auf.
Ich, Kapitän Laurens-Cornille de Graaf, Kommandeur der Freibeuterfregatte Neptune, verkaufe hiermit diese Halbblutfrau, die im Krieg an der Küste von Neuspanien gefangen genommen und zur Sklavin gemacht wurde. Ihr Name lautet Jerónima. Sie ist ungefähr zwanzig Jahre alt. Hat noch alle Zähne. Ist gegen Pocken immun. Sie ist von robuster Gesundheit und kann lesen und schreiben, weshalb ich ihren Preis auf fünfzig Pfund Sterling festsetze. 21. Juni 1683
Der Kapitän unterzeichnete die Urkunde, streute Sand über die Tinte und goss sich einen anständigen Schluck spanischen Brandys in einen polierten Silberkelch, um sein Glück zu begießen. Wenn man etwas Gutes über die Puritaner sagen konnte, dann war es die Tatsache, dass sie eine schöne Handschrift zu schätzen wussten, sogar bei einem Weibsbild. Er hörte die Kanonen im Hafen und wusste, dass die Kaufleute aus Neuengland unterwegs waren.
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Autoren-Porträt von Alicia Gaspar de Alba
Susanne Goga, geb. 1967, ist eine renommierte Literaturübersetzerin und Autorin. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Mönchengladbach.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alicia Gaspar de Alba
- 2010, 510 Seiten, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Goga-Klinkenberg, Susanne
- Übersetzer: Susanne Goga-Klinkenberg
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596180821
- ISBN-13: 9783596180820
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