Die Machtfrage
Demokratie lebt nicht so sehr vom Miteinander der Parteien, als viel mehr von deren Gegeneinander - davon ist Spiegel-Redakteur Gabor Steingart zutiefst überzeugt. Ein Plädoyer für die Erneuerung unserer Demokratie.
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Demokratie lebt nicht so sehr vom Miteinander der Parteien, als viel mehr von deren Gegeneinander - davon ist Spiegel-Redakteur Gabor Steingart zutiefst überzeugt. Ein Plädoyer für die Erneuerung unserer Demokratie.
Zum 60. Geburtstag des Landes ein aufrüttelndes Buch voller unbequemer Fragen: Warum steigt die Zahl der Nichtwähler ständig? Sind unsere Parteien überfordert? Leben wir in einer "Demokratie von oben", wo zunehmend "Politik ohne Volk" betrieben wird?
Mit kühler Präzision analysiert Gabor Steingart die Machtfrage in unserem System, beschreibt die Kanzlerkandidaten und den Niedergang der Volksparteien. Und findet trotz allem eine überraschende (Wahl-)Empfehlung!
Die Machtfrage – Politik ohne Volk von Gabor Steingart
Einleitung.
Willy Brandt, mein Vater und die Entdeckung der Demokratie
Meine Familie war gerade aus dem ersten Italienurlaub zurückgekehrt, in der ZDF-Hitparade belegte Juliane Werding mit „Am Tag, als Conny Kramer starb“ den ersten Platz, da bewarb sich SPD-Kanzler Willy Brandt um seine Wiederwahl.
Mit einem Sonderzug der Bundesbahn durchquerte er im Sommer 1972 das Land, mit kratziger Stimme hielt er seine Reden. Sie handelten von Mitgefühl, Gleichberechtigung und von Demokratie. Ich hatte so etwas noch nie gehört. Mein Vater auch nicht.
Niemand durfte reden, wenn Brandt redete. Die Blumen auf dem Wohnzimmertisch wurden vor Beginn der Tagesschau zur Seite gestellt, damit die beiden sich in die Augen sehen konnten. Dein Vater ist sehr für ihn, sagte meine Oma.
Der jugendliche Brandt hatte sich gegen die Nazis gewehrt und war schließlich nach Norwegen ausgewandert. Mein Vater hatte sich gegen die Kommunisten in Budapest gewehrt und musste sein Land 1956 verlassen. Brandt konnte nach dem Krieg zurückkehren, mein Vater nicht. Er wartete auf das Rückkehrrecht in seine ungarische Heimat seit nunmehr 19 Jahren. Brandt schien ihn zu verstehen. Er sprach von Entspannung – und von Reisefreiheit.
Auf dem Weg nach Hause liefen wir schweigend nebeneinander her und genossen das große Ereignis, dessen kleiner Teil wir nun waren. Ich war gerade zehn Jahre alt geworden.
Selbst als ich Jahre später erfuhr, wie empfindsam, weich, nachgiebig und in Depressionen versunken Brandt sein konnte, hat das meinen Vorrat an Bewunderung für ihn nicht geschmälert. Durch ihn hatte ich den Weg zur Politik gefunden, auch wenn es zunächst ein kindlicher Trampelpfad war. Die Demokratie, so viel immerhin verstand ich, war eine Sehnsucht, die größer war als meine bisherigen Sehnsüchte. Mitreden, mitentscheiden, eine Obrigkeit, die von unten kommt, das schien auszureichen für ein ganzes Leben oder zwei.
Während Brandt die großen Städte besuchte, kümmerte ich mich in den folgenden Wochen um den niedersächsischen Bergarbeiterort Bad Salzdetfurth, in dem wir damals wohnten. Ich klingelte an den Haustüren der Mietshäuser, um auf den bevorstehenden Wahltag aufmerksam zu machen. Wo immer jemand sich interessierte, zeigte ich mein kleines Sortiment an Aufklebern, Flugblättern und Broschüren.
Eine Hochglanzschrift über Brandt sah derart wertvoll aus, dass ich begann, dafür eine kleine, nennen wir es Schutzgebühr zu erheben. Von Frauen mit Schürze und Männern in blauer Arbeitsbekleidung verlangte ich 30 Pfennige, Krawattenträger zahlten einen Aufschlag. Brandt war beliebt bei den Leuten. Innerhalb weniger Wochen brachte ich es zu einem kleinen Vermögen.
