Die letzten Tage
Karen ist Psychotherapeutin in San Francisco. Eines Tages bekommt sie einen seltsamen Brief, der aussieht, als hätte ein Kind einen verzweifelten Hilferuf geschrieben. Karen geht der Sache nach und findet Hinweise auf eine mysteriöse Sekte, die...
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Produktinformationen zu „Die letzten Tage “
Karen ist Psychotherapeutin in San Francisco. Eines Tages bekommt sie einen seltsamen Brief, der aussieht, als hätte ein Kind einen verzweifelten Hilferuf geschrieben. Karen geht der Sache nach und findet Hinweise auf eine mysteriöse Sekte, die vor Jahren wegen grausiger Ritualmorde für Schlagzeilen sorgte. Gibt es traumatisierte Überlebende, die auf Rache sinnen? Karen ahnt nicht, in welche teuflischen Machenschaften sie gezogen wird.
Lese-Probe zu „Die letzten Tage “
Die letzten Tage von Alex Chance1
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Ein Telefonbuch kann, insbesondere in den Augen eines Wahnsinnigen, etwas Faszinierendes sein. Hunderttausende von Namen und Stimmen, die man erreichen kann, einfach indem man die entsprechenden Kombinationen von Plastikknöpfen drückt. Namen, aber keine Identitäten. Woher wissen wir, dass ein Mr M. Peterson sich irgendwie von einem anderen Mr M. Peterson unterscheidet? Es gibt natürlich die Adressen, und bedauerlicherweise werden wir gleich darauf zu sprechen kommen müssen, aber betrachten Sie fürs Erste nur die Namen, die beiden Petersons, in einem Buch, das so groß ist, dass es wumm macht, wenn man es auf einen Beistelltisch oder eine Küchentheke fallen lässt.
Natürlich ist es trotz eines identischen Eintrags im Telefonbuch sehr wahrscheinlich, dass die beiden Petersons sich tatsächlich unterscheiden - vielleicht durch feine, vielleicht durch gewaltige Gegensätze ihrer Persönlichkeiten, aber vermutlich wird es Letzteres sein. Ein Mr Peterson verbringt seine Sommerferien vielleicht als Park Ranger, durchstreift die Wildnis von Montana, pinkelt diskret hinter Bäumen, bewundert Sonnenuntergänge und runzelt missfällig die Stirn, wenn er irgendwo Müll entdeckt. Der andere Mr Peterson dagegen probiert möglicherweise gerade in diesem Augenblick in einem Motel mit seiner Sekretärin eine neue Position aus, die er in einem Film gesehen hat, und denkt gleichzeitig über seine Steuererklärung nach. Beide könnten Freimaurer sein, Katholiken oder Juden, könnten eingewachsene Zehennägel haben, in ihrer Kindheit geschlagen worden oder selbst vorbestraft sein. Sie könnten ihre Frauen und ihre Kinder lieben und in ihrer Freizeit mit Waffen auf unbelebte Dinge schießen. Vielleicht haben sie aber auch rein gar nichts gemein außer dem einen Namen, und vermutlich verhält es sich genau so (abgesehen davon, dass beide die Red Sox mögen, weil schon ihre Väter es getan haben).
Aber die Wahrheit ist, dass sie auf jeden Fall zweierlei gemein haben: Erstens einen Klang, der aus irgendwelchen Gründen schließlich bedeutet, wer sie sind, und von irgendjemand Klugem, der wahrscheinlich schon tot ist, in gedruckte Linien, Bögen und Punkte übersetzt und auf eine so gleichartige Weise angeordnet worden ist, dass man ihn mit einem Blinzeln auf der Seite dieses Buches, das schwer genug ist, um es als Waffe einzusetzen (wumm), auch schon wieder verloren hat. Das Zweite ist der Umstand, dass es überaus überraschend wäre, wenn sowohl Mr M. Peterson als auch Mr M. Peterson nicht irgendwelche hässlichen, sehr hässlichen Geheimnisse versteckt hätten.
Das Papier im Telefonbuch ist hauchdünn. Eine Seite vor den M. Petersons und den N. Petersons und den beiden O (Oswald und Orin Peterson, tatsächlich Brüder, beide Versicherungsvertreter) finden sich neue Spalten mit Namen, unmöglich, sie alle gleichzeitig zu lesen. Wenn man das Papier ins Licht hält, sieht man weitere Namen, rückwärts geschrieben wie Spiegelschrift und verschwommen wie Geister.
Überfliegen Sie das Telefonbuch, lesen Sie es nicht, da wir in einem Buch voller Fremder eigentlich nichts zu suchen haben.
Jon Peterson war die beste Reklame für Geheimnummern, die es je gab. Wenn er das Telefonbuch in beiden Händen hielt, fühlte Jon sich wie der Gott seiner kindlichen Fantasien, der Gott, der die grüne und blaue Erde hielt wie einen Fußball und willkürlich den Daumen nach unten reckte und damit Millionen von Menschen tötete und Tausende winziger Sirenen hörte, wenn die Feuerwehren gegen die Sinnlosigkeit kämpften, winzige Feuer zu löschen. Es würde wahrscheinlich auch Plünderungen geben unter jenen, die zurückblieben, ganz zu schweigen von den Millionen, die unter dem Daumen selbst zerquetscht würden, so bedeutungslos für Jons Gott, dass er den Finger in den Mund stecken konnte und nichts schmecken würde als eine Erinnerung an das, was er sich am Morgen zum Frühstück gemacht hatte, und dies trotz der ungezählten Leiber, die in den Furchen seines Daumenabdrucks wie zerquetschte Insekten festgeklebt sein mussten.
