Die Lilieninsel
Nach dem Tod ihres Mannes zieht die junge Marie mit ihren zwei Kindern in ein Landhaus an der schroffen Südküste der Kanalinsel Guernsey. Bei der Ankunft erwartet sie eine Enttäuschung: Das Haus liegt zwar direkt an den malerischen Klippen,...
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Produktinformationen zu „Die Lilieninsel “
Nach dem Tod ihres Mannes zieht die junge Marie mit ihren zwei Kindern in ein Landhaus an der schroffen Südküste der Kanalinsel Guernsey. Bei der Ankunft erwartet sie eine Enttäuschung: Das Haus liegt zwar direkt an den malerischen Klippen, ist jedoch sehr heruntergekommen. Zudem gibt es einen feindseligen Nachbarn, Bartholomé de Clairmont, Besitzer des prachtvollen Anwesens neben dem kleinen Cottage. Endgültig vorbei mit der ersehnten Ruhe ist es, als man auf dem Grundstück das Skelett einer jungen Frau findet, die vor vielen Jahren spurlos verschwunden ist. Als Marie mehr über die Hintergründe von deren Tod herausfinden will, enthüllt sich das Schicksal der rätselhaften Liliane de Clairmont.
Klappentext zu „Die Lilieninsel “
Die junge Malerin Marie will in ihrem Cottage auf der englischen Insel Guernsey neue Inspiration finden, doch mit der ersehnten Ruhe ist es vorbei, als man auf ihrem Grundstück das Skelett einer jungen Frau findet, die vor vielen Jahrzehnten spurlos verschwunden ist. Als Marie mehr über die Hintergründe von deren Tod herausfinden will, enthüllt sie das Schicksal der rätselhaften Liliane de Clairmont. Als Lilian Talbot geboren, gelingt dieser jungen Frau Anfang des 20. Jahrhunderts der gesellschaftliche Aufstieg: Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, schlägt sie sich in London zunächst als Taschendiebin durch, doch auf Guernsey, wohin sie vor ihrer kriminellen Vergangenheit flieht, verführt sie den reichen Bartholomé de Clairmont und wird dessen Frau. Ihr neues Leben ist freilich teuer erkauft, hütet der Graf doch ein dunkles Geheimnis...
Lese-Probe zu „Die Lilieninsel “
Die Lilieninsel von Sophia CronbergProlog
Guernsey 1923
... mehr
Eben noch hatte das Lied der Brandung fröhlich und kraftvoll geklungen, nun mischte sich vom Himmel her ein dunkles Grollen in die Musik des Meeres. Wenn die Gischt gegen die Klippen spritzte, glich es einem bösartigen Zischen. Nicht länger klangen die Schreie der Möwen wie ein Juchzen, als frohlockten sie über die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres, sondern klagend und warnend zugleich. Auch der Himmel stand nicht mehr in einem kräftigen, herbstlichen Blau, das Reinheit, Weite und Freiheit verhieß, sondern war so schmutzig grau wie die unruhige See.
Die junge Frau beschleunigte ihren Schritt. Aus dem Spaziergang entlang des schmalen Küstenpfades war längst eine Flucht geworden. Jemand beobachtete sie, sie fühlte es ganz deutlich.
Noch war er hinter einem Gebüsch verborgen, doch je fahler das Licht wurde und je näher der Sturm kam, desto größer wurde sein Mut. Bald würde er sein Versteck verlassen und hinter einem der hohen Bäume hervortreten, bald würde er ihr nachschleichen, und wenn sie beginnen würde zu rennen, würde er es ihr gleichtun.
Der Wind blähte ihre Kleider, riss ihr Haar in sämtliche Himmelsrichtungen, kündete mit klagendem Pfeifen von Unheil.
Beeil dich ... lauf, so schnell du kannst ... bring dich in Sicherheit!
Doch wo sollte sie Zuflucht finden? Und vor allem: Bei wem?
Es gab doch niemanden auf der Welt, der sich schützend vor sie stellen würde ...
Die Möwen flogen flacher; einige von ihnen ließen sich auf den Wellen nieder und harrten schaukelnd des kommenden Unwetters.
Wie schön es wäre, dachte die junge Frau plötzlich, einfach die Flügel auszubreiten, wegzufliegen, alles hinter sich zu lassen - das Elend, die Not ... und vor allem das Rascheln im Gebüsch.
Aber sie konnte nicht fliegen, stolperte stattdessen über eine dornige Ranke, fiel zu Boden und spürte, wie sich spitze Steine und raue Wurzeln in ihre Handfläche gruben. Kurz übertönte ihr Schnaufen jeden anderen Laut, doch als sie den Atem anhielt, vernahm sie es wieder: dieses schleifende Geräusch, als würde jemand seinen Fuß hinter sich herziehen.
Wer immer dieses Wesen war, es kam näher ... immer näher.
Sie sprang auf. Wald, Meer, Klippen - nichts bot Zuflucht -, aber jetzt sah sie inmitten von Grau, dunklem Grün und Braun etwas Rötliches aufblitzen. Ein Dach.
Sie wusste, das Haus stand leer, niemand würde herbeieilen, wenn sie um Hilfe rief, aber sie konnte darin Unterschlupf finden, die Tür ebenso verschließen wie die Fensterläden, konnte den aufziehenden Sturm und Regen nach draußen verbannen ... und auch den geheimnisvollen Verfolger.
Ihre Stiefel scheuerten schmerzhaft an ihrer Ferse, als sie wieder zu rennen begann, der Druck auf der Brust - nicht nur von der ungewohnten Anstrengung, sondern von Beklommenheit, ja Panik rührend - nahm zu, und trotz des kühlen Windes brach ihr der Schweiß aus. Aber sie stolperte kein weiteres Mal, lief schneller, schüttelte ihren Verfolger ab - glaubte es zumindest, denn da waren keine Schritte mehr zu hören - und erreichte endlich das Haus.
Zum Glück stand die Tür weit offen. Sie fiel beinahe über die Schwelle, als sie hineinstürzte, sank, kaum dass sie im Inneren war, auf die dunklen Eichendielen, gönnte sich jedoch nur eine kurze Pause, ehe sie wieder aufsprang. Als sie sich umdrehte, hätte sie schwören können, dass da schon jemand stand und sie nicht mehr rechtzeitig die Tür zuschlagen könnte. Doch nichts. Nur der Wind hatte sie die letzten Schritte über begleitet, zerrte an den Blumen im Vorgarten, riss ihre Blätter ebenso ab wie die schon welken Blüten und ließ sie nackt zurück.
Die junge Frau packte entschlossen die Klinke, zog die Tür zu und schob den Riegel vor. Der Wind schien ärgerlich aufzuheulen, als er durchs Gebälk fuhr, weil ihr die Flucht gelungen war, doch er konnte ihr nichts mehr anhaben.
Ihr Atem beruhigte sich, das Haar hing ihr zerzaust ins Gesicht. Sie machte sich nicht die Mühe, es zurückzustreichen, sondern eilte von Zimmer zu Zimmer, um sämtliche Fensterläden zu schließen.
Als sie fertig war, war nicht nur der Sturm nach draußen verbannt, sondern auch das letzte Abendlicht. Sie nahm nur die Konturen der Einrichtung war, dunklen, gedrungenen Gestalten gleich, unheimlich, aber nicht bedrohlich. Sie stöhnte, begann verspätet zu zittern.
Ich hätte ihr nicht trauen dürfen, dachte sie. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich nicht an ihr Versprechen hält. Gewiss steckt sie dahinter. Sie hat jemanden auf mich gehetzt.
Nun, hier war sie fürs Erste sicher. Das dachte sie jedenfalls fünf Atemzüge lang. Dann vernahm sie ein Knarren. Es kam nicht vom Dachstuhl, sondern von der Treppe, wurde nicht vom röhrenden Wind verursacht, sondern von einem Gewicht, das sich langsam verlagerte - dem Gewicht von Schritten, die langsam die Treppe herunterkamen.
Noch hielt sie ihm den Rücken zugewandt, aber sie wusste: Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie ihn sehen, ihren Verfolger. Oder nein: Er hatte sie ja gar nicht verfolgt, er hatte einfach hier gewartet.
Die unsichtbaren Augen, die sie auf sich ruhen wähnte, hatten sie nicht von den Büschen her belauert, sondern vom Haus aus, und das bedeutete, dass sie ihm direkt in die Arme gelaufen war.
Sie sah sich nach einer Waffe um und griff nach dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hände kam, ohne recht zu wissen, was es überhaupt war. Beinahe entglitt er ihren feuchten Händen, doch sie umklammerte dieses Ding energisch. Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor.