Es war nun ausgerechnet mein Vater, der dieser noch jungen Beziehung zur Demokratie einen Dämpfer verpasste. Es sei nicht erlaubt, das Wahlmaterial einer Partei zu verkaufen, sagte er. Ich musste das Geld dem Opferstock der katholischen Pfarrgemeinde spenden.
Mein Vater war ein romantischer Demokrat, wie sie überall während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. In mir aber steckte womöglich früh schon der Typus des heutigen Vernunftdemokraten. Ich wusste damals noch nicht, was eine Win-win-Situation ist, aber zwischen Brandt und mir musste eine solche existiert haben. Ich half ihm, seine Wahl zu gewinnen. Er half mir, mein Taschengeld aufzubessern. Am Wahlabend konnten wir beide zufrieden sein: Mit 91,1 Prozent war die höchste Wahlbeteiligung aller Zeiten erreicht worden, und er hatte gewonnen.
Dem Triumph folgte das, was mein Vater und ich als Tragödie erlebten, Brandt trat noch vor Ablauf der Wahlperiode zurück. Es gab plötzlich so viele Gerüchte, der Spion, die Frauen, der Alkohol. Politik war Drama geworden. Wir kauften zusammen den stern, denn dessen Titelgeschichte versprach in zwei Worten, wonach wir suchten: „Die Wahrheit“.
Mein Verhältnis zur Demokratie wurde in den folgenden Jahren des Erwachsen-Werdens noch inniger. Denn die Demokratie, so schien es mir damals, war auf einmal in Gefahr. Die Konservativen hatten 1980 den Bayern Franz Josef Strauß auf den Schild gehoben. Freiheit statt Sozialismus, hieß sein Wahlkampfslogan, doch die Fahne der Freiheit trug er nicht. Es war jedenfalls nicht die Freiheit, die ich meinte.
Ich wollte Abrüstung, Strauß warb für deutsche Atomwaffen. Ich wollte Demokratie, er lobte den chilenischen Diktator Pinochet. Ich begann, Spiegel zu lesen, er hatte dessen Gründer einst verhaften lassen. Stoppt Strauß, das war für meinen Vater und mich nun die erste Bürgerpflicht. Am Wahltag, endlich durfte auch ich meine Stimme abgeben, traten wir nicht als Wähler, sondern als Widerstandskämpfer an die Urnen. Helmut Schmidt hat gewonnen, aber wir hatten gesiegt.
Es gab damals viele solcher Väter und viele dieser Söhne. Doch wo sind sie geblieben? Die Zeit der großen demokratischen Leidenschaft in Deutschland scheint vorbei zu sein. Die romantischen Demokraten verlassen uns allmählich und keiner weiß, wohin uns Nachgeborene der Pragmatismus noch führen wird. Die romantischen Väter werden uns fehlen.
Der heutige Politiker wird weniger bewundert als beobachtet. Den großen Worten hört man noch immer hinterher, auch in der Absicht herauszufinden, ob sie hohl klingen. Die Demokratie unserer Zeit wird weniger von politischen Ideen definiert als von Interessen.
Wenn es einen Ehevertrag zwischen Regierung und Regierten gäbe, würde darin heute der Satz stehen: Wir haben einander nützlich zu sein. US-Präsident Franklin Delano Roosevelt meinte denselben Sachverhalt, als er sagte: „Der einzige Weg, einen Freund zu haben, ist einer zu sein.“
Nur braucht die Demokratie, um leben zu können, mehr als einen Freund. Sie braucht Millionen davon. Sie ist auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass die Zahl der ihr Wohlmeinenden deutlich größer ist als die Zahl der Gleichgültigen und gar die Zahl derer, die sie hassen.
Sie hat es nicht leicht. Sie soll Wohlstand schaffen, Sicherheit garantieren und Sinn stiften. Sie soll mehr sein, als wir sind, obwohl sie nur aus uns besteht.