Jon besah sich zum tausendsten Mal seinen eigenen Namen im Telefonbuch, J. Peterson, und staunte darüber, wie ähnlich er allen anderen sah, die dort aufgelistet standen. Eine fantastische Tarnung, die keinerlei Mühe kostete. Er befand sich eingeschmiegt zwischen den anderen J. Petersons, die ihn, ohne nachzudenken, als einen der ihren, als Teil der Herde akzeptiert hatten.
Jon war fasziniert von Telefonbüchern (und einigen anderen, weniger harmlosen Dingen). Es gab wohl Hunderte davon in seinem Haus, auch aus so entlegenen Gebieten wie China und Japan, England und Frankreich. Aber er war kein Sammler, falls es Sammler solcher Dinge gibt. Er suchte nach einem Namen, und je mehr Bücher es gab, umso mehr Namen gab es, und je mehr Namen es gab, umso größer war die Auswahl.
Unglücklicherweise war diese Auswahl nicht vollkommen willkürlich, sosehr der Perfektionist in ihm sich das gewünscht hätte. Die ausländischen Telefonbücher dienten lediglich seiner eigenen Unterhaltung, dienten dazu, ihm ein größeres Machtgefühl zu verleihen. Aus praktischen Gründen würde der Name, den er zu guter Letzt auswählte, der eines Menschen sein, dessen Wohnsitz sich in Amerika befand. Es erfüllte ihn mit einem Gefühl von Macht, sich den Rest der winzigen Fußballwelt vorzustellen, wie er einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, wenn er dies erfuhr, und es brachte ihn auf eine Weise zum Lächeln, die Tiere verschreckt hätte.
Außerdem würde der Name in einer Stadt zu finden sein, denn in einer Stadt konnte man sich unbemerkt bewegen.
Es würde eine Frau sein. Es musste eine Frau sein, das war abgemachte Sache, aber Jon rühmte sich dennoch, jemand zu sein, der jedem die gleiche Chance gab. Dies war außerdem der Grund, warum fremdländische Namen niemals unverzüglich verworfen wurden, obwohl Jon der Erste gewesen wäre, der zugab, dass er niemals viel Zeit unter den Ahmeds und den Wongs verbrachte.
Aber der praktische Teil war so langweilig, die Regeln dafür verstanden sich von selbst, der ganze Kram über das Auswählen einer Stadt, einer in Amerika. Jon hatte weit mehr Zeit auf die philosophischen Aufgaben verwendet. Vor allem hatte er darüber nachgedacht, dass manche Menschen glaubten, ein Name habe nichts zu bedeuten, er sei nur ein Klang oder eine Ansammlung von Klängen - was wirklich zähle, sei aber die Persönlichkeit und so weiter. Das tat Jon als die schlimmste Art von Unsinn ab. Er sah seinen Namen in seiner eigenen Handschrift beinahe jedes Mal, wenn er etwas von Bedeutung kaufte, und wie jeder weiß, ist die Tätigung eines Geschäfts mit das Wichtigste, was eine Person tun kann. Wie sollte das ohne Wirkung bleiben? J. Peterson erschien ihm als solide und gewöhnlich, als so amerikanisch wie Erdnussbutter und Golfplätze, trotz oder vielleicht gerade wegen seines europäischen Ursprungs. Er stellte sich einen Sklaven vor, der den Namen nach seiner Befreiung angenommen hatte. Er sah den Namen eingeprägt in Messingschilder an Bürotüren und auf der fettigen Namensplakette eines Verkäufers an irgendeinem Drivein-Schalter. Vorzüglich liebte er die Genauigkeit dieses Namens, seine wunderbare Genauigkeit, denn es war sein Name.
Jon wollte, dass seine Bemühungen ihn zu einer Person mit großem Potenzial führten, denn dann würden die späteren Übungen mehr Freude machen. Er hatte einen früheren Teil des Abends damit zugebracht, sich die Clevers in diesem Buch anzusehen, also Menschen, die Clever hießen (von denen es drei gab), sich aber nach einer Stunde gründlichen Abwägens gegen sie entschieden - aus Sorge, dass sie vielleicht nicht schön waren. Das war auf indirekte Weise für ihn ein wichtiges Kriterium geworden. So war er dann auf die Prettys zurückgekommen - aber weniger aus Überzeugung, sondern weil es ihn erheitert hatte.
Die Suche war nicht frustrierend gewesen, obwohl der Prozess sich über Monate erstreckt hatte. Und schon bald würde ein Individuum vor seinen Augen zum Leben erwachen, würde durch sein Monogramm leuchten wie Christus am Kreuz. Jon konnte warten, wohl wissend, dass es irgendeine Art von Epiphanie sein würde. Das spornte ihn an, ließ ihn auf die Namen starren, bis sie sich in sein Gehirn brannten.
Drei Uhr morgens jetzt, und er musste früh aufstehen. Jon rieb sich mit dem Zeigefinger und dem Zivilisationen zerquetschenden Daumen über den Nasenrücken und bedachte die harte Arbeit, die es noch zu tun galt. Das große Buch auf seinem Schoß wurde leise geschlossen und auf einen Stapel ähnlicher Telefonbücher geschoben, die aufs Sorgfältigste nach den Prioritäten, wenn man so wollte, eines Wahnsinnigen geordnet waren.
