Die Liebe der Fische
Die äußerst vernunftbegabte Samanta, ein überzeugter Single, führt ein geregeltes und selbstgenügsames Leben. Ihre heimliche Schwäche: Sie...
Die äußerst vernunftbegabte Samanta, ein überzeugter Single, führt ein geregeltes und selbstgenügsames Leben. Ihre heimliche Schwäche: Sie übersetzt indische Liebesgedichte aus der Mogulnzeit. Doch bald begegnet ihr die wirkliche Liebe in Gestalt eines Mannes. Alles in ihr wehrt sich gegen Hans Örlyggson, einen jungen Manager, der über Jahre hinweg immer wieder in ihr Leben eindringt und dessen Ordnung gefährdet. Wie Fische umschwimmen die Liebenden einander, nähern sich, entwinden sich, ohne je voneinander lassen zu können. Erst spät, vielleicht zu spät, vermag Samanta den Zauber der gemeinsamen Stunden zu ermessen. "Die Liebe der Fische" ist die Geschichte einer unbewältigten Leidenschaft, eine isländische amour fou: Mit großer Behutsamkeit ergründet Sigurdardóttir dieSeelenlandschaften ihrer Figuren, zweier Liebender, die von der stummen Macht ihrer Gefühle überwältigt zu werden drohen.
Die Liebe der Fische von SteinunnSigurdardóttir
LESEPROBE
Gesterntraf ich auf dem Laugavegur Hans Örlygsson. Er hat abgenommen, wasihm meines Erachtens besser steht. Ich grüßte den Mann, tat aber so, als hätteich es eilig. Acht Monate ist es her, seit ich ihn zuletzt flüchtig sah,ebenfalls auf dem Laugavegur, und fast ein halbes Jahr, seit er in der Nachtvor Silvester das letzte Mal anrief.
Es war eigentlich nicht meine Absicht gewesen, Erinnerungenheraufzubeschwören, sondern ich wollte, da meine Kollegen wie immer freitagsausgiebig Mittag essen gegangen waren, in Ruhe Korrekturfahnen lesen, alteindische Liebesgedichte, an deren Übersetzung ich seit einigen Jahrenherumfeile. Ich habe bereits Arbeitshaltung angenommen und den Stift gezückt,als ich feststelle, dass die Hibiskuspflanzen auf dem Fensterbrett traurigaussehen, also mache ich mich daran, sie zu gießen und vertrocknete Knospenund verwelkte Blüten abzupflücken. Vom Katzentummelplatz, einem länglichenHinterhof mit kaputten Wäschestangen, dringt das Jaulen einer rolligen Katze aus demüppig wuchernden, frischen Ampfer. Ich lungere immer noch am Fenster herum undsehe, wie sich ein zottiger Schwanz aus einem durchhängenden Kinderwagenwindet, der in der hintersten Ecke bei der verwitternden Treppe steht. DieseTreppe an dem Anbau eines schmalen Wellblechhauses, das schon lange abgerissenwerden sollte, führt zu keiner Tür. Für mich wäre die Aussicht bedeutend ärmerohne dieses hässliche kleine Haus, und wenn es nach meinen Wünschen ginge,dürfte es genauso lange dort stehen bleiben wie ich am Fenster, um esanzuschauen. Ich habe nicht die geringste Lust, mir wieder die Fahnenvorzuknöpfen. Stattdessen hole ich mir trockenen Sherry aus dem Kühlschrank undnutze die Ruhe im Büro dazu, um auf Schreibmaschinenpapier herumzukritzeln,verschiedene Versionen einer Almhütte im Schweizer Stil, mit Herzchen in denFensterläden, und dabei die Geschichte von Hans Örlygsson, der gestern auf demLaugavegur so merkwürdig dreinblickte, Revue passieren zu lassen. DieseGeschichte ist zu Ende; sie begann vor drei Jahren zu genau dieser Jahreszeit, umdie Wahrheit zu sagen, sogar auf den Tag genau, und zwar ungefähr so:
Ichwar tagsüber allein, denn meine Freunde arbeiteten außer Haus. DieWohnung, die im Dachgeschoss eines Schlösschens lag, hatte kleine Fenster. InGedanken nannte ich mein Haus eine Filiale des Hauptschlosses, das dunkel undriesig auf dem Berg thronte. Ich betrachtete es stundenlang aus meinemKüchenfenster. Es wirkte wie eine Fortsetzung des Felsens, auf dem es ruhte,aber anders behauen als dieser Untergrund und aus etwas hellerem Gestein. BeiNässe glänzte der kohlrabenschwarze Felsen und sah aus wie Obsidian. Seitmeiner Ankunft hatte ich vor, das Schloss von innen zu besichtigen. An einemTag hatte ich zweiunddreißig Stufen geschafft, doch dann machte ich kehrt, weiles mir zu sonnig war, um in ein Schloss zu gehen. Gleichzeitig dachte ich, wieunlogisch das sei, da ich doch selbst derzeit in so etwas wie einem Schlösschenwohnte.