Nicht wenige haben der Demokratie in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt, weil diese nicht die Ergebnisse lieferte, die von ihr erwartet wurden. Die Enttäuschten gehen leise. Sie geben keine Erklärungen ab, sie toben und wüten nicht. Und eines Tages, das ist meine Befürchtung, werden sie mit tonloser Stimme sagen: Es war nicht schade um sie. Sie war zum Schluss nicht mehr die Alte.
Das Gegenwärtige weist in die Zukunft, heißt es oft. Im Fall unserer Demokratie ist das keine Verheißung. Wenn es mehr Gleichgültige als Wohlmeinende gibt, sind die Tage der Demokratie gezählt.
Klang es bisher so, als hätten sich nur die Wähler verändert, muss dieser Eindruck nun erweitert werden. Die zweite, vielleicht sogar dramatischere Veränderung fand im Kreise der Politiker statt. Die Parteien, die sie hervorbringen, sind in die Jahre gekommen. Sie wirken ermattet. Einen leidenschaftlichen Politiker haben sie uns schon lange nicht mehr vorbeigeschickt.
Der politische Ingenieur hat den Betrieb übernommen. Er hält alles für programmierbar, auch die demokratische Leidenschaft. Die Unterschiede zwischen den großen Parteien sind kaum größer als die zwischen Master- und Visacard. Ihre Sprache klingt zuweilen mechanisch, wie vom Band.
Die anstehende Bundestagswahl ist ein guter Anlass, den Politikern eine Botschaft zu übermitteln. Dafür sind Wahlen da. Die Machtfrage wird an den Wähler gerichtet, damit er sie beantwortet.
Natürlich hätten es die Parteien am liebsten, wir riefen ihnen einfach einen der bekannten Namen zu: FDP, Grüne, Linke, SPD, CDU oder CSU. Das bedeutet dann für sie: Macht weiter wie gehabt! Regiert fleißig und lasst mich mit Politik in Ruhe! Ich habe anderes zu tun!
Aber das bedeutet eben auch die Fortschreibung des Bestehenden: Vier weitere Jahre Politik ohne Volk. Ohne Leidenschaft. Ohne Ideen.
Es gibt einen Weg, nicht zurück zu Brandt und Schmidt, aber zu neuer Leidenschaft und zu mehr Demokratie. Amerika hat ihn gerade beschritten. Der neue Präsident, Barack Obama, sagt nicht mehr „ich will“, sondern er sagt „wir können“. Er schließt ein, nicht aus. Er hat ein unerhörtes Experiment gestartet: Politik mit Volk.
Am Wahltag, dem 4. November vergangenen Jahres, musste ich an meinen Vater denken. Wie einst er mit mir, so ging ich aus Neugier mit meiner fünfjährigen Tochter in ein Wahllokal in Washington. Es war in der Baptistenkirche im Ortsteil Georgetown, die Menschen warteten geduldig in langen Schlangen, beobachteten uns, wie wir sie beobachteten. „Wollen die alle zu Obama?“, fragte meine Tochter.
Im Nebenschiff der Kirche standen die Wahlkabinen. Es herrschte religiöse Stille. Demokratie ist, erklärte ich flüsternd, wenn es keinen König mehr gibt und die Menschen sich ihren Präsidenten selber wählen. „Und ich?“, fragte meine Tochter sofort. „Warum darf ich nicht Barack Obama wählen?“ Es war der erste Politikername ihres Lebens, der ihr flüssig über die Lippen kam. Eine kleine, trotzige Demokratin war geboren.
Der Weg zu einem deutschen Obama ist ein langer Weg. Politik mit Volk, Demokratie mit Leidenschaft – wir werden beides nicht geschenkt bekommen. Dieses Buch versucht einen Weg dorthin zu skizzieren. Nicht die Überwindung der Demokratie ist das Ziel, sondern die Überwindung ihrer Erstarrung. Ich glaube es lohnt sich, diesen Weg zu gehen, auch wenn er ein Wagnis ist. Vielleicht können wir ihn zusammen gehen.
Gabor Steingart, Frühjahr 2009
Sie. Die verschleierte Kanzlerin
Angela Merkel I.
Normalerweise ist es so: Der Bauarbeiter baut, der Lehrer lehrt, der Kellner kellnert und der Politiker wirkt durch das Wort. Für ihn gilt: Sprich, damit ich dich erkennen kann.