Selbst wer in einer nordamerikanischen Stadt lebte und gewusst hätte, was Jon tat, konnte sich durch dessen selbst auferlegtes Zufälligkeitsprinzip relativ sicher fühlen, im Schutz der Herde von Millionen und Abermillionen dicht gedruckten Namen und Identitäten, die sich hinter den dazugehörigen Nummern und Adressen verbargen. Wenn man L. M. Victim - Opfer - hieß und sich für einen großen, blickeheischenden Eintrag im Telefonbuch entschieden hatte, hätte man wahrscheinlich zu den am wenigsten Gefährdeten gehört. Der Wahnsinnige hatte hart gearbeitet, um seine Wahl beliebig zu halten, und das bedeutet für die vielen Furcht und Rettung zugleich. Er steht kurz davor, eine Entscheidung zu treffen. Das Telefonbuch heute Nacht war das von Philadelphia, Pennsylvania.
Morgen wird es wahrscheinlich ein anderes sein.
2
San Francisco.
»Das beste Stück ist das gleich nach der Straßenkreuzung.« »Wenn sie schneller fahren würde, wäre es wie Magic Mountain, hm, meine Süße?«
»Ja, Dad, Magic Mountain.« Sie freute sich, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Sie waren mit der Straßenbahn zu den üblichen Sehenswürdigkeiten gefahren und ließen sich jetzt von der California-Street-Linie einfach aus Jux und Dollerei herumkutschieren. So spät am Tag waren nicht mehr so viele Touristen unterwegs, und sie hatten jetzt reichlich Platz, um sich hinzusetzen, obwohl er sie nicht dazu überreden konnte, das auch zu tun.
»Sollen wir noch einmal in die andere Richtung fahren?« Jens Stimme klang wie die einer Mitverschwörerin.
»Das können wir machen.«
In Wahrheit begeisterte Dave Wiley diese Idee nicht sonderlich, so fantastisch ihr gemeinsamer halber Tag auch gewesen war. Zum einen wurde es Zeit, Jen zu ihrer Mutter zurückzubringen, und nach einem unerfreulichen Weihnachten (ihr zweites nach der Trennung) wusste er, dass es nicht gut wäre, gegen ein Karen-Ultimatum zu verstoßen. Es gab noch einen anderen Grund: Auf einer Bank am Wendeplatz des Plaza hatte bei ihrer ersten Fahrt ein merkwürdiger Mann gesessen. David argwöhnte, dass er noch immer dort sein würde, und der Finanzdistrikt leerte sich zusehends mit dem Heraufdämmern des Abends.
»Findest du diese Fahrerei nicht irgendwann langweilig?« »Daaad ... « Dave konnte ihre Augen nicht sehen, obwohl er wusste, dass sie sie gen Himmel verdrehte, eine Imitation von Mommy. Die Entscheidung lag bei seiner Tochter, da gab es keine Frage.
Der Tippelbruder auf der Bank war für einen Moment vergessen. Er hatte gedacht, dass das Aquarium seine Trumpfkarte für ihren gemeinsamen Nachmittag sein würde. Tatsächlich waren es doch eigentlich Jungen, die Züge, Autos und überhaupt Dinge mochten, die sich bewegten.
Klein Jen lächelte über ihre Schulter hinweg und brachte sein Herz zum Schmelzen. Dann hielt sie das Gesicht wieder in die süße, kalte Brise der Bucht und posierte für ihn mit den langen Locken ihres roten Haares, die hinter ihrem Kopf wogten, wie die Galionsfigur am Bug eines mystischen Schiffes.
Dave begriff nicht, dass es ihr eigentlich um die Ausblicke ging: San Franciscos gewaltige, abschüssige Canyons der Zivilisation, flüchtige Blicke auf die Bay Bridge zwischen den Gebäuden, die Lichter auf den Verstrebungen, die gerade durch den leichten Nebel des frühen Septemberabends zu leuchten begannen. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in der Bay Area und vier Jahre in der Innenstadt verbracht und war bisher doch erst dreimal mit der Straßenbahn gefahren, jedes Mal außerstande, sich allzu weit aus der schützenden Umklammerung ihrer Mom zu befreien. Die Bahn kam ohnehin nur geringfügig schneller voran als ein rennender Mensch, trotz des verrückten Auf und Abs. Im letzten Sommer hatte sie voller Neid beobachtet, wie einige Touristen - Jungen im Teenageralter, zu jung, um ihnen Fotoapparate anzuvertrauen - auf dem Trittbrett mitgefahren waren. Einer von ihnen war blond gewesen, mit weicher Haut und von langen Wimpern umkränzten dunklen Augen, und die Brise hatte sein Haar geteilt. Er hatte sie ertappt, als sie sein Profil betrachtete, und ihr seine rosige Zunge herausgestreckt. Sie war ganz zappelig geworden vor Verlegenheit und wollte den klebrigen Bonbonriegel, den Mom für die Fahrt mitgenommen hatte, aus irgendeinem Grund nicht mehr. Diesmal durfte sie vorn im Wagen stehen, wo nichts die Aussicht verstellte, und sie fand es herrlich, über Taylor jetzt, die steilsten Abfahrten unmittelbar vor ihnen, ein Klingeln der Glocke, einige theatralisch gebrüllte Befehle, die Arme nicht aus der Bahn zu strecken.
Eine Weile zuvor hatte sie gesehen, wie der Bremser und ihr Vater ein Lächeln gewechselt und sie selbst im nächsten Moment gleich mit einbezogen hatten, ertappt in ihrer väterlichen Nachsicht wie kleine böse Jungs mit Knallfröschen. Sie wusste instinktiv, dass der Bremser eine Tochter hatte oder sich eine wünschte, und ein Kitzel durchzuckte sie wie Elektrizität köstlich von Kopf bis Fuß. Lächelnd widmete sie sich wieder dem Poltern der Bahn über die Steine und konzentrierte sich darauf, wie es ihr bis in die Zähne wehtat.
