Die letzte Kolonie
Zwischen den grünen, bergigen Inseln der Karibik wirktAnguilla wie ein Missgriff, ein schlechter Scherz. Die Insel ist fünfundzwanzigKilometer lang und drei Kilometer breit und so flach, dass die Anguillaner bei Richtungsangabennicht sagen, man solle sich links oder rechts halten, sondern man solle nach Ostenoder Westen gehen. Anguilla ist steinig und dürr. Es gibt keine Palmen, keinehohen Bäume. Oberhalb der Strände, die noch genauso aussehen, wie sie bei Kolumbus Landung ausgesehen haben dürften, befinden sich Mangrovendickichte. Die Wälder,die es damals gab, sind längst abgeholzt; als Köhler und Bootsbauer sind dieAnguillaner die natürlichen Feinde von allem, was grün ist und so aussieht, alswolle es groß und stark werden. An einigen Stellen wuchs früher Zuckerrohr,aber selbst in den Tagen der Sklaverei war Anguilla niemals eine Insel der Plantagen.Im Jahr 1825, neun Jahre bevor im britischen Empire die Sklaverei abgeschafftwurde, gab es hier etwa dreihundert Weiße und dreihundert freie Farbige, in derMehrzahl Gemischtrassige. Dazu kamen etwa dreitausend schwarze Sklaven. Siestellten eine Belastung dar. Während auf anderen karibischen Inseln dieSchwarzen an Samstagen freibekamen, um ihr eigenes Stückchen Land zubearbeiten, ließ man auf Anguilla die Schwarzen die Hälfte der Woche laufen,damit sie sich ihre Nahrung beschaffen konnten. Heute zählt Anguilla nur etwazwölftausend Bewohner. Die Hälfte von ihnen lebt beziehungsweise arbeitet imAusland: auf den zu den USA gehörigen Virgin Islands, in Harlem und in der StadtSlough in Buckinghamshire, in Anguilla unter dem Kürzel Sloughbucks bekannt.Auf die meisten von ihnen aber warten Häuser oder Anwesen, in die siezurückkehren können; die öde Insel ist schon lange aufgeteilt. Mitte Dezembervergangenen Jahres, als ich mich dort aufhielt, füllte sie sich gerade, weilWeihnachten vor der Tür stand. Seit der Rebellion im Jahr 1967, als Anguillaaus dem Commonwealth- Staat, zu dem es sich mit St. Kitts und Nevis zusammengeschlossenhatte, wieder ausschied, hat keine Viscount der Fluglinie LIAT, LeewardIslands Air Transport (»Wir fliegen die alten Freibeuterrouten«), die Inselmehr angeflogen. Die Anguillaner aber gründeten (nachdem sie einen Amerikaner undseine DC-3 zum Teufel geschickt hatten) drei eigene, erbittert miteinanderkonkurrierende kleine Fluglinien: Air Anguilla, Anguilla Airways undValley Air Services, jede mit besonderer Uniform und mit eigenen, fünfPassagiere fassenden Piper-Aztec-Maschinen, die regelmäßig für einen Preis vonfünf Dollar den fünfminütigen Katzensprung von St. Martin absolvieren. Mehr alsjede andere Gemeinschaft in der Karibik besitzen die Anguillaner einHeimatgefühl. Das Land gehört seit unvordenklichen Zeiten ihnen; keinedemütigenden Erinnerungen sind damit verknüpft. Herrschaftsbauten wie auf St.Kitts gibt es hier nicht, nicht einmal in Form von Ruinen. Für die Anguillanerbeginnt die Geschichte mit dem Mythos eines Schiffbruchs. So kamen die weißenGründungsväter, die Ahnen der mittlerweile vielfarbigen Sippen der Flemings,Hodges, Richardsons, Websters, Gumbs ins Land. Wann die Schwarzen kamen, istnicht ganz klar. Nach Auskunft der meisten wurden sie als Sklaven importiert.Ein junger Mann allerdings wusste sicher, dass es sie bereits vor demSchiffbruch auf der Insel gegeben hatte. Ein anderer meinte, sie seien ein,zwei Jahre nach dem Schiffbruch eingetroffen. Von woher oder warum, wusste ernicht. »Den Teil habe ich vergessen.