Jetzt war sie dafür gerüstet, sich umzudrehen. Doch als sie es tat, erkannte sie, dass ihr diese Waffe nichts nutzen würde.
Sie blickte ihrem Mörder direkt ins Gesicht.
1
Als sie in die kleine Straße Richtung Cottage abbog, bereute Marie zum ersten Mal, dass sie so überstürzt nach Guernsey aufgebrochen war. Die Straße war schmal und wurde an beiden Seiten von riesigen Hecken begrenzt, die sämtliches Licht verschluckten. Was sollte sie nur tun, wenn ihr ein Fahrzeug entgegenkam? Zurückfahren war unmöglich: Die Straße, die hinter ihr lag, war ebenso steil wie kurvig.
Ihr brach der Schweiß aus. Als ob der Linksverkehr nicht schon genug Herausforderung wäre - obendrein waren auf der Insel die Wege abseits der Hauptstraße wohl eher für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen als für ihren Familienkombi!
Jonathan entging nicht, wie angespannt sie war. »Sind wir bald da?«, fragte er ungeduldig.
»Gleich, gleich ...«
»Das sagst du schon die ganze Zeit.«
Marie wagte einen Blick in den Rückspiegel. Hannah, ihre achtzehn Monate alte Tochter, schlief noch, allerdings zuckten dann und wann ihre Hände und Beine, ein Zeichen, dass der Friede nicht mehr lange andauern würde. Und Jonathan, ihr sechsjähriger Sohn, wollte endlich das Cottage sehen und würde sich weigern, Hannah zu trösten und abzulenken.
Sie umklammerte das Lenkrad, starrte wieder auf die Straße und war sich plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt die richtige war. Wo, verdammt nochmal, sollte sie wenden, wenn sie in einer Sackgasse gelandet war?
Verdammt, verdammt, verdammt. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
Nicht dass sie nicht gewarnt worden wäre.
»Spinnst du?«, hatte ihre Freundin Isabella empört gerufen, als sie von ihren Plänen berichtete. »Du willst von Berlin nach Guernsey mit dem Auto fahren? Dann bist du ja tagelang unterwegs. Und das mit zwei Kindern!«
»Ich habe alle Zeit der Welt«, hatte Marie erklärt. »Wenn die beiden schwierig werden, lege ich eben eine Rast ein.«
Bis Saint-Malo war tatsächlich alles gutgegangen: Sie hatten einmal in Deutschland, das zweite Mal in Belgien übernachtet und die letzte Nacht bereits in Frankreich verbracht. Und es war, anders als erwartet, völlig problemlos gewesen, den Fährhafen zu finden. Danach jedoch hatten die Probleme begonnen: Anstatt, wie ursprünglich geplant, direkt nach Guernsey zu fahren, hatte die Fähre einen Zwischenstopp auf Jersey eingelegt, wo sie ewig lange Passkontrollen über sich ergehen lassen mussten.
»Man hat ja das Gefühl, dass man in die DDR einreisen will«, hatte der Mann rechts hinter ihnen gebrummt.
»Guernsey gehört ja offiziell auch nicht zu Großbritannien und folglich der EU, sondern ist als Kronland direkt der Queen unterstellt «, hatte seine Frau besserwisserisch erklärt - eine Information, die sie offenbar gerade in ihrem Reiseführer nachgelesen hatte.
Jonathan schien die lange Wartezeit nicht zu stören. Die Schusswaffe des rothaarigen Grenzbeamten, der mit strengem, ausdruckslosem Gesicht ihre Pässe kontrollierte, hatte ihn völlig in Bann gezogen. Hannah hingegen hatte sich vor Schreck an sie geklammert und war nach der bis dahin so friedlichen Reise quengelig geworden. Zunächst hatte sie sich noch von einem Teddybär mit der Aufschrift »Condorferry« besänftigen lassen, den Marie ihr gekauft hatte, später mit einem Stück Lasagne, das sie zwar nicht essen wollte, aber deren Zutaten sie auf dem Tablett verschmierte. Doch als sie mit dem Auto die Fähre verließen und Marie geflucht hatte, weil der nachkommende Fahrer fast in sie gekracht wäre, war die Kleine in Tränen ausgebrochen.
Zum Glück hatte die Erschöpfung sie bald überwältigt, doch nun hatte Marie mit den Tücken des Linksverkehrs und der schmalen Straßen zu kämpfen. Und dass es schon dunkel war und obendrein nieselte, machte die Sache nicht leichter.
»Sind wir bald da?«, fragte Jonathan wieder.
»Herrgott, wir sind da, wenn wir da sind!«
Sie biss sich auf die Lippen und schämte sich, dass sie ihre Nerven verloren hatte. Jonathan konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Guernsey fremd geworden war. Es gab schon so viel, mit dem er zurechtkommen musste, da sollte sie ihm wenigstens eine genervte Mutter ersparen.
»Tut mir leid«, murmelte sie.
Sie reichte ihm ihr iPhone, damit er »Fingercutter« spielen konnte, ein eigentlich grässliches Spiel, bei dem es darum ging, den Finger so schnell wie möglich aus einer virtuellen Guillotine zu ziehen, aber Hauptsache, er war fürs Erste abgelenkt.
Sie hielt nach einem Schild Ausschau. Das Cottage lag unmittelbar in der Nähe vom Fermain Bay, einem der berühmtesten und malerischsten Strände der Insel, und der musste doch irgendwo ausgeschildert sein!
Tatsächlich entdeckte sie ein Schild, doch es war so klein, dass es nur Wanderer, bestenfalls Radfahrer entziffern konnten. So ein Mist!
»Hier geht's nicht weiter«, erklärte Jonathan gnadenlos.
Auch wenn sie es sich bis jetzt nicht hatte eingestehen wollen - sie war tatsächlich in einer Sackgasse gelandet. Zumindest gab es an deren Ende genügend Platz zum Wenden, und als sie zurückfuhr, entdeckte sie, dass eine kleine Straße nach rechts abbog und diese - wie ein weiteres, diesmal lesbares Schild angab - nach Clairmont Manor führte. Das wiederum war ein altes Herrenhaus in der Nähe ihres Cottage. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte beides einmal zusammengehört.
Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Jetzt sind wir gleich da, versprochen, und heute Abend packen wir nur das Nötigste aus. Du wirst sehen, wir werden einen tollen Sommer haben. Als Kind bin ich in den Ferien immer hier gewesen und habe die Zeit total genossen.«
Seitdem waren allerdings ein paar Jahre ins Land gezogen, und sie hatte keine Ahnung, in welchem Zustand sich das Cottage mittlerweile befand. Millie, ihre Halbschwester und Mitbesitzerin des Anwesens, hatte ihr zwar den Schlüssel geschickt, aber zu bedenken gegeben, dass sich seit Jahren niemand mehr darum gekümmert hatte.
»Na ja«, hatte Marie all ihre Warnungen in den Wind geschossen. »Ein Dach wird es ja wohl schon noch haben.«
Jetzt, da das letzte Dämmerlicht endgültig von dunklen Wolken verschluckt wurde, war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob hier überhaupt ein Haus stand.
Guernsey war nicht gerade eine einsame Insel, sondern großflächig verbaut, aber je tiefer sie in das Stück Wald fuhr, desto gottverlassener fühlte sie sich. Weit und breit war kein Licht zu sehen, nur Bäume und Hecken, hinter denen sich nur Niemandsland zu verbergen schien, kein gemütliches Häuschen.
Marie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Immerhin, sagte sie sich, so abgeschieden wie das Cottage liegt, wird uns wohl kein Auto entgegenkommen.
Endlich fanden die Hecke und der Wald ein Ende, und sie kamen an einem breiten Tor vorbei.
»Ist es das?«, fragte Jonathan aufgeregt.
»Nein, dahinter befindet sich Clairmont Manor. Scheint nicht bewohnt zu sein, so finster, wie es hier ist.«
Sie trat aufs Gas. Die Straße war nicht länger asphaltiert, und sie betete darum, dass Hannah nicht aufwachte, als sie über Wurzeln und Steine rumpelten. Schließlich knirschten Kiessteine unter den Reifen, und der Scheinwerfer richtete sich auf eine Hauswand aus beige-grau anmutendem Naturstein.
Noch sah sie zu wenig vom Cottage, um seinen Zustand einschätzen zu können.
»Aber das ist es jetzt?«, fragte Jonathan.
Er klang enttäuscht.
Marie war sich sicher, dass die Fensterläden einst in strahlendem Blau gestrichen worden waren, aber ob es nun an der Finsternis lag oder daran, dass die Farbe längst abgeblättert war - sie glichen dunklen Löchern, und die Räume, die sie verbargen, wirkten nicht einfach nur leer, sondern wie tot.