Jen war die elfjährige Prinzessin ihrer Stadt.
Nur ein Mensch mit dunklem Herzen würde ihr das jetzt verweigern.
Morgen war der letzte Tag der Konferenz der Psychoanalytiker, und Karen Wiley hatte auf dem Heimweg im Wagen beschlossen, dass sie ihn versäumen würde. Drei Tage, an denen sie Therapeuten alter Schule dabei zugeschaut hatte, wie sie sich gegenseitig auf den Rücken klopften, waren genug gewesen. Es hatte sein Gutes, dass ihre erste Konferenz nach bestandenem Examen in unmittelbarer Nähe stattfand - über die Brücke bis zu ihr nach Hause war es nur ein Katzensprung. San Diego an Thanksgiving würde sie nicht machen. Die Organisatoren arrangierten stets Zimmer in über die Feiertage verlassenen Wohnheimen, und die Betten dort waren für gewöhnlich von einer Art, die sie nicht einmal einem klösterlichen Orden zugemutet hätte.
Dave würde Jen bald zurückbringen, und der Abend würde ihnen gehören.
Der Flur vor ihrer Wohnung im ersten Stock eines Dreifamilienhauses in Russian Hill war menschenleer, und Karen dankte ihrem Schicksal zum tausendsten Mal für ihre Vermieter - ältere Nachbarn, die für eine ledige Mutter alles getan hätten. Nach zwei Tassen Malzmilch verabschiedete sie sich dort gegen acht. Mit ihrem leichten Mantel, der relativ neuen schwarzen Aktentasche und dem Schlüsselbund in den Händen blieben ihr nur die Zehen, um die schwergängige Tür aufzudrücken, aber schließlich öffnete sie sich. In der Wohnung Lichter an und Jens wegen die Kette nicht vorlegen. Dann die Stiefel, der letzte Kampf des Tages, mit einer Hand haltsuchend an die Wand gestützt, und schließlich die ultimative Sinnenfreude ihres Zuhauses, der dicke Teppich unter bestrumpften Füßen.
Jetzt Wein und Musik.
Ein weiterer Schalter umgelegt, und die Küchenzeile hatte ihr Bühnenlicht. Delilah, die zweimal die Woche sauber machte und ein vertrauenswürdiger Babysitter war, hatte die Post aus dem Briefkasten unten heraufgebracht und auf die Küchentheke gelegt. Es waren drei Umschläge. Karen nahm sie mit zum Kühlschrank hinüber. Eine Rechnung, ein Schreiben von der Telefongesellschaft und ein Brief unbekannter Herkunft mit ihrem Namen und ihrer Adresse darauf, maschinengeschrieben. Der Poststempel aus Canaan in Utah fiel durch sein ungewöhnlich kunstvolles Design auf.
Völlig fremde Post bekam Karen relativ selten. Wenn es keine klar erkennbare Reklame war, keine Rechnung und kein Brief von einem entfernten Verwandten (aber sie kannte niemanden aus Utah), dann konnte es sich sehr gut um ein Schreiben von jemandem handeln, der an die Küste zog und vielleicht Interesse bekundete, ein neuer Klient zu werden. Karen brauchte Klienten.
Zwei Jahre nach der Scheidung, achtzehn Monate nach der Kündigung ihres Jobs als Produzentin der Morgennachrichten bei einem Lokalsender der Fox hatte ihr Therapiegeschäft sich nicht einmal annähernd so gut entwickelt, wie sie es erwartet hatte.
Ein Weinglas aus dem Schrank wurde mit eiskaltem Zinfandel gefüllt und dem Geruch wilder Erdbeeren. Da sie aufgehört hatte, Fingernägel zu kauen, als Dave gegangen war, gelang es ihr mühelos, den Umschlag aufzuschlitzen.
Schon bevor sie das Papier glatt gestrichen hatte, wusste sie, dass dies kein gewöhnlicher Brief war. Es gab weder einen Absender noch eine Unterschrift. Zuerst sah er wie ein leeres Blatt Papier aus, bis sie ihn in der Mitte fasste und auch das untere Drittel der Seite ausklappte. Dort standen zwei Reihen in spitzer kleiner Bleistiftschrift, die sich nur mit zusammengekniffenen Augen lesen ließen.
Hilf mir oh Gott hilf mir er wird mir wehtun wenn du nicht machst was er sagt liber Jesus fromm und mild blick auf dieses kleine Kind rette mich Jesus rette mich
Einfach so, Worte, deren Bedeutung ineinander verlief in eine Flut überwältigender Panik.
Karen Wiley, die sich schon immer zu helfen gewusst hatte, blieb ruhig. Sie nahm die Nachricht zur Kenntnis wie einen Notruf, der nur zufällig dank einer Funkstörung zu hören war, wie eine polizeiliche Meldung, die plötzlich im Autoradio den Wetterbericht unterbrach.
War das alles?
Nein, denn vollkommen gegen ihren Willen schien ihr jetzt Adrenalin durch die Adern zu pulsieren.
Sie dachte an das blaue Kontrastmittel, das einigen Röntgenpatienten injiziert wird und sich bis in die Finger und Zehen ausbreitet.