« Die Vergangenheit spielt keine Rolle. DieAnguillaner leben schon zu lange wie eine Gemeinschaft Schiffbrüchiger. Sonderlichgebildet sind sie nicht. Dafür besitzen sie andere Fertigkeiten wie denBootsbau und die Religion, die sie ständig in Atem hält. Kaum ein Anguillanerhandelt ohne göttliche Lenkung. Der Exodus der Inselbewohner nach Sloughbucks, derim Jahr 1960 begann, geschah mit dem Segen Gottes; ähnliches Gottvertrauensteckt auch hinter der Abspaltung von St. Kitts und der Tollkühnheit vieleranderer anguillanischer Entscheidungen der neueren Geschichte. Trotz ihrer Nähezu Gott sind die Anguillaner nicht fanatisch. Sie haben die Aufgeschlossenheitder Schwarzen für neue Glaubensrichtungen. Vor acht Jahren überdachte Mr.Webster, der inzwischen abgesetzte Präsident, seine Haltung zu Gott und wechseltevierunddreißigjährig von den Anglikanern zu den Adventisten vom Siebenten Tag.Er wünschte, auf der Insel mehr und vielfältigere Missionsaktivitäten zu sehen.»Wenn die Zeugen Jehovas oder irgendeine andere Konfession eine oder zehnSeelen bekehren, dann tun sie ein gutes Werk und dienen der Gemeinschaft. UnserGrundanliegen ist nämlich, die Anguillaner so fromm wie möglich zu erhalten.Das hält Egoismus und Unmoral fern.« Die Insel besitzt ihren eigenen Propheten,Richter Gumbs oder »Bruder George Gumbs (Prophet)«, wie er seine Botschaften andas neu gegründete Wochenblatt der Insel unterschreibt. Er genießt durchausAchtung; Hoch und Niedrig holen seinen Rat ein. Wenn der Geist über ihn kommt,macht er mit Querpfeife und Trommel die Runde; der »kleine schwarze Mann mitMütze« (anguillanischer Originalton) zieht predigend und manchmal vor Unheilwarnend umher. Es heißt, irgendein bestimmter Ort, ein Feld, ein Stück Straßeversetze ihn in Aufruhr und ein paar Tage später ereigne sich dann das Unglück.Im Dezember, drei oder vier Tage, nachdem Mr. Webster erklärt hatte, Anguillawerde aus dem Commonwealth vollständig aus- scheiden, war Richter Gumbsunterwegs, um zu predigen. Ich erlebte ihn zwar nicht, bekam aber erzählt,Neuigkeiten habe er keine verkündet; er habe die Leute nur aufgefordert zu beten.Keine Kunde von Richter Gumbs war gute Kunde. Es gibt Loyalitätsstrukturen, diedem Zusammenhalt der Gemeinschaft dienen: In Krisenzeiten übernehmen bestimmte Familiendie Verantwortung und handeln beziehungsweise entscheiden für die anderen. DasMuster dieser Loyalitätsverhältnisse ist uralt, seine Herkunft lang vergessen.Die Hautfarbe ist dabei ohne Belang, und nichts ärgert die Anguillaner mehr alsdie propagandistische Behauptung von der mehr als hundert Kilometer entferntenInsel St. Kitts, die Abspaltung Anguillas sei die Abspaltung einerSklaveninsel, auf der die Schwarzen treu und brav den Weißen und Braunhäutigenfolgten. Die Loyalitäten sind anguillanische, und die Anguillaner bezeichnen sichselbst als Schwarze. Mr. Webster, der jeder Ethnie zwischen dem Mittelmeer undIndien entstammen könnte, versteht sich als Schwarzer. Tatsache ist, dass dieAnguillaner mit dem Sinn für Geschichte auch den Sinn für rassische Identitätverloren haben. Das ist nicht leicht zu vermitteln, schon gar nicht der InselSt. Kitts, die mittlerweile mit ihrer eigenen Version von Black Power Politikmacht. (...)
© Claassen Verlag
Übersetzung: Ulrich Enderwitz
- Autor: Vidiadhar S. Naipaul
- 2005, 333 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Enderwitz, Ulrich
- Verlag: CLAASSEN VERLAG
- ISBN-10: 3546003926
- ISBN-13: 9783546003926
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