»Du wirst sehen, bei Tageslicht wird alles ganz toll ausschauen!«
Es fiel ihr schwer, fröhlich und zuversichtlich zu klingen, und noch schwerer, Jonathan im Rückspiegel anzulächeln.
Er murmelte ein paar undeutliche Worte und spielte ein letztes Mal Fingercutter.
Maries Lächeln schwand. Vielleicht war es tatsächlich ein großer Fehler gewesen hierherzukommen, dachte sie wieder.
Anders als erwartet, wachte Hannah nicht von selbst auf, als sie die Autotüren öffnete, weswegen Marie sie aufwecken musste. Dass sie nicht in lautstarkes Protestgebrüll ausbrach, sondern ihren Condorferry-Teddy fest an sich presste und ihren Kopf in Maries Halsbeuge schmiegte, deutete diese schon mal als gutes Zeichen. So hatte sie zwar keine Hand frei, um neben der Handtasche mit dem Schlüssel auch einen der großen Koffer mitzunehmen, aber das war vielleicht ganz gut, solange sie keine Ahnung hatte, was sie im Inneren erwarten würde.
Zunächst war es nur Finsternis.
Sie konnte sich nicht erinnern, wo sich der Lichtschalter befand, und tastete eine Weile vergebens die Wand im Flur ab, doch als sie endlich darauf drückte, tat sich nichts. Hannah, die es mittlerweile auf zehn Kilo brachte, fühlte sich gleich doppelt so schwer an und begann, nun doch zu quengeln. Wann hatte sie das letzte Mal etwas getrunken? Und wo genau war eigentlich das Fläschchen?
Plötzlich fiel ein Lichtschein auf sie. Jonathan hatte die kleine Laserlampe, die sich am Autoschlüssel befand, angemacht.
»Irgendwo muss es einen Sicherungskasten geben«, erklärte er altklug.
Was für ein lebenspraktischer, kleiner Mann, dachte Marie stolz.
»Ja, klar!«, rief sie enthusiastischer, als ihr zumute war.
Im Flur entdeckte sie den Sicherungskasten allerdings nicht - nur ein Wandregal und, an einem Haken hängend, eine Taschenlampe. Offenbar war sie nicht die Erste, die hier hilflos im Finsteren gestanden war, und irgendeine gute Seele hatte beschlossen, sie sprichwörtlich nicht im Dunkeln tappen zu lassen.
Sonderlich stark war die Taschenlampe nicht, aber ihr Lichtschein reichte fürs Erste, den Boden zu beleuchten. Im Flur und im Wohnzimmer waren es alte Holzdielen, die von einer undefinierbaren grauen Masse bedeckt waren, und in der Küche ein grünlicher Linoleumboden, an den sie sich vage erinnern konnte. Als Kind hatte sie ihn nicht weiter schlimm gefunden, doch jetzt empfand sie ihn als Gipfel der Geschmacklosigkeit. Sie fuhr mit der Hand über den Tisch und blieb förmlich daran kleben, so dreckig wie er war. Alles wirkte feucht und modrig, was offenbar an den schlecht schließenden Fenstern lag. Es musste reingeregnet haben, und da seit Ewigkeiten nicht mehr gelüftet worden war, hatte die Feuchtigkeit nicht abziehen können. Im Wohnzimmer, zu dem von der Küche aus eine zweite Tür führte, begannen sich die Tapeten - ein Blumenmuster Marke Ashley - bereits zu lösen.
»Was ist das?«
Jonathan deutete auf das Uraltmodell eines Fernsehers, der so aussah, als könnte man hier bestenfalls Schwarzweißprogramme empfangen - eine riesige quadratische Kiste auf einem Plastikbein, der neben einem völlig durchgesessenen lindgrünen Sofa und zwei nicht nur enorm hässlichen, sondern auch riesengroßen Lampen das Wohnzimmer komplett verstellte.
Marie seufzte tief. »Den muss man wegschmeißen«, erklärte sie.
Doch wie wurde man hier auf Guernsey solch einen alten Apparat los? So wuchtig, wie er aussah, konnte sie ihn bestenfalls um ein paar Zentimeter verschieben.
Hannah quengelte immer lauter, aber als Marie sie auf dem Boden absetzen wollte, klammerte sie sich an ihr fest. Am liebsten hätte sie sich auf das lindgrüne Sofa gelegt, ob nun durchgesessen oder nicht, um für ein paar Minuten die Augen zu schließen, aber sie zwang sich dazu, der Müdigkeit nicht nachzugeben.
Jonathan trat zu dem alten, wurmstichigen Schrank. »Da sind ja nur Bücher drin, gar keine Spielsachen«, maulte er. »Du hast mir doch versprochen, dass es hier ganz viel zum Spielen gibt ...«
Ein Plan, sie brauchte einen Plan!
Erstens: Sie musste die Arme frei kriegen.
Zweitens: Sie musste für Licht sorgen.
Drittens: Sie musste Hannah etwas zu trinken geben.
»Pass mal auf, halt du mal die Taschenlampe und leuchte mir den Weg. Ich hol aus dem Auto das Reisebett für Hannah.«
Das Ding war zwar unförmig, aber nicht schwer. Während sie Hannah auf dem einen Arm trug, schleppte sie es mit der freien Hand ins Haus, klappte es im Wohnzimmer auf und setzte Hannah hinein. Die Babyflasche hatte sie mittlerweile auch gefunden, und sie war erleichtert, dass Hannah friedlich daran zu nuckeln begann, anstatt loszuheulen. Aber ehe sich ein gewisses Hochgefühl einstellen konnte, begann das Licht zu flackern. Die Batterien der Taschenlampe waren wohl ziemlich altersschwach.
Auf der Suche nach Ersatz riss sie mehrere Schubladen des Schreibtisches auf, der direkt neben dem Wandschrank stand, und die allesamt randvoll gesteckt mit Unmengen Papieren und unnützen Sachen wie Kerzenständern, kleinen Zinndöschen und Stoffblumen waren. Als sie die dritte Schublade öffnete, fiel diese ihr förmlich entgegen. Sie musste ihr ganzes Gewicht aufbringen, damit sie ihr nicht auf den Fuß krachte, doch auch wenn sie sie gerade noch halten konnte, landete ein Teil des Inhalts auf dem Boden.
Marie biss sich auf die Lippen. Das Licht flackerte noch stärker. Irgendwo mussten doch Kerzen sein und Streichhölzer, warum gab es sonst die vielen Ständer!
»Schau mal, da!«
»Jonathan, ich habe jetzt wirklich keine Zeit, ich muss ...«
»Schau mal da-ha!« Er klang leicht genervt und richtete die flackernde Taschenlampe auf einen Zettel, der auf den Boden gefallen war. Marie überflog ihn und erkannte, dass es Instruktionen für Gäste waren und unter anderem angegeben wurde, wo sich der Sicherungskasten befand, nämlich direkt unter dem Treppenaufgang.
»Gott sei Dank!«
Die Batterie reichte gerade so lange, um den Stromkasten zu öffnen und den Hauptschalter zu drücken. Ein lautes Summen ertönte, und einen Moment lang schien das ganze Haus zu vibrieren. Doch endlich leuchtete eine Glühbirne auf, die von der Decke baumelte.
Marie hatte schon vorher erkannt, dass es um das Haus - freundlich ausgedrückt - nicht zum Besten stand, doch in diesem grellen Licht wirkte es erst richtig trostlos. Am liebsten hätte sie das Licht sofort wieder ausgemacht.
»Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihr.
»Scheiße sagt man nicht«, belehrte Jonathan sie besserwisserisch.
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis alles aus dem Auto geräumt war. Bei jedem einzelnen Koffer packte Marie der Zweifel, ob es nicht doch besser wäre, in ein Hotel zu fahren. Doch sie wollte so spät am Abend nicht mehr ins Auto steigen und den Kindern eine weitere Fahrtstrecke zumuten. Wann immer sie mit einem neuen Koffer das Haus betrat, hielt sie den Blick hartnäckig auf den Boden gerichtet, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was alles zu renovieren war und wie viele Tage sie hier ausschließlich putzen musste, um sich halbwegs wohl zu fühlen.
Jonathan, der neben Hannahs Bettchen wartete und einmal mehr den »Baby-Animateur« gab, um sie bei guter Laune zu halten, zählte schonungslos alle Missstände auf.