Angela Merkel aber hält sich nicht daran. Sie spricht, sie spricht sogar viel, wie es das Amt der Regierungschefin von ihr verlangt, aber sie gibt sich nicht zu erkennen. Man kann sogar sagen, die Kanzlerin ist mit dem Herzeigen ihres Dekolletees gelegentlich freizügiger als mit dem Vorzeigen ihrer Überzeugung.
Jeder Demokrat steht damit vor einer schwierigen Aufgabe. Es ist sein Ehrgeiz, eine möglichst vernünftige Wahlentscheidung zu treffen. Aber wie soll das gehen? Vernunft setzt Erkennen und Verstehen voraus. Was tun, wenn jemand sein Etikett bewusst unbeschriftet lässt?
Auf jedem Marmeladenglas sind heutzutage Fruchtanteil, Zuckergehalt und die Namen der Konservierungsstoffe verzeichnet, da würde man doch auch von den Kanzlerin gern wissen: Wer sind Sie? Woraus besteht Ihr Angebot?
Das Verrückte im Fall von Merkel ist, dass diese Fragen beantwortet schienen. Freund und Feind wussten, was von ihr zu halten war. Sie besaß ein sauber beschriftetes Etikett. Sie kam aus der DDR, sie wollte nie mehr dorthin zurück. Sie war im neuen, ungeteilten Deutschland eine „Zugereiste“, wie sie selbst sagte, aber eine mit Reisegepäck.
Die mitgebrachte Sprache klang erdig und klar, zuweilen altmodisch, gewachsen in Abgrenzung zum Wortsalat der offiziellen DDR, kultiviert in der Nische von Elternhaus und Freundeskreis. So etwas hatte man im Westen lange nicht gehört.
Ihr Lebenslauf, der sie vom Pfarrhaus in der Provinz an die Spitze von Europas größter Industrienation führen sollte, verlief krumm und schief, und sie tat nichts, ihn später zu begradigen. Als sich die Mauer am 9. November 1989 öffnete, so erzählte sie einmal, habe sie nicht mal die Nachrichten des Tages verfolgt. In der Schönhauser Allee saß sie mit einer Freundin in der Sauna, als wenige Straßenzüge weiter Weltgeschichte geschrieben wurde.
Merkel war eine ungewöhnliche, eine deutliche und dadurch zuweilen auch schroffe Politikerin. Sie ragte aus ihrer Generation heraus, weil sie eine Ahnung des Kommenden zu besitzen schien und den Mut, es auszusprechen.
Mut ist eine der beiden knappen Ressourcen in der Politik. Die andere ist Geduld, und auch davon schien Merkel sich einen Vorrat angelegt zu haben. Viele waren schneller, sie war gründlicher. Die anderen dachten von Landtagswahl zu Landtagswahl, sie mitunter in Jahrzehnten. Es war nicht übertrieben, diese Frau als Ausnahmepolitikerin zu empfinden.
Erinnern wir uns nur, wie sich nach oben kam. In einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung drängte die damalige CDU-Generalsekretärin den CDU-Parteivorsitzenden Helmut Kohl zur Offenlegung der heimlichen Millionenspender, von denen er und die CDU sich hatten aushalten lassen. Aus der schmucken Garde der CDU-Ministerpräsidenten wäre diese Aufmüpfigkeit keinem auch nur im Traum eingefallen.
„Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden. Diese Erkenntnis muss Helmut Kohl für sich annehmen.“
Weil sie ja wusste, dass Kohl diese Erkenntnis für sich niemals annehmen würde, schickte sie ihm die Rücktrittsforderung gleich hinterher, verhüllt in nur dünnem Zeitungspapier:
„Die Partei muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.“
Die Partei war beeindruckt. Diese Chuzpe! Dieser Kampfesmut! Das Schlachtross zog sich tatsächlich zurück. Kaum hatte sich Merkel den Reitersattel des Alten geschnappt, sprach sie mit den Deutschen in gleicher Weise deutlich, ohne die Pflichtlügen und Zweckwahrheiten, die der normale Würdenträger für die Bürger bereithält. Merkel sagte Sätze wie diesen:
„Der Staat hat sich übernommen. Wir leben seit Langem vor allem von der Substanz. Ein Kurs des Streichens, Kürzens, Sparen ist unverzichtbar.“
Die Rentner bezog sie ausdrücklich mit ein, weil sie ja wusste, dass die Zusagen der Rentenversicherung nicht zu halten sind. Sie forderte es nicht, sie sagte nur, was ohnehin passieren wird:
„Das Rentenniveau wird langsam, aber deutlich sinken müssen.“
Bei den Steuern war ihr aufgefallen, dass die vielen um Gerechtigkeit bemühten Paragraphen des Steuergesetzbuches in einer großen Ungerechtigkeit mündeten. Also bestand sie auf einem Neuanfang auch in der Steuerpolitik:
„Das bisherige Einkommenssteuergesetz ist nicht mehr reparabel. Wir brauchen ein neues. Es wird Heulen und Zähneklappern geben, aber es muss sein.“
Die deutliche Angela Merkel ist dann so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Wer nach ihr sucht, stößt auf eine Politikerin gleichen Namens, die nun das Bundeskanzleramt bewohnt. Wenn etwas deutlich ist an ihr, dann die Art, wie sie sich von der anderen Merkel unterscheidet.
Angela Merkel II.
Die neue Merkel sieht aus wie die alte, aber sie klingt anders. Vor allem handelt sie anders. Sie setzte die Renten hinauf, genehmigte ein höheres Wohngeld, zahlte mehr Kindergeld aus und hob auch die Geldzahlungen für Hartz-4-Empfänger an. Alles wird bezahlt aus jener Substanz, von der unser Staat schon so lange lebt.
Die von der Regierung festgelegten Mindestlöhne waren der letzte Streich, den die neue der alten Merkel spielte. Das fördere nur die Schwarzarbeit, hieß es bei ihr vorher. Der Staat habe bei der Lohnfindung nichts zu suchen. Mittlerweile klingt das so: Überall in Europa gebe es Mindestlöhne, in Lissabon und in Litauen. „Daran kann ich nicht einfach vorbeigehen und den Bürgern sagen, ein Mindestlohn ist ordnungspolitisch unsinnig. Punkt! Das würde keiner begreifen.“
Wer ein intaktes Riechorgan besitzt, bekommt den Geruch des Opportunismus kaum mehr aus der Nase. Selbst wer die Positionswechsel in der Sache begrüßt, sollte mit dem Applaus sparsam sein. Denn eine von beiden Positionen muss künstlich sein, vielleicht sind es sogar beide. An dieser Stelle interessiert nicht, ob der Mindestlohn segensreich oder verwerflich ist, ob die Rentner zu viel oder zu wenig bekommen. Die Botschaft ist uns an dieser Stelle gleichgültig. Uns interessiert die Botschafterin.
Jede Merkel für sich ist eine Möglichkeit, man kann links oder man kann rechts sein, für oder gegen Reformen, für oder gegen Schulden. Aber beide Merkels zusammen sind das Unding.
Merkel I. und Merkel II. haben die Wähler genarrt wie nur wenige Politiker zuvor. Die Reformer wählten sie zu Unrecht. Die ihnen gemachten Versprechen blieben unerfüllt. Die Reformgegner haben ihr aus falschem Grund die Stimme verweigert. Das Befürchtete geschah gar nicht.
In der Großen Koalition habe sie ihr Programm nicht durchsetzen können, sagt sie zu ihrer Entschuldigung. Dabei haben die stärksten Kanzler zunächst ohne jeden politischen Rückenwind gearbeitet. Adenauer wurde mit nur einer Stimme Regierungschef – und was für einer. Schmidt lag in der Bundestagswahl 1976 um Längen hinter Helmut Kohl, erreichte das Kanzleramt ebenfalls mit nur einer Stimme Mehrheit. Na und? Es folgten fulminante vier Jahre.
Aber darum geht es gar nicht. Nicht, dass sie keine Reform durchsetzte ist der Vorwurf, sondern dass sie es nicht versucht hat. Sie hat ihre Reformagenda von einem Tag auf den anderen fallen gelassen. Sie versucht seither das Mögliche zum Richtigen zu erklären, was angesichts der tatsächlichen Lage des Landes einer erneuten Täuschung gleichkommt.