Der Wein wurde behutsam auf die marmorne Arbeitsfläche gestellt, das Glas schlüpfrig von Kondenswasser, das an ihren Fingern haftete und einen blassen Fleck auf dem Brief hinterließ, als sie ihn in der Hand drehte, ihn abermals überflog, dann nach dem Umschlag griff und sich davon überzeugte, dass es wirklich ihr Name und ihre Adresse waren, die in Maschinenschrift darauf standen. Sie legte den Umschlag beiseite und las die Nachricht noch einmal, gründlicher diesmal.
oh Gott hilf mir er wird mir wehtun
...
Übersetzung: Michaela Link
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ein Telefonbuch kann, insbesondere in den Augen eines Wahnsinnigen, etwas Faszinierendes sein. Hunderttausende von Namen und Stimmen, die man erreichen kann, einfach indem man die entsprechenden Kombinationen von Plastikknöpfen drückt. Namen, aber keine Identitäten. Woher wissen wir, dass ein Mr M. Peterson sich irgendwie von einem anderen Mr M. Peterson unterscheidet? Es gibt natürlich die Adressen, und bedauerlicherweise werden wir gleich darauf zu sprechen kommen müssen, aber betrachten Sie fürs Erste nur die Namen, die beiden Petersons, in einem Buch, das so groß ist, dass es wumm macht, wenn man es auf einen Beistelltisch oder eine Küchentheke fallen lässt.
Natürlich ist es trotz eines identischen Eintrags im Telefonbuch sehr wahrscheinlich, dass die beiden Petersons sich tatsächlich unterscheiden - vielleicht durch feine, vielleicht durch gewaltige Gegensätze ihrer Persönlichkeiten, aber vermutlich wird es Letzteres sein. Ein Mr Peterson verbringt seine Sommerferien vielleicht als Park Ranger, durchstreift die Wildnis von Montana, pinkelt diskret hinter Bäumen, bewundert Sonnenuntergänge und runzelt missfällig die Stirn, wenn er irgendwo Müll entdeckt. Der andere Mr Peterson dagegen probiert möglicherweise gerade in diesem Augenblick in einem Motel mit seiner Sekretärin eine neue Position aus, die er in einem Film gesehen hat, und denkt gleichzeitig über seine Steuererklärung nach. Beide könnten Freimaurer sein, Katholiken oder Juden, könnten eingewachsene Zehennägel haben, in ihrer Kindheit geschlagen worden oder selbst vorbestraft sein. Sie könnten ihre Frauen und ihre Kinder lieben und in ihrer Freizeit mit Waffen auf unbelebte Dinge schießen. Vielleicht haben sie aber auch rein gar nichts gemein außer dem einen Namen, und vermutlich verhält es sich genau so (abgesehen davon, dass beide die Red Sox mögen, weil schon ihre Väter es getan haben).
Aber die Wahrheit ist, dass sie auf jeden Fall zweierlei gemein haben: Erstens einen Klang, der aus irgendwelchen Gründen schließlich bedeutet, wer sie sind, und von irgendjemand Klugem, der wahrscheinlich schon tot ist, in gedruckte Linien, Bögen und Punkte übersetzt und auf eine so gleichartige Weise angeordnet worden ist, dass man ihn mit einem Blinzeln auf der Seite dieses Buches, das schwer genug ist, um es als Waffe einzusetzen (wumm), auch schon wieder verloren hat. Das Zweite ist der Umstand, dass es überaus überraschend wäre, wenn sowohl Mr M. Peterson als auch Mr M. Peterson nicht irgendwelche hässlichen, sehr hässlichen Geheimnisse versteckt hätten.
Das Papier im Telefonbuch ist hauchdünn. Eine Seite vor den M. Petersons und den N. Petersons und den beiden O (Oswald und Orin Peterson, tatsächlich Brüder, beide Versicherungsvertreter) finden sich neue Spalten mit Namen, unmöglich, sie alle gleichzeitig zu lesen. Wenn man das Papier ins Licht hält, sieht man weitere Namen, rückwärts geschrieben wie Spiegelschrift und verschwommen wie Geister.
Überfliegen Sie das Telefonbuch, lesen Sie es nicht, da wir in einem Buch voller Fremder eigentlich nichts zu suchen haben.
Jon Peterson war die beste Reklame für Geheimnummern, die es je gab. Wenn er das Telefonbuch in beiden Händen hielt, fühlte Jon sich wie der Gott seiner kindlichen Fantasien, der Gott, der die grüne und blaue Erde hielt wie einen Fußball und willkürlich den Daumen nach unten reckte und damit Millionen von Menschen tötete und Tausende winziger Sirenen hörte, wenn die Feuerwehren gegen die Sinnlosigkeit kämpften, winzige Feuer zu löschen. Es würde wahrscheinlich auch Plünderungen geben unter jenen, die zurückblieben, ganz zu schweigen von den Millionen, die unter dem Daumen selbst zerquetscht würden, so bedeutungslos für Jons Gott, dass er den Finger in den Mund stecken konnte und nichts schmecken würde als eine Erinnerung an das, was er sich am Morgen zum Frühstück gemacht hatte, und dies trotz der ungezählten Leiber, die in den Furchen seines Daumenabdrucks wie zerquetschte Insekten festgeklebt sein mussten.
Jon besah sich zum tausendsten Mal seinen eigenen Namen im Telefonbuch, J. Peterson, und staunte darüber, wie ähnlich er allen anderen sah, die dort aufgelistet standen. Eine fantastische Tarnung, die keinerlei Mühe kostete. Er befand sich eingeschmiegt zwischen den anderen J. Petersons, die ihn, ohne nachzudenken, als einen der ihren, als Teil der Herde akzeptiert hatten.