»Hast du schon das Klo gesehen? Der Klodeckel hat einen Sprung!«, rief er ihr entgegen. Als sie das zweite Mal zum Haus zurückkehrte, meldete er: »Die Vorhänge sind von der Stange gerutscht. « Und seine letzte Hiobsbotschaft lautete: »Vor dem Fenster liegt ein totes Tier.«
Bis jetzt hatte Marie ihn ignoriert, aber nun schrie sie entsetzt auf: »Was?«
Sie stürzte zum Fenster, riss es auf und stellte erleichtert fest, dass das, was man mit viel Phantasie - und Jonathan hatte davon mehr als reichlich - für eine tote Katze halten konnte, in Wahrheit völlig verrottete Blumenkisten waren. Resigniert schloss sie das Fenster wieder.
Als sie in der Küche die Tasche mit dem Reiseproviant auspackte, bemühte sie sich, nirgendwo anzustoßen. Kurz wagte sie es, den Kühlschrank zu öffnen, schlug ihn aber sofort wieder zu. Er war zwar leer, aber nicht geputzt, und überall standen gelbliche oder graue Schimmelflecken, ganz zu schweigen vom üblen Geruch, der ihr entgegenschlug.
»Ich will Pommes!«, erklärte Jonathan unbeeindruckt.
»Woher soll ich denn jetzt, bitte schön, Pommes nehmen? Du hast heute doch schon Lasagne gegessen, und hier, du kannst eine Banane haben.«
Er murmelte irgendetwas Unwilliges, aß aber die Banane. Auch Hannah steckte sich ein Stück in den Mund - wie immer ein so großes, dass sie es kaum kauen konnte und Marie Angst hatte, dass sie sich daran verschlucken würde - und war hinterher so gestärkt, dass sie gerne das Haus erkunden wollte. Als Einzige schien sie sich nicht daran zu stören, wie verdreckt und heruntergekommen alles war, und Marie konnte sie nur mühsam davon abhalten, indem sie ihr den Inhalt eines Hippgläschens in den Mund schaufelte.
»Da steht aber ›Guten-Morgen-Müesli‹ drauf!«, krähte Jonathan. »Und jetzt ist es Abend.«
Seit einigen Wochen konnte er lesen, und er war so stolz darauf, dass er es bei jeder Gelegenheit demonstrierte.
»Manchmal muss man eben improvisieren«, sagte Marie.
»Was heißt das?«
Marie überlegte kurz, wie sie es ihm am besten erklären sollte. »Nun«, meinte sie schließlich, »stell dir vor, wir sind auf der Flucht, und mit letzter Not haben wir dieses Haus erreicht. Es ist weit und breit der einzige Unterschlupf vor Feinden.«
»Welchen Feinden?«
»Egal jetzt!«
»Aliens?«
»Meinetwegen. Auf jeden Fall sind wir hier sicher. Am besten, wir verbringen die Nacht im Wohnzimmer.«
»Aber die Treppe führt doch in den ersten Stock, und dort oben sind die Schlafzimmer, oder?«
Ihr Sohn hatte recht, aber Marie konnte sich unmöglich aufraffen, weitere Räume in Augenschein zu nehmen und auf noch mehr Katastrophen zu stoßen.
»Hier ist es gemütlicher«, sagte sie schnell. »Wir ziehen für uns beide die Couch aus, und Hannah kann in ihrem Reisebettchen schlafen.«
Im Schrank im Flur befand sich Bettwäsche. Sie fühlte sich zwar klamm an und verströmte einen süßlichen Geruch, aber das war jetzt auch egal, zumal sich zu ihrer Müdigkeit Kopfschmerzen gesellten. Trotzdem nahm sie sich die Zeit, zumindest ein Regal sauber zu wischen, um darin die Essensreste zu verstauen. Das völlig verdreckte Putztuch, das sie in der Spüle vorgefunden hatte, musste dafür reichen. Als sie den Wasserhahn aufdrehte, tat sich erst mal gar nichts. Dann schoss ihr eine braune Ladung entgegen, der wenig später ein rötliches Rinnsal folgte.
Nur mit Mühe verkniff sie sich ein neuerliches »Scheiße«.
»Müssen wir nun alle ungebadet ins Bett gehen?«, fragte Jonathan. Anders als seine Mutter schien ihn der Gedanke daran sichtlich zu faszinieren.
Marie seufzte. Immerhin, sie hatte noch Baby-Feuchttücher, damit konnten sie sich notdürftig die Hände reinigen. Und sie war bereit, eine halbe Wasserflasche zu opfern, um das Regal sauber zu bekommen.
Aber wie sollte es nur morgen weitergehen?
Die Müdigkeit wurde immer übermächtiger, und auch Jonathan begann zu gähnen. Nur Hannah begann tatenhungrig, den Inhalt der Schublade zu inspizieren, die vorhin auf den Boden gefallen war.
»Pass auf, dass sie nichts in den Mund nimmt!«
So schnell wie möglich errichtete sie ein provisorisches Nachtlager. »Auch wenn wir kaum Wasser haben, die Zähne müssen wir uns trotzdem putzen«, verkündete sie hinterher.
Jonathan maulte, während Hannah am liebsten die Tube Zahnpasta aufgegessen hätte. Als Marie sie ihr wegnahm, brach sie in empörtes Gebrüll aus, und Marie beeilte sich, Wasser aufzusetzen, um ihr Abendfläschchen zuzubereiten. Immerhin, einer der Töpfe schien nur mit ein paar Kalkflecken beschlagen und nicht völlig verdreckt zu sein, und der Herd funktionierte.
Hannah hatte das Fläschchen noch nicht mal zur Hälfte leergenuckelt, als ihr zu Maries Erleichterung die Augen zufielen: Trotz des Nickerchens im Auto machten sich die Reisestrapazen bemerkbar. Jonathan war auch bereits eingeschlafen.
Marie legte sich zu ihm auf die Couch. Sie war so weich, dass sie morgen früh wohl üble Rückenschmerzen haben würde, aber im Moment war es einfach nur eine Wohltat, endlich die Augen zu schließen.
Als Marie nach ein paar Stunden hochfuhr, hatte sie einen Moment lang keine Ahnung, wo sie war. Panik stieg in ihr hoch, und erst als sie die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge ihrer Kinder vernahm, beschwichtigte sich ihr Herzschlag. Egal, wo sie war: Solange die beiden so friedlich schliefen, war es ein guter Ort. Kaum, dass sie sich entspannte, begannen jedoch Erinnerungen auf sie einzuprasseln, und sie konnte nicht mehr einschlafen.
Dass sie völlig überstürzt hierhergekommen war, erschien ihr jetzt bei Dunkelheit nicht länger als spontaner Einfall, sondern als eine Flucht. Sie wälzte sich hin und her und machte schließlich eine der monströsen Lampen an. Das Licht war nur diffus, reichte aber aus, um ihre vielen Koffer und Taschen zu beleuchten.
Wo nur sollte sie in diesem verdreckten Haus all ihr Gepäck verstauen?
Sie verdrängte den Gedanken, stand auf und ging zu einer der Taschen. Drei Leinwände ragten hervor, und gedankenverloren strich sie darüber. Noch waren sie völlig weiß ...
Und die Pinsel, die ebenfalls in der Tasche steckten - wann waren sie zuletzt feucht gewesen? Wann hatte sie das letzte Mal gemalt?
Es musste Monate, nein, Jahre her sein. Bis jetzt hatte sie sich immer gesagt, dass sie in all den Turbulenzen schlichtweg keine Zeit dafür gefunden hatte, doch wie sie da im trüben Licht hockte, musste sie sich eingestehen: Ich kann es nicht ... nicht mehr ... nicht nach allem, was geschehen ist.
Sie war nicht nur nach Guernsey gekommen, um Erholung zu finden und den Kindern mit einem Tapetenwechsel über ihren Verlust hinwegzuhelfen, sondern hatte auf einen Neuanfang gehofft - als Malerin. Doch nun war es ihr unvorstellbar, inmitten von Chaos und Verfall in Ruhe hinter der Staffelei zu sitzen. Wie hatte sie sich nur der Illusion hingeben können, dass vor ihr ein wunderschöner, unbeschwerter Sommer in einem gemütlichen Cottage liegen würde?
Sie fröstelte, legte sich rasch wieder ins Bett, kuschelte sich an Jonathan und machte das Licht aus.
Tränen traten ihr in die Augen, und sie ließ zu, dass sie ihr übers Gesicht perlten. In den letzten Wochen hatte sie sie immer heruntergeschluckt und sich gesagt, dass sie für die Kinder stark sein müsste, doch jetzt fühlte sie sich unendlich schwach ... und sie war Tausende Kilometer von Isabella, ihrer besten Freundin, entfernt. Sie überlegte, sie anzurufen, aber war sich nicht sicher, wo ihr iPhone geblieben war. Zuletzt hatte Jonathan im Auto damit gespielt, wahrscheinlich war es noch dort. Über diese Überlegungen versiegten die Tränen, und ehe sie sich entscheiden konnte, ob sie aufstehen und das iPhone holen sollte, war sie eingeschlafen.