Was sich nach der Bundestagswahl ereignete war so, als hätte Adenauer die Westintegration versprochen, um nach nur mäßigem Wahlerfolg mit Moskau anzubandeln, als hätte Schmidt im Wahlkampf für finanzielle Disziplin geworben und nach nur knapp überstandenem Wahltag das Staatsdefizit hemmungslos erhöht. Merkel bot eine dolle und für die politische Bühne ungewöhnliche Verkleidungskomödie, bei der sich am Ende des Stückes herausstellte, der Zuspruch war so unbegründet wie die Ablehnung.
Aber vielleicht liegt dem eben Gesagten schon wieder ein Irrtum zugrunde. Wer sagt eigentlich, das Stück sei zu Ende? Vielleicht beginnt bald schon der dritte Akt. Die Hauptdarstellerin bewirbt sich ja gerade für eine Fortsetzung nach dem Wahltermin. Niemand weiß, wie dann die Rolle der Merkel besetzt sein wird, wahrscheinlich nicht mal sie selbst.
Wer ihre Verwandlung verstehen will, muss sich den Abend des 17. September 2005 ins Gedächtnis rufen. Es war der Tag jener Bundestagswahl, die Schröder verlor und Merkel nicht gewann. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik war keine der Volksparteien stark genug, zusammen mit einer kleineren Partei zu regieren.
Ermattet fielen sich die beiden Volksparteien in die Arme. Der 17. September 2005 war nicht der Tag, an dem die Krise der deutschen Nachkriegsdemokratie ausbrach, aber es war der Tag an dem sie sich erstmals in dieser Deutlichkeit zeigte.
An jenem Wahlsonntag vor vier Jahren wurde Angela Merkel gegen Mittag die erste Prognose gereicht. Aus den sensationellen 48 Prozent, die man ihr zu Beginn des Wahlkampfes prognostiziert hatte, waren nun mickrige 39 Prozent für die CDU geworden. Und der Wahltag hatte erst begonnen.
Die ersten Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen waren ein böses Omen für sie. Denn die ersten Zahlen sind immer gnädig mit den Konservativen. Deren Wähler stehen früher auf als die der anderen Parteien und eilen nach dem Frühstück schnurgerade zum Wahllokal. Das ist die jahrzehntelange Erfahrung der Demoskopen.
So musste die Oppositionsführerin mitansehen, wie mit jeder neuen Depesche der Meinungsforscher ihr Vorsprung dahinschmolz. Am Abend, zum Schlussgong, waren ihr nur noch 35,2 Prozent geblieben. Merkel konnte heilfroh sein, dass die Wahllokale endlich ihre Türen schlossen.
Nur noch 0,1 Prozent trennten die Union von der SPD, was einer unerhörten Niederlage gleichkam. Der Satz von Joachim Fest, dass in der Politik bloßes Wissen so wenig bewirkt wie bloße Emotion, bewahrheitete sich für sie auf dramatische Weise. Der Wähler hatte ihre Klugheit als kühl, ihr Programm als unbarmherzig und ihre Person als fremd empfunden.
Ihr Gegenspieler Gerhard Schröder triumphierte an jenem Abend, wie man wohl selten einen Politiker in der Öffentlichkeit triumphieren sah. Er hatte monatelang wie ein Löwe um den Verbleib im Kanzleramt gekämpft, und als er im Fernsehstudio auf Merkel traf, glaubte er noch an ein Wahlwunder. Sie werden nie Bundeskanzlerin, nun lassen Sie mal die Kirche im Dorf, Sie können es nicht, fauchte er sie an.
Wer in dieser Nacht Angela Merkel traf, stieß auf eine Frau, die sich am besten mit den Worten grimmig-entschlossen beschreiben lässt. Merkel hatte sich nach der Fernsehsendung mit ihrem silbernen Dienst-BMW in die CDU-Parteizentrale zurückfahren lassen. Der Lärm aus dem Parterre des Konrad-Adenauer-Hauses drang nach oben. Leibwächter hatten alle Fahrstühle blockiert. Nur mit Codewörtern und Hausausweis gelangte man in die Kommandozentrale einer Feldherrin, die um ihr politisches Überleben kämpfte. Das hieß in diesem Fall, sie telefonierte. Parteien, das wusste die Kohl-Bezwingerin, gehen mit erfolglosen Vorsitzenden nicht sehr gnädig um.