Jon war fasziniert von Telefonbüchern (und einigen anderen, weniger harmlosen Dingen). Es gab wohl Hunderte davon in seinem Haus, auch aus so entlegenen Gebieten wie China und Japan, England und Frankreich. Aber er war kein Sammler, falls es Sammler solcher Dinge gibt. Er suchte nach einem Namen, und je mehr Bücher es gab, umso mehr Namen gab es, und je mehr Namen es gab, umso größer war die Auswahl.
Unglücklicherweise war diese Auswahl nicht vollkommen willkürlich, sosehr der Perfektionist in ihm sich das gewünscht hätte. Die ausländischen Telefonbücher dienten lediglich seiner eigenen Unterhaltung, dienten dazu, ihm ein größeres Machtgefühl zu verleihen. Aus praktischen Gründen würde der Name, den er zu guter Letzt auswählte, der eines Menschen sein, dessen Wohnsitz sich in Amerika befand. Es erfüllte ihn mit einem Gefühl von Macht, sich den Rest der winzigen Fußballwelt vorzustellen, wie er einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, wenn er dies erfuhr, und es brachte ihn auf eine Weise zum Lächeln, die Tiere verschreckt hätte.
Außerdem würde der Name in einer Stadt zu finden sein, denn in einer Stadt konnte man sich unbemerkt bewegen.
Es würde eine Frau sein. Es musste eine Frau sein, das war abgemachte Sache, aber Jon rühmte sich dennoch, jemand zu sein, der jedem die gleiche Chance gab. Dies war außerdem der Grund, warum fremdländische Namen niemals unverzüglich verworfen wurden, obwohl Jon der Erste gewesen wäre, der zugab, dass er niemals viel Zeit unter den Ahmeds und den Wongs verbrachte.
Aber der praktische Teil war so langweilig, die Regeln dafür verstanden sich von selbst, der ganze Kram über das Auswählen einer Stadt, einer in Amerika. Jon hatte weit mehr Zeit auf die philosophischen Aufgaben verwendet. Vor allem hatte er darüber nachgedacht, dass manche Menschen glaubten, ein Name habe nichts zu bedeuten, er sei nur ein Klang oder eine Ansammlung von Klängen - was wirklich zähle, sei aber die Persönlichkeit und so weiter. Das tat Jon als die schlimmste Art von Unsinn ab. Er sah seinen Namen in seiner eigenen Handschrift beinahe jedes Mal, wenn er etwas von Bedeutung kaufte, und wie jeder weiß, ist die Tätigung eines Geschäfts mit das Wichtigste, was eine Person tun kann. Wie sollte das ohne Wirkung bleiben? J. Peterson erschien ihm als solide und gewöhnlich, als so amerikanisch wie Erdnussbutter und Golfplätze, trotz oder vielleicht gerade wegen seines europäischen Ursprungs. Er stellte sich einen Sklaven vor, der den Namen nach seiner Befreiung angenommen hatte. Er sah den Namen eingeprägt in Messingschilder an Bürotüren und auf der fettigen Namensplakette eines Verkäufers an irgendeinem Drivein-Schalter. Vorzüglich liebte er die Genauigkeit dieses Namens, seine wunderbare Genauigkeit, denn es war sein Name.
Jon wollte, dass seine Bemühungen ihn zu einer Person mit großem Potenzial führten, denn dann würden die späteren Übungen mehr Freude machen. Er hatte einen früheren Teil des Abends damit zugebracht, sich die Clevers in diesem Buch anzusehen, also Menschen, die Clever hießen (von denen es drei gab), sich aber nach einer Stunde gründlichen Abwägens gegen sie entschieden - aus Sorge, dass sie vielleicht nicht schön waren. Das war auf indirekte Weise für ihn ein wichtiges Kriterium geworden. So war er dann auf die Prettys zurückgekommen - aber weniger aus Überzeugung, sondern weil es ihn erheitert hatte.
Die Suche war nicht frustrierend gewesen, obwohl der Prozess sich über Monate erstreckt hatte. Und schon bald würde ein Individuum vor seinen Augen zum Leben erwachen, würde durch sein Monogramm leuchten wie Christus am Kreuz. Jon konnte warten, wohl wissend, dass es irgendeine Art von Epiphanie sein würde. Das spornte ihn an, ließ ihn auf die Namen starren, bis sie sich in sein Gehirn brannten.
Drei Uhr morgens jetzt, und er musste früh aufstehen. Jon rieb sich mit dem Zeigefinger und dem Zivilisationen zerquetschenden Daumen über den Nasenrücken und bedachte die harte Arbeit, die es noch zu tun galt. Das große Buch auf seinem Schoß wurde leise geschlossen und auf einen Stapel ähnlicher Telefonbücher geschoben, die aufs Sorgfältigste nach den Prioritäten, wenn man so wollte, eines Wahnsinnigen geordnet waren.
Selbst wer in einer nordamerikanischen Stadt lebte und gewusst hätte, was Jon tat, konnte sich durch dessen selbst auferlegtes Zufälligkeitsprinzip relativ sicher fühlen, im Schutz der Herde von Millionen und Abermillionen dicht gedruckten Namen und Identitäten, die sich hinter den dazugehörigen Nummern und Adressen verbargen. Wenn man L. M. Victim - Opfer - hieß und sich für einen großen, blickeheischenden Eintrag im Telefonbuch entschieden hatte, hätte man wahrscheinlich zu den am wenigsten Gefährdeten gehört. Der Wahnsinnige hatte hart gearbeitet, um seine Wahl beliebig zu halten, und das bedeutet für die vielen Furcht und Rettung zugleich. Er steht kurz davor, eine Entscheidung zu treffen. Das Telefonbuch heute Nacht war das von Philadelphia, Pennsylvania.