Als sie wieder erwachte, drang Dämmerlicht durch die Fensterläden.
Jonathan schlief immer noch friedlich, Hannah war im Schlaf regelrecht herumgewandert und lag mit dem Kopf am Fußende. Aber sie war kein einziges Mal in der Nacht aufgewacht - ein Zeichen, wie groß ihre Erschöpfung gewesen war.
Marie lauschte. In weiter Ferne vernahm sie ein Geräusch, das langsam, aber sicher näher kam. Zuerst hielt sie es für das Miauen einer Katze, doch je länger dieser klagende Laut ertönte, desto größer wurde ihre Gewissheit: Jemand weinte, und es klang ziemlich verzweifelt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Eben noch hatte das Lied der Brandung fröhlich und kraftvoll geklungen, nun mischte sich vom Himmel her ein dunkles Grollen in die Musik des Meeres. Wenn die Gischt gegen die Klippen spritzte, glich es einem bösartigen Zischen. Nicht länger klangen die Schreie der Möwen wie ein Juchzen, als frohlockten sie über die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres, sondern klagend und warnend zugleich. Auch der Himmel stand nicht mehr in einem kräftigen, herbstlichen Blau, das Reinheit, Weite und Freiheit verhieß, sondern war so schmutzig grau wie die unruhige See.
Die junge Frau beschleunigte ihren Schritt. Aus dem Spaziergang entlang des schmalen Küstenpfades war längst eine Flucht geworden. Jemand beobachtete sie, sie fühlte es ganz deutlich.
Noch war er hinter einem Gebüsch verborgen, doch je fahler das Licht wurde und je näher der Sturm kam, desto größer wurde sein Mut. Bald würde er sein Versteck verlassen und hinter einem der hohen Bäume hervortreten, bald würde er ihr nachschleichen, und wenn sie beginnen würde zu rennen, würde er es ihr gleichtun.
Der Wind blähte ihre Kleider, riss ihr Haar in sämtliche Himmelsrichtungen, kündete mit klagendem Pfeifen von Unheil.
Beeil dich ... lauf, so schnell du kannst ... bring dich in Sicherheit!
Doch wo sollte sie Zuflucht finden? Und vor allem: Bei wem?
Es gab doch niemanden auf der Welt, der sich schützend vor sie stellen würde ...
Die Möwen flogen flacher; einige von ihnen ließen sich auf den Wellen nieder und harrten schaukelnd des kommenden Unwetters.
Wie schön es wäre, dachte die junge Frau plötzlich, einfach die Flügel auszubreiten, wegzufliegen, alles hinter sich zu lassen - das Elend, die Not ... und vor allem das Rascheln im Gebüsch.
Aber sie konnte nicht fliegen, stolperte stattdessen über eine dornige Ranke, fiel zu Boden und spürte, wie sich spitze Steine und raue Wurzeln in ihre Handfläche gruben. Kurz übertönte ihr Schnaufen jeden anderen Laut, doch als sie den Atem anhielt, vernahm sie es wieder: dieses schleifende Geräusch, als würde jemand seinen Fuß hinter sich herziehen.
Wer immer dieses Wesen war, es kam näher ... immer näher.
Sie sprang auf. Wald, Meer, Klippen - nichts bot Zuflucht -, aber jetzt sah sie inmitten von Grau, dunklem Grün und Braun etwas Rötliches aufblitzen. Ein Dach.
Sie wusste, das Haus stand leer, niemand würde herbeieilen, wenn sie um Hilfe rief, aber sie konnte darin Unterschlupf finden, die Tür ebenso verschließen wie die Fensterläden, konnte den aufziehenden Sturm und Regen nach draußen verbannen ... und auch den geheimnisvollen Verfolger.
Ihre Stiefel scheuerten schmerzhaft an ihrer Ferse, als sie wieder zu rennen begann, der Druck auf der Brust - nicht nur von der ungewohnten Anstrengung, sondern von Beklommenheit, ja Panik rührend - nahm zu, und trotz des kühlen Windes brach ihr der Schweiß aus. Aber sie stolperte kein weiteres Mal, lief schneller, schüttelte ihren Verfolger ab - glaubte es zumindest, denn da waren keine Schritte mehr zu hören - und erreichte endlich das Haus.
Zum Glück stand die Tür weit offen. Sie fiel beinahe über die Schwelle, als sie hineinstürzte, sank, kaum dass sie im Inneren war, auf die dunklen Eichendielen, gönnte sich jedoch nur eine kurze Pause, ehe sie wieder aufsprang. Als sie sich umdrehte, hätte sie schwören können, dass da schon jemand stand und sie nicht mehr rechtzeitig die Tür zuschlagen könnte. Doch nichts. Nur der Wind hatte sie die letzten Schritte über begleitet, zerrte an den Blumen im Vorgarten, riss ihre Blätter ebenso ab wie die schon welken Blüten und ließ sie nackt zurück.
Die junge Frau packte entschlossen die Klinke, zog die Tür zu und schob den Riegel vor. Der Wind schien ärgerlich aufzuheulen, als er durchs Gebälk fuhr, weil ihr die Flucht gelungen war, doch er konnte ihr nichts mehr anhaben.
Ihr Atem beruhigte sich, das Haar hing ihr zerzaust ins Gesicht. Sie machte sich nicht die Mühe, es zurückzustreichen, sondern eilte von Zimmer zu Zimmer, um sämtliche Fensterläden zu schließen.
Als sie fertig war, war nicht nur der Sturm nach draußen verbannt, sondern auch das letzte Abendlicht. Sie nahm nur die Konturen der Einrichtung war, dunklen, gedrungenen Gestalten gleich, unheimlich, aber nicht bedrohlich. Sie stöhnte, begann verspätet zu zittern.
Ich hätte ihr nicht trauen dürfen, dachte sie. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich nicht an ihr Versprechen hält. Gewiss steckt sie dahinter. Sie hat jemanden auf mich gehetzt.
Nun, hier war sie fürs Erste sicher. Das dachte sie jedenfalls fünf Atemzüge lang. Dann vernahm sie ein Knarren. Es kam nicht vom Dachstuhl, sondern von der Treppe, wurde nicht vom röhrenden Wind verursacht, sondern von einem Gewicht, das sich langsam verlagerte - dem Gewicht von Schritten, die langsam die Treppe herunterkamen.
Noch hielt sie ihm den Rücken zugewandt, aber sie wusste: Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie ihn sehen, ihren Verfolger. Oder nein: Er hatte sie ja gar nicht verfolgt, er hatte einfach hier gewartet.
Die unsichtbaren Augen, die sie auf sich ruhen wähnte, hatten sie nicht von den Büschen her belauert, sondern vom Haus aus, und das bedeutete, dass sie ihm direkt in die Arme gelaufen war.
Sie sah sich nach einer Waffe um und griff nach dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hände kam, ohne recht zu wissen, was es überhaupt war. Beinahe entglitt er ihren feuchten Händen, doch sie umklammerte dieses Ding energisch. Weiß traten ihre Fingerknöchel hervor.
Jetzt war sie dafür gerüstet, sich umzudrehen. Doch als sie es tat, erkannte sie, dass ihr diese Waffe nichts nutzen würde.
Sie blickte ihrem Mörder direkt ins Gesicht.
1
Als sie in die kleine Straße Richtung Cottage abbog, bereute Marie zum ersten Mal, dass sie so überstürzt nach Guernsey aufgebrochen war. Die Straße war schmal und wurde an beiden Seiten von riesigen Hecken begrenzt, die sämtliches Licht verschluckten. Was sollte sie nur tun, wenn ihr ein Fahrzeug entgegenkam? Zurückfahren war unmöglich: Die Straße, die hinter ihr lag, war ebenso steil wie kurvig.
Ihr brach der Schweiß aus. Als ob der Linksverkehr nicht schon genug Herausforderung wäre - obendrein waren auf der Insel die Wege abseits der Hauptstraße wohl eher für Fußgänger und Radfahrer vorgesehen als für ihren Familienkombi!
Jonathan entging nicht, wie angespannt sie war. »Sind wir bald da?«, fragte er ungeduldig.
»Gleich, gleich ...«
»Das sagst du schon die ganze Zeit.«
Marie wagte einen Blick in den Rückspiegel. Hannah, ihre achtzehn Monate alte Tochter, schlief noch, allerdings zuckten dann und wann ihre Hände und Beine, ein Zeichen, dass der Friede nicht mehr lange andauern würde. Und Jonathan, ihr sechsjähriger Sohn, wollte endlich das Cottage sehen und würde sich weigern, Hannah zu trösten und abzulenken.