Vormittags befasste ich mich manchmal mit indischen Liebesgedichtenund hatte spaßeshalber angefangen, sie zu übersetzen. Nachmittags durchstreifteich die Stadt und besuchte Museen: wenn die Sonne nicht schien. Einmalvertiefte ich mich eine ganze Woche lang tagtäglich in Tizians Bild von den dreiMenschenaltern. Die rote Farbe im Kleid des jungen Mädchens, das unter einemBaum sitzt und sich mit seinem Liebhaber unterhält, hatte ich nie zuvorgesehen. Manchmal versuchte ich, vor dem Einschlafen an diese Farbe zu denken,denn ich wollte von ihr träumen. Morgens konnte ich mich jedoch nie daranerinnern, dass sie sich in der Dunkelkammer des Schlafs hatte entwickelnlassen.
Das Merkwürdige war, dass ich Heimweh hatte. Ich war oft imAusland gewesen, und das hier war eine neue Erfahrung. Der Blick aus meinemSchlafzimmer ging auf die Eisenbahngeleise, und abends vor dem Schlafengehenbeobachtete ich die vorbeifahrenden Züge, wie sie in die Ferne schweiften. Undum die Wahrheit zu sagen, ich sehnte mich fort mit diesen Zügen. Ich wäre amliebsten früher nach Hause gefahren, aber es fiel mir nicht ein, das in die Tatumzusetzen, zumal meine Freunde sehr erstaunt gewesen wären. Daheim in Islandwar der Frühling spät gekommen, alle warteten ungeduldig auf besseres Wetter.Als der Sommer dann endlich kam, brach er plötzlich herein, und seitdem war esununterbrochen schön gewesen. Es war alles andere als ein typisch isländischerSommer, diese Jahreszeit, die normalerweise in Schüben Einzug hält, mitausgiebigen Rückschlägen dazwischen. Ich hatte angefangen, jeden zweiten Tagmeine Mutter anzurufen, um nach dem Wetter zu fragen. Es war ihrer Stimmeanzuhören, dass ihr das verdächtig vorkam, trotzdem ließ sie sichhöflicherweise nichts anmerken, sagte aber jedes Mal, dass letzten Endes nichtdas Wetter besser, sondern die Ozonschicht dünner geworden sei. Spielt eseine Rolle, woher das Gute kommt?, fragte ich einmal, worauf Mama entgegnete:Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, und etwas gezwungen lachte.
Manchmal saß ich in einem Straßencafé zu Füßen des Schlosses,trank schlechten Kaffee und gab vor, das Leben und Treiben auf der Straße zubeobachten: dralle Flaschenkinder und ihre Mütter, denen man ansah, dass sieviel draußen waren, einen rothaarigen Straßenmusikanten, der Streets ofLondon sang, japanische
Touristen mit Videokameras und eine etwas verwachsene Frau,die Rosen verkaufte. Meist jedoch betrachtete ich den Berg unterhalb desSchlosses, wo winzige weiße Blumen aus Felsnischen sprossen, und tagelang dachteich unentwegt an Skaftafell. Ich sehnte mich danach, dort zu wandern, auf demWeg ins Tal der Morsá, obwohl mir klar war, dass es dort jetzt nicht sofriedlich sein würde wie im Frühsommer oder im Herbst, sondern alles vollerLeute, Zelte und Autos wäre. Ich wollte bei Sonnenschein das Birkenlaub an einemBach im lauen Sommerwind funkeln sehen, darüber und ringsherum das ewige Eisdes Vatnajökull, so gewaltig, dass es eigentlich mehrere Gletscher sind, dieverschiedene Namen haben. Das Auge dürstete nach blauem Storchschnabel am Hang,umgeben von Gesträuch, das man in Island Wald nennt. Diesem bescheidenen Waldsetzen reißende Gletscherflüsse auf ihrer labyrinthischen Bahn über denschwarzen Sander zu, der in hafenloser Küste endet. Dort waren Schiffe gestrandetund ausländische Seeleute tot an Land getrieben worden, doch manchmal konnteneinige gerettet werden und zeugten dann Kinder mit den Frauen der Gegend.Diese riesige Sandfläche war die reinste Nekropolis mit Schiffsrümpfen ausunterschiedlichsten Zeiten. Wikingerschiffe mit klaffenden Drachenmäulernruhten dort, Wracks von Schonern und Trawlern, die zu Beginn des zwanzigstenJahrhunderts dort gestrandet waren. (...)
© Rowohlt Verlag GmbH
Übersetzung: Coletta Bürling
- Autor: Steinunn Sigurdarðóttir
- 2006, 1, 96 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Isländ. v. Coletta Bürling
- Übersetzer: Coletta Bürling
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498063677
- ISBN-13: 9783498063672
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