Morgen wird es wahrscheinlich ein anderes sein.
2
San Francisco.
»Das beste Stück ist das gleich nach der Straßenkreuzung.« »Wenn sie schneller fahren würde, wäre es wie Magic Mountain, hm, meine Süße?«
»Ja, Dad, Magic Mountain.« Sie freute sich, obwohl sie es eigentlich nicht wollte. Sie waren mit der Straßenbahn zu den üblichen Sehenswürdigkeiten gefahren und ließen sich jetzt von der California-Street-Linie einfach aus Jux und Dollerei herumkutschieren. So spät am Tag waren nicht mehr so viele Touristen unterwegs, und sie hatten jetzt reichlich Platz, um sich hinzusetzen, obwohl er sie nicht dazu überreden konnte, das auch zu tun.
»Sollen wir noch einmal in die andere Richtung fahren?« Jens Stimme klang wie die einer Mitverschwörerin.
»Das können wir machen.«
In Wahrheit begeisterte Dave Wiley diese Idee nicht sonderlich, so fantastisch ihr gemeinsamer halber Tag auch gewesen war. Zum einen wurde es Zeit, Jen zu ihrer Mutter zurückzubringen, und nach einem unerfreulichen Weihnachten (ihr zweites nach der Trennung) wusste er, dass es nicht gut wäre, gegen ein Karen-Ultimatum zu verstoßen. Es gab noch einen anderen Grund: Auf einer Bank am Wendeplatz des Plaza hatte bei ihrer ersten Fahrt ein merkwürdiger Mann gesessen. David argwöhnte, dass er noch immer dort sein würde, und der Finanzdistrikt leerte sich zusehends mit dem Heraufdämmern des Abends.
»Findest du diese Fahrerei nicht irgendwann langweilig?« »Daaad ... « Dave konnte ihre Augen nicht sehen, obwohl er wusste, dass sie sie gen Himmel verdrehte, eine Imitation von Mommy. Die Entscheidung lag bei seiner Tochter, da gab es keine Frage.
Der Tippelbruder auf der Bank war für einen Moment vergessen. Er hatte gedacht, dass das Aquarium seine Trumpfkarte für ihren gemeinsamen Nachmittag sein würde. Tatsächlich waren es doch eigentlich Jungen, die Züge, Autos und überhaupt Dinge mochten, die sich bewegten.
Klein Jen lächelte über ihre Schulter hinweg und brachte sein Herz zum Schmelzen. Dann hielt sie das Gesicht wieder in die süße, kalte Brise der Bucht und posierte für ihn mit den langen Locken ihres roten Haares, die hinter ihrem Kopf wogten, wie die Galionsfigur am Bug eines mystischen Schiffes.
Dave begriff nicht, dass es ihr eigentlich um die Ausblicke ging: San Franciscos gewaltige, abschüssige Canyons der Zivilisation, flüchtige Blicke auf die Bay Bridge zwischen den Gebäuden, die Lichter auf den Verstrebungen, die gerade durch den leichten Nebel des frühen Septemberabends zu leuchten begannen. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in der Bay Area und vier Jahre in der Innenstadt verbracht und war bisher doch erst dreimal mit der Straßenbahn gefahren, jedes Mal außerstande, sich allzu weit aus der schützenden Umklammerung ihrer Mom zu befreien. Die Bahn kam ohnehin nur geringfügig schneller voran als ein rennender Mensch, trotz des verrückten Auf und Abs. Im letzten Sommer hatte sie voller Neid beobachtet, wie einige Touristen - Jungen im Teenageralter, zu jung, um ihnen Fotoapparate anzuvertrauen - auf dem Trittbrett mitgefahren waren. Einer von ihnen war blond gewesen, mit weicher Haut und von langen Wimpern umkränzten dunklen Augen, und die Brise hatte sein Haar geteilt. Er hatte sie ertappt, als sie sein Profil betrachtete, und ihr seine rosige Zunge herausgestreckt. Sie war ganz zappelig geworden vor Verlegenheit und wollte den klebrigen Bonbonriegel, den Mom für die Fahrt mitgenommen hatte, aus irgendeinem Grund nicht mehr. Diesmal durfte sie vorn im Wagen stehen, wo nichts die Aussicht verstellte, und sie fand es herrlich, über Taylor jetzt, die steilsten Abfahrten unmittelbar vor ihnen, ein Klingeln der Glocke, einige theatralisch gebrüllte Befehle, die Arme nicht aus der Bahn zu strecken.
Eine Weile zuvor hatte sie gesehen, wie der Bremser und ihr Vater ein Lächeln gewechselt und sie selbst im nächsten Moment gleich mit einbezogen hatten, ertappt in ihrer väterlichen Nachsicht wie kleine böse Jungs mit Knallfröschen. Sie wusste instinktiv, dass der Bremser eine Tochter hatte oder sich eine wünschte, und ein Kitzel durchzuckte sie wie Elektrizität köstlich von Kopf bis Fuß. Lächelnd widmete sie sich wieder dem Poltern der Bahn über die Steine und konzentrierte sich darauf, wie es ihr bis in die Zähne wehtat.
Jen war die elfjährige Prinzessin ihrer Stadt.
Nur ein Mensch mit dunklem Herzen würde ihr das jetzt verweigern.