Sie umklammerte das Lenkrad, starrte wieder auf die Straße und war sich plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt die richtige war. Wo, verdammt nochmal, sollte sie wenden, wenn sie in einer Sackgasse gelandet war?
Verdammt, verdammt, verdammt. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
Nicht dass sie nicht gewarnt worden wäre.
»Spinnst du?«, hatte ihre Freundin Isabella empört gerufen, als sie von ihren Plänen berichtete. »Du willst von Berlin nach Guernsey mit dem Auto fahren? Dann bist du ja tagelang unterwegs. Und das mit zwei Kindern!«
»Ich habe alle Zeit der Welt«, hatte Marie erklärt. »Wenn die beiden schwierig werden, lege ich eben eine Rast ein.«
Bis Saint-Malo war tatsächlich alles gutgegangen: Sie hatten einmal in Deutschland, das zweite Mal in Belgien übernachtet und die letzte Nacht bereits in Frankreich verbracht. Und es war, anders als erwartet, völlig problemlos gewesen, den Fährhafen zu finden. Danach jedoch hatten die Probleme begonnen: Anstatt, wie ursprünglich geplant, direkt nach Guernsey zu fahren, hatte die Fähre einen Zwischenstopp auf Jersey eingelegt, wo sie ewig lange Passkontrollen über sich ergehen lassen mussten.
»Man hat ja das Gefühl, dass man in die DDR einreisen will«, hatte der Mann rechts hinter ihnen gebrummt.
»Guernsey gehört ja offiziell auch nicht zu Großbritannien und folglich der EU, sondern ist als Kronland direkt der Queen unterstellt «, hatte seine Frau besserwisserisch erklärt - eine Information, die sie offenbar gerade in ihrem Reiseführer nachgelesen hatte.
Jonathan schien die lange Wartezeit nicht zu stören. Die Schusswaffe des rothaarigen Grenzbeamten, der mit strengem, ausdruckslosem Gesicht ihre Pässe kontrollierte, hatte ihn völlig in Bann gezogen. Hannah hingegen hatte sich vor Schreck an sie geklammert und war nach der bis dahin so friedlichen Reise quengelig geworden. Zunächst hatte sie sich noch von einem Teddybär mit der Aufschrift »Condorferry« besänftigen lassen, den Marie ihr gekauft hatte, später mit einem Stück Lasagne, das sie zwar nicht essen wollte, aber deren Zutaten sie auf dem Tablett verschmierte. Doch als sie mit dem Auto die Fähre verließen und Marie geflucht hatte, weil der nachkommende Fahrer fast in sie gekracht wäre, war die Kleine in Tränen ausgebrochen.
Zum Glück hatte die Erschöpfung sie bald überwältigt, doch nun hatte Marie mit den Tücken des Linksverkehrs und der schmalen Straßen zu kämpfen. Und dass es schon dunkel war und obendrein nieselte, machte die Sache nicht leichter.
»Sind wir bald da?«, fragte Jonathan wieder.
»Herrgott, wir sind da, wenn wir da sind!«
Sie biss sich auf die Lippen und schämte sich, dass sie ihre Nerven verloren hatte. Jonathan konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Guernsey fremd geworden war. Es gab schon so viel, mit dem er zurechtkommen musste, da sollte sie ihm wenigstens eine genervte Mutter ersparen.
»Tut mir leid«, murmelte sie.
Sie reichte ihm ihr iPhone, damit er »Fingercutter« spielen konnte, ein eigentlich grässliches Spiel, bei dem es darum ging, den Finger so schnell wie möglich aus einer virtuellen Guillotine zu ziehen, aber Hauptsache, er war fürs Erste abgelenkt.
Sie hielt nach einem Schild Ausschau. Das Cottage lag unmittelbar in der Nähe vom Fermain Bay, einem der berühmtesten und malerischsten Strände der Insel, und der musste doch irgendwo ausgeschildert sein!
Tatsächlich entdeckte sie ein Schild, doch es war so klein, dass es nur Wanderer, bestenfalls Radfahrer entziffern konnten. So ein Mist!
»Hier geht's nicht weiter«, erklärte Jonathan gnadenlos.
Auch wenn sie es sich bis jetzt nicht hatte eingestehen wollen - sie war tatsächlich in einer Sackgasse gelandet. Zumindest gab es an deren Ende genügend Platz zum Wenden, und als sie zurückfuhr, entdeckte sie, dass eine kleine Straße nach rechts abbog und diese - wie ein weiteres, diesmal lesbares Schild angab - nach Clairmont Manor führte. Das wiederum war ein altes Herrenhaus in der Nähe ihres Cottage. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte beides einmal zusammengehört.
Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Jetzt sind wir gleich da, versprochen, und heute Abend packen wir nur das Nötigste aus. Du wirst sehen, wir werden einen tollen Sommer haben. Als Kind bin ich in den Ferien immer hier gewesen und habe die Zeit total genossen.«
Seitdem waren allerdings ein paar Jahre ins Land gezogen, und sie hatte keine Ahnung, in welchem Zustand sich das Cottage mittlerweile befand. Millie, ihre Halbschwester und Mitbesitzerin des Anwesens, hatte ihr zwar den Schlüssel geschickt, aber zu bedenken gegeben, dass sich seit Jahren niemand mehr darum gekümmert hatte.
»Na ja«, hatte Marie all ihre Warnungen in den Wind geschossen. »Ein Dach wird es ja wohl schon noch haben.«
Jetzt, da das letzte Dämmerlicht endgültig von dunklen Wolken verschluckt wurde, war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob hier überhaupt ein Haus stand.
Guernsey war nicht gerade eine einsame Insel, sondern großflächig verbaut, aber je tiefer sie in das Stück Wald fuhr, desto gottverlassener fühlte sie sich. Weit und breit war kein Licht zu sehen, nur Bäume und Hecken, hinter denen sich nur Niemandsland zu verbergen schien, kein gemütliches Häuschen.
Marie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Immerhin, sagte sie sich, so abgeschieden wie das Cottage liegt, wird uns wohl kein Auto entgegenkommen.
Endlich fanden die Hecke und der Wald ein Ende, und sie kamen an einem breiten Tor vorbei.
»Ist es das?«, fragte Jonathan aufgeregt.
»Nein, dahinter befindet sich Clairmont Manor. Scheint nicht bewohnt zu sein, so finster, wie es hier ist.«
Sie trat aufs Gas. Die Straße war nicht länger asphaltiert, und sie betete darum, dass Hannah nicht aufwachte, als sie über Wurzeln und Steine rumpelten. Schließlich knirschten Kiessteine unter den Reifen, und der Scheinwerfer richtete sich auf eine Hauswand aus beige-grau anmutendem Naturstein.
Noch sah sie zu wenig vom Cottage, um seinen Zustand einschätzen zu können.
»Aber das ist es jetzt?«, fragte Jonathan.
Er klang enttäuscht.
Marie war sich sicher, dass die Fensterläden einst in strahlendem Blau gestrichen worden waren, aber ob es nun an der Finsternis lag oder daran, dass die Farbe längst abgeblättert war - sie glichen dunklen Löchern, und die Räume, die sie verbargen, wirkten nicht einfach nur leer, sondern wie tot.
»Du wirst sehen, bei Tageslicht wird alles ganz toll ausschauen!«
Es fiel ihr schwer, fröhlich und zuversichtlich zu klingen, und noch schwerer, Jonathan im Rückspiegel anzulächeln.
Er murmelte ein paar undeutliche Worte und spielte ein letztes Mal Fingercutter.
Maries Lächeln schwand. Vielleicht war es tatsächlich ein großer Fehler gewesen hierherzukommen, dachte sie wieder.
Anders als erwartet, wachte Hannah nicht von selbst auf, als sie die Autotüren öffnete, weswegen Marie sie aufwecken musste. Dass sie nicht in lautstarkes Protestgebrüll ausbrach, sondern ihren Condorferry-Teddy fest an sich presste und ihren Kopf in Maries Halsbeuge schmiegte, deutete diese schon mal als gutes Zeichen. So hatte sie zwar keine Hand frei, um neben der Handtasche mit dem Schlüssel auch einen der großen Koffer mitzunehmen, aber das war vielleicht ganz gut, solange sie keine Ahnung hatte, was sie im Inneren erwarten würde.
Zunächst war es nur Finsternis.
Sie konnte sich nicht erinnern, wo sich der Lichtschalter befand, und tastete eine Weile vergebens die Wand im Flur ab, doch als sie endlich darauf drückte, tat sich nichts. Hannah, die es mittlerweile auf zehn Kilo brachte, fühlte sich gleich doppelt so schwer an und begann, nun doch zu quengeln. Wann hatte sie das letzte Mal etwas getrunken? Und wo genau war eigentlich das Fläschchen?