Schließlich stürmte Merkel aus ihrem Zimmer. Sie könne jetzt nicht reden, sagte sie. Und schon redete sie. Alles sei im Fluss, jede Festlegung unmöglich. Es waren noch immer nicht alle Stimmen ausgezählt. Die Mehrzahl der Sitze für die Union schien fraglich.
Sie sprach sehr ruhig. Wenn Friedrich Nietzsche recht hat, indem er Lust beschreibt als „eine Reizung des Machtgefühls durch ein Hemmnis“, dann muss Angela Merkel in der Stunde größter Not zugleich größte Lust empfunden haben. Sie wirkte jedenfalls nicht aufgelöst, wie manche Zeitungen hinterher berichteten, sie wirkte klar, konzentriert, ihre Augen blitzten.
Sie war die Königin, die nun dafür kämpfen musste, dass der eigene Hofstaat sie nicht ermordete. Später könne man gern ausführlicher reden, sagte sie, besonders gern über das Thema „Der Wähler und die Wahrheit“. Ein feines Lächeln zog über ihr Gesicht.
In dieser Wahlnacht verlor sie den Respekt vor der Wahrheit. Sie beendete ihre Liaison mit der Wirklichkeit. Seit jener Nacht arbeitet sie ähnlich dem bildenden Künstler, der auch keinen Respekt vor dem weißen Gips hat, aus dem er sein Kunstwerk formt. Er spachtelt, knetet, schneidet weg – so lange, bis die Urmasse nicht mehr wie Gips aussieht, sondern wie die Jungfrau Maria oder ein Reiterdenkmal.
Merkel hat es im Kneten, Glätten und Verfremden der Wirklichkeit weit gebracht. Sie ist eine abstrakte Künstlerin geworden, das Gegenständliche hat sie hinter sich gelassen.
Sie will nun „Chancen wahrnehmen“, „Voraussetzungen schaffen“, sieht „Möglichkeiten eröffnet“, natürlich müssten noch „umfassende Antworten“ gefunden werden, aber alles sei „auf gutem Wege“, auch wenn man „Rückschläge hinnehmen muss“, doch alles sei „voller Chancen, nach innen und nach außen“, man müsse das Land nur „gemeinsam nach vorne bringen“. So redete sie in ihrer ersten Regierungserklärung und seither hunderte Male.
Welche Chancen sie sieht, welche Voraussetzungen sie erwartet, mit welchen Rückschlägen sie rechnet, wo für sie vorne ist und wo hinten, all das erfährt man nicht mehr von ihr. Die neue Merkel will beliebt und nicht mutig sein. Sie will gemocht und nicht gefürchtet werden. Das Deutliche empfindet sie als nicht mehr zeitgemäß. Ihre alten „Fahnenworte“, wie Erhard Eppler die Erkennungsvokabeln eines jeden Politikers nennt, hat sie eingezogen. An ihrem Mast hängt nun, was an den anderen Masten auch baumelt. Sie will, was alle wollen, ihre Wiederwahl gewinnen, und dann sieht man weiter.
So viel Unklarheit über das politische Wollen eines Regierungschefs hat es in der bundesdeutschen Demokratie selten gegeben. Adenauer wählen hieß „Keine Experimente“, so war es auch angekündigt. Brandt wählen bedeutete das Gegenteil: Reformen überall. Schmidt war Schmidt und Kohl blieb Kohl. Die rot-grüne Regierung gab sich zumindest Mühe, die von ihr geweckten Erwartungen zu erfüllen. Wer ein latentes Durcheinander, nicht unähnlich den Verhältnissen einer Wohngemeinschaft, in seine Erwartungen einbezog, wurde nicht enttäuscht.
Die neue Merkel aber verweigert schon die Erwartung. Sie hat sich verschleiert.
- Autor: Gabor Steingart
- 2009, 214 Seiten, Maße: 12,5 x 20,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492051510
- ISBN-13: 9783492051514
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