Morgen war der letzte Tag der Konferenz der Psychoanalytiker, und Karen Wiley hatte auf dem Heimweg im Wagen beschlossen, dass sie ihn versäumen würde. Drei Tage, an denen sie Therapeuten alter Schule dabei zugeschaut hatte, wie sie sich gegenseitig auf den Rücken klopften, waren genug gewesen. Es hatte sein Gutes, dass ihre erste Konferenz nach bestandenem Examen in unmittelbarer Nähe stattfand - über die Brücke bis zu ihr nach Hause war es nur ein Katzensprung. San Diego an Thanksgiving würde sie nicht machen. Die Organisatoren arrangierten stets Zimmer in über die Feiertage verlassenen Wohnheimen, und die Betten dort waren für gewöhnlich von einer Art, die sie nicht einmal einem klösterlichen Orden zugemutet hätte.
Dave würde Jen bald zurückbringen, und der Abend würde ihnen gehören.
Der Flur vor ihrer Wohnung im ersten Stock eines Dreifamilienhauses in Russian Hill war menschenleer, und Karen dankte ihrem Schicksal zum tausendsten Mal für ihre Vermieter - ältere Nachbarn, die für eine ledige Mutter alles getan hätten. Nach zwei Tassen Malzmilch verabschiedete sie sich dort gegen acht. Mit ihrem leichten Mantel, der relativ neuen schwarzen Aktentasche und dem Schlüsselbund in den Händen blieben ihr nur die Zehen, um die schwergängige Tür aufzudrücken, aber schließlich öffnete sie sich. In der Wohnung Lichter an und Jens wegen die Kette nicht vorlegen. Dann die Stiefel, der letzte Kampf des Tages, mit einer Hand haltsuchend an die Wand gestützt, und schließlich die ultimative Sinnenfreude ihres Zuhauses, der dicke Teppich unter bestrumpften Füßen.
Jetzt Wein und Musik.
Ein weiterer Schalter umgelegt, und die Küchenzeile hatte ihr Bühnenlicht. Delilah, die zweimal die Woche sauber machte und ein vertrauenswürdiger Babysitter war, hatte die Post aus dem Briefkasten unten heraufgebracht und auf die Küchentheke gelegt. Es waren drei Umschläge. Karen nahm sie mit zum Kühlschrank hinüber. Eine Rechnung, ein Schreiben von der Telefongesellschaft und ein Brief unbekannter Herkunft mit ihrem Namen und ihrer Adresse darauf, maschinengeschrieben. Der Poststempel aus Canaan in Utah fiel durch sein ungewöhnlich kunstvolles Design auf.
Völlig fremde Post bekam Karen relativ selten. Wenn es keine klar erkennbare Reklame war, keine Rechnung und kein Brief von einem entfernten Verwandten (aber sie kannte niemanden aus Utah), dann konnte es sich sehr gut um ein Schreiben von jemandem handeln, der an die Küste zog und vielleicht Interesse bekundete, ein neuer Klient zu werden. Karen brauchte Klienten.
Zwei Jahre nach der Scheidung, achtzehn Monate nach der Kündigung ihres Jobs als Produzentin der Morgennachrichten bei einem Lokalsender der Fox hatte ihr Therapiegeschäft sich nicht einmal annähernd so gut entwickelt, wie sie es erwartet hatte.
Ein Weinglas aus dem Schrank wurde mit eiskaltem Zinfandel gefüllt und dem Geruch wilder Erdbeeren. Da sie aufgehört hatte, Fingernägel zu kauen, als Dave gegangen war, gelang es ihr mühelos, den Umschlag aufzuschlitzen.
Schon bevor sie das Papier glatt gestrichen hatte, wusste sie, dass dies kein gewöhnlicher Brief war. Es gab weder einen Absender noch eine Unterschrift. Zuerst sah er wie ein leeres Blatt Papier aus, bis sie ihn in der Mitte fasste und auch das untere Drittel der Seite ausklappte. Dort standen zwei Reihen in spitzer kleiner Bleistiftschrift, die sich nur mit zusammengekniffenen Augen lesen ließen.
Hilf mir oh Gott hilf mir er wird mir wehtun wenn du nicht machst was er sagt liber Jesus fromm und mild blick auf dieses kleine Kind rette mich Jesus rette mich
Einfach so, Worte, deren Bedeutung ineinander verlief in eine Flut überwältigender Panik.
Karen Wiley, die sich schon immer zu helfen gewusst hatte, blieb ruhig. Sie nahm die Nachricht zur Kenntnis wie einen Notruf, der nur zufällig dank einer Funkstörung zu hören war, wie eine polizeiliche Meldung, die plötzlich im Autoradio den Wetterbericht unterbrach.
War das alles?
Nein, denn vollkommen gegen ihren Willen schien ihr jetzt Adrenalin durch die Adern zu pulsieren.
Sie dachte an das blaue Kontrastmittel, das einigen Röntgenpatienten injiziert wird und sich bis in die Finger und Zehen ausbreitet.
Der Wein wurde behutsam auf die marmorne Arbeitsfläche gestellt, das Glas schlüpfrig von Kondenswasser, das an ihren Fingern haftete und einen blassen Fleck auf dem Brief hinterließ, als sie ihn in der Hand drehte, ihn abermals überflog, dann nach dem Umschlag griff und sich davon überzeugte, dass es wirklich ihr Name und ihre Adresse waren, die in Maschinenschrift darauf standen. Sie legte den Umschlag beiseite und las die Nachricht noch einmal, gründlicher diesmal.
oh Gott hilf mir er wird mir wehtun
...
Übersetzung: Michaela Link
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Alex Chance
- 2009, 1, 528 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868001263
- ISBN-13: 9783868001266
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