Plötzlich fiel ein Lichtschein auf sie. Jonathan hatte die kleine Laserlampe, die sich am Autoschlüssel befand, angemacht.
»Irgendwo muss es einen Sicherungskasten geben«, erklärte er altklug.
Was für ein lebenspraktischer, kleiner Mann, dachte Marie stolz.
»Ja, klar!«, rief sie enthusiastischer, als ihr zumute war.
Im Flur entdeckte sie den Sicherungskasten allerdings nicht - nur ein Wandregal und, an einem Haken hängend, eine Taschenlampe. Offenbar war sie nicht die Erste, die hier hilflos im Finsteren gestanden war, und irgendeine gute Seele hatte beschlossen, sie sprichwörtlich nicht im Dunkeln tappen zu lassen.
Sonderlich stark war die Taschenlampe nicht, aber ihr Lichtschein reichte fürs Erste, den Boden zu beleuchten. Im Flur und im Wohnzimmer waren es alte Holzdielen, die von einer undefinierbaren grauen Masse bedeckt waren, und in der Küche ein grünlicher Linoleumboden, an den sie sich vage erinnern konnte. Als Kind hatte sie ihn nicht weiter schlimm gefunden, doch jetzt empfand sie ihn als Gipfel der Geschmacklosigkeit. Sie fuhr mit der Hand über den Tisch und blieb förmlich daran kleben, so dreckig wie er war. Alles wirkte feucht und modrig, was offenbar an den schlecht schließenden Fenstern lag. Es musste reingeregnet haben, und da seit Ewigkeiten nicht mehr gelüftet worden war, hatte die Feuchtigkeit nicht abziehen können. Im Wohnzimmer, zu dem von der Küche aus eine zweite Tür führte, begannen sich die Tapeten - ein Blumenmuster Marke Ashley - bereits zu lösen.
»Was ist das?«
Jonathan deutete auf das Uraltmodell eines Fernsehers, der so aussah, als könnte man hier bestenfalls Schwarzweißprogramme empfangen - eine riesige quadratische Kiste auf einem Plastikbein, der neben einem völlig durchgesessenen lindgrünen Sofa und zwei nicht nur enorm hässlichen, sondern auch riesengroßen Lampen das Wohnzimmer komplett verstellte.
Marie seufzte tief. »Den muss man wegschmeißen«, erklärte sie.
Doch wie wurde man hier auf Guernsey solch einen alten Apparat los? So wuchtig, wie er aussah, konnte sie ihn bestenfalls um ein paar Zentimeter verschieben.
Hannah quengelte immer lauter, aber als Marie sie auf dem Boden absetzen wollte, klammerte sie sich an ihr fest. Am liebsten hätte sie sich auf das lindgrüne Sofa gelegt, ob nun durchgesessen oder nicht, um für ein paar Minuten die Augen zu schließen, aber sie zwang sich dazu, der Müdigkeit nicht nachzugeben.
Jonathan trat zu dem alten, wurmstichigen Schrank. »Da sind ja nur Bücher drin, gar keine Spielsachen«, maulte er. »Du hast mir doch versprochen, dass es hier ganz viel zum Spielen gibt ...«
Ein Plan, sie brauchte einen Plan!
Erstens: Sie musste die Arme frei kriegen.
Zweitens: Sie musste für Licht sorgen.
Drittens: Sie musste Hannah etwas zu trinken geben.
»Pass mal auf, halt du mal die Taschenlampe und leuchte mir den Weg. Ich hol aus dem Auto das Reisebett für Hannah.«
Das Ding war zwar unförmig, aber nicht schwer. Während sie Hannah auf dem einen Arm trug, schleppte sie es mit der freien Hand ins Haus, klappte es im Wohnzimmer auf und setzte Hannah hinein. Die Babyflasche hatte sie mittlerweile auch gefunden, und sie war erleichtert, dass Hannah friedlich daran zu nuckeln begann, anstatt loszuheulen. Aber ehe sich ein gewisses Hochgefühl einstellen konnte, begann das Licht zu flackern. Die Batterien der Taschenlampe waren wohl ziemlich altersschwach.
Auf der Suche nach Ersatz riss sie mehrere Schubladen des Schreibtisches auf, der direkt neben dem Wandschrank stand, und die allesamt randvoll gesteckt mit Unmengen Papieren und unnützen Sachen wie Kerzenständern, kleinen Zinndöschen und Stoffblumen waren. Als sie die dritte Schublade öffnete, fiel diese ihr förmlich entgegen. Sie musste ihr ganzes Gewicht aufbringen, damit sie ihr nicht auf den Fuß krachte, doch auch wenn sie sie gerade noch halten konnte, landete ein Teil des Inhalts auf dem Boden.
Marie biss sich auf die Lippen. Das Licht flackerte noch stärker. Irgendwo mussten doch Kerzen sein und Streichhölzer, warum gab es sonst die vielen Ständer!
»Schau mal, da!«
»Jonathan, ich habe jetzt wirklich keine Zeit, ich muss ...«
»Schau mal da-ha!« Er klang leicht genervt und richtete die flackernde Taschenlampe auf einen Zettel, der auf den Boden gefallen war. Marie überflog ihn und erkannte, dass es Instruktionen für Gäste waren und unter anderem angegeben wurde, wo sich der Sicherungskasten befand, nämlich direkt unter dem Treppenaufgang.
»Gott sei Dank!«
Die Batterie reichte gerade so lange, um den Stromkasten zu öffnen und den Hauptschalter zu drücken. Ein lautes Summen ertönte, und einen Moment lang schien das ganze Haus zu vibrieren. Doch endlich leuchtete eine Glühbirne auf, die von der Decke baumelte.
Marie hatte schon vorher erkannt, dass es um das Haus - freundlich ausgedrückt - nicht zum Besten stand, doch in diesem grellen Licht wirkte es erst richtig trostlos. Am liebsten hätte sie das Licht sofort wieder ausgemacht.
»Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihr.
»Scheiße sagt man nicht«, belehrte Jonathan sie besserwisserisch.
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis alles aus dem Auto geräumt war. Bei jedem einzelnen Koffer packte Marie der Zweifel, ob es nicht doch besser wäre, in ein Hotel zu fahren. Doch sie wollte so spät am Abend nicht mehr ins Auto steigen und den Kindern eine weitere Fahrtstrecke zumuten. Wann immer sie mit einem neuen Koffer das Haus betrat, hielt sie den Blick hartnäckig auf den Boden gerichtet, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was alles zu renovieren war und wie viele Tage sie hier ausschließlich putzen musste, um sich halbwegs wohl zu fühlen.
Jonathan, der neben Hannahs Bettchen wartete und einmal mehr den »Baby-Animateur« gab, um sie bei guter Laune zu halten, zählte schonungslos alle Missstände auf.
»Hast du schon das Klo gesehen? Der Klodeckel hat einen Sprung!«, rief er ihr entgegen. Als sie das zweite Mal zum Haus zurückkehrte, meldete er: »Die Vorhänge sind von der Stange gerutscht. « Und seine letzte Hiobsbotschaft lautete: »Vor dem Fenster liegt ein totes Tier.«
Bis jetzt hatte Marie ihn ignoriert, aber nun schrie sie entsetzt auf: »Was?«
Sie stürzte zum Fenster, riss es auf und stellte erleichtert fest, dass das, was man mit viel Phantasie - und Jonathan hatte davon mehr als reichlich - für eine tote Katze halten konnte, in Wahrheit völlig verrottete Blumenkisten waren. Resigniert schloss sie das Fenster wieder.
Als sie in der Küche die Tasche mit dem Reiseproviant auspackte, bemühte sie sich, nirgendwo anzustoßen. Kurz wagte sie es, den Kühlschrank zu öffnen, schlug ihn aber sofort wieder zu. Er war zwar leer, aber nicht geputzt, und überall standen gelbliche oder graue Schimmelflecken, ganz zu schweigen vom üblen Geruch, der ihr entgegenschlug.
»Ich will Pommes!«, erklärte Jonathan unbeeindruckt.
»Woher soll ich denn jetzt, bitte schön, Pommes nehmen? Du hast heute doch schon Lasagne gegessen, und hier, du kannst eine Banane haben.«
Er murmelte irgendetwas Unwilliges, aß aber die Banane. Auch Hannah steckte sich ein Stück in den Mund - wie immer ein so großes, dass sie es kaum kauen konnte und Marie Angst hatte, dass sie sich daran verschlucken würde - und war hinterher so gestärkt, dass sie gerne das Haus erkunden wollte. Als Einzige schien sie sich nicht daran zu stören, wie verdreckt und heruntergekommen alles war, und Marie konnte sie nur mühsam davon abhalten, indem sie ihr den Inhalt eines Hippgläschens in den Mund schaufelte.
»Da steht aber ›Guten-Morgen-Müesli‹ drauf!«, krähte Jonathan. »Und jetzt ist es Abend.«
Seit einigen Wochen konnte er lesen, und er war so stolz darauf, dass er es bei jeder Gelegenheit demonstrierte.
»Manchmal muss man eben improvisieren«, sagte Marie.
»Was heißt das?«
Marie überlegte kurz, wie sie es ihm am besten erklären sollte. »Nun«, meinte sie schließlich, »stell dir vor, wir sind auf der Flucht, und mit letzter Not haben wir dieses Haus erreicht. Es ist weit und breit der einzige Unterschlupf vor Feinden.«
»Welchen Feinden?«
»Egal jetzt!«
»Aliens?«
»Meinetwegen. Auf jeden Fall sind wir hier sicher. Am besten, wir verbringen die Nacht im Wohnzimmer.«
»Aber die Treppe führt doch in den ersten Stock, und dort oben sind die Schlafzimmer, oder?«
Ihr Sohn hatte recht, aber Marie konnte sich unmöglich aufraffen, weitere Räume in Augenschein zu nehmen und auf noch mehr Katastrophen zu stoßen.
»Hier ist es gemütlicher«, sagte sie schnell. »Wir ziehen für uns beide die Couch aus, und Hannah kann in ihrem Reisebettchen schlafen.«
Im Schrank im Flur befand sich Bettwäsche. Sie fühlte sich zwar klamm an und verströmte einen süßlichen Geruch, aber das war jetzt auch egal, zumal sich zu ihrer Müdigkeit Kopfschmerzen gesellten. Trotzdem nahm sie sich die Zeit, zumindest ein Regal sauber zu wischen, um darin die Essensreste zu verstauen. Das völlig verdreckte Putztuch, das sie in der Spüle vorgefunden hatte, musste dafür reichen. Als sie den Wasserhahn aufdrehte, tat sich erst mal gar nichts. Dann schoss ihr eine braune Ladung entgegen, der wenig später ein rötliches Rinnsal folgte.
Nur mit Mühe verkniff sie sich ein neuerliches »Scheiße«.
»Müssen wir nun alle ungebadet ins Bett gehen?«, fragte Jonathan. Anders als seine Mutter schien ihn der Gedanke daran sichtlich zu faszinieren.
Marie seufzte. Immerhin, sie hatte noch Baby-Feuchttücher, damit konnten sie sich notdürftig die Hände reinigen. Und sie war bereit, eine halbe Wasserflasche zu opfern, um das Regal sauber zu bekommen.
Aber wie sollte es nur morgen weitergehen?
Die Müdigkeit wurde immer übermächtiger, und auch Jonathan begann zu gähnen. Nur Hannah begann tatenhungrig, den Inhalt der Schublade zu inspizieren, die vorhin auf den Boden gefallen war.
»Pass auf, dass sie nichts in den Mund nimmt!«
So schnell wie möglich errichtete sie ein provisorisches Nachtlager. »Auch wenn wir kaum Wasser haben, die Zähne müssen wir uns trotzdem putzen«, verkündete sie hinterher.
Jonathan maulte, während Hannah am liebsten die Tube Zahnpasta aufgegessen hätte. Als Marie sie ihr wegnahm, brach sie in empörtes Gebrüll aus, und Marie beeilte sich, Wasser aufzusetzen, um ihr Abendfläschchen zuzubereiten. Immerhin, einer der Töpfe schien nur mit ein paar Kalkflecken beschlagen und nicht völlig verdreckt zu sein, und der Herd funktionierte.
Hannah hatte das Fläschchen noch nicht mal zur Hälfte leergenuckelt, als ihr zu Maries Erleichterung die Augen zufielen: Trotz des Nickerchens im Auto machten sich die Reisestrapazen bemerkbar. Jonathan war auch bereits eingeschlafen.
Marie legte sich zu ihm auf die Couch. Sie war so weich, dass sie morgen früh wohl üble Rückenschmerzen haben würde, aber im Moment war es einfach nur eine Wohltat, endlich die Augen zu schließen.
Als Marie nach ein paar Stunden hochfuhr, hatte sie einen Moment lang keine Ahnung, wo sie war. Panik stieg in ihr hoch, und erst als sie die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge ihrer Kinder vernahm, beschwichtigte sich ihr Herzschlag. Egal, wo sie war: Solange die beiden so friedlich schliefen, war es ein guter Ort. Kaum, dass sie sich entspannte, begannen jedoch Erinnerungen auf sie einzuprasseln, und sie konnte nicht mehr einschlafen.
Dass sie völlig überstürzt hierhergekommen war, erschien ihr jetzt bei Dunkelheit nicht länger als spontaner Einfall, sondern als eine Flucht. Sie wälzte sich hin und her und machte schließlich eine der monströsen Lampen an. Das Licht war nur diffus, reichte aber aus, um ihre vielen Koffer und Taschen zu beleuchten.
Wo nur sollte sie in diesem verdreckten Haus all ihr Gepäck verstauen?
Sie verdrängte den Gedanken, stand auf und ging zu einer der Taschen. Drei Leinwände ragten hervor, und gedankenverloren strich sie darüber. Noch waren sie völlig weiß ...
Und die Pinsel, die ebenfalls in der Tasche steckten - wann waren sie zuletzt feucht gewesen? Wann hatte sie das letzte Mal gemalt?
Es musste Monate, nein, Jahre her sein. Bis jetzt hatte sie sich immer gesagt, dass sie in all den Turbulenzen schlichtweg keine Zeit dafür gefunden hatte, doch wie sie da im trüben Licht hockte, musste sie sich eingestehen: Ich kann es nicht ... nicht mehr ... nicht nach allem, was geschehen ist.
Sie war nicht nur nach Guernsey gekommen, um Erholung zu finden und den Kindern mit einem Tapetenwechsel über ihren Verlust hinwegzuhelfen, sondern hatte auf einen Neuanfang gehofft - als Malerin. Doch nun war es ihr unvorstellbar, inmitten von Chaos und Verfall in Ruhe hinter der Staffelei zu sitzen. Wie hatte sie sich nur der Illusion hingeben können, dass vor ihr ein wunderschöner, unbeschwerter Sommer in einem gemütlichen Cottage liegen würde?
Sie fröstelte, legte sich rasch wieder ins Bett, kuschelte sich an Jonathan und machte das Licht aus.
Tränen traten ihr in die Augen, und sie ließ zu, dass sie ihr übers Gesicht perlten. In den letzten Wochen hatte sie sie immer heruntergeschluckt und sich gesagt, dass sie für die Kinder stark sein müsste, doch jetzt fühlte sie sich unendlich schwach ... und sie war Tausende Kilometer von Isabella, ihrer besten Freundin, entfernt. Sie überlegte, sie anzurufen, aber war sich nicht sicher, wo ihr iPhone geblieben war. Zuletzt hatte Jonathan im Auto damit gespielt, wahrscheinlich war es noch dort. Über diese Überlegungen versiegten die Tränen, und ehe sie sich entscheiden konnte, ob sie aufstehen und das iPhone holen sollte, war sie eingeschlafen.
Als sie wieder erwachte, drang Dämmerlicht durch die Fensterläden.
Jonathan schlief immer noch friedlich, Hannah war im Schlaf regelrecht herumgewandert und lag mit dem Kopf am Fußende. Aber sie war kein einziges Mal in der Nacht aufgewacht - ein Zeichen, wie groß ihre Erschöpfung gewesen war.
Marie lauschte. In weiter Ferne vernahm sie ein Geräusch, das langsam, aber sicher näher kam. Zuerst hielt sie es für das Miauen einer Katze, doch je länger dieser klagende Laut ertönte, desto größer wurde ihre Gewissheit: Jemand weinte, und es klang ziemlich verzweifelt.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Sophia Cronberg
Sophia Cronberg wurde 1975 in Linz (Österreich) geboren. Fast ebenso alt ist ihre Leidenschaft, Geschichten zu erzählen. Mit vierzehn Jahren schrieb sie ihren ersten abgeschlossenen Roman. Seit einigen Jahren ist sie hauptberuflich Schriftstellerin. Sie spielt gern Klavier und liebt das Reisen. Sophia Cronberg ist Mutter einer kleinen Tochter und lebt abwechselnd in Frankfurt am Main und in Österreich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sophia Cronberg
- 464 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863658701
- ISBN-13: 9783863658700
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