Die Madonna von Santiago
Die Madonna von Santiago von Toti Lezea
LESEPROBE
DerBaumeister Geoffroi Bisol war ein bereits reifer Mann, dessen durchdringenderBlick halb hinter buschigen Augenbrauen verschwand. Er besaß volles, graues, meistvon einem Barett bedecktes Haar und einen dichten Bart, der ihn ältererscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Seine Kleider waren von schlichtemSchnitt, ohne Pelzbesätze, Bordüren oder Juwelen, doch die gute Qualität derStoffe widersprach dem ersten Eindruck, dass es sich um einen einfachenHandwerker mit bescheidenem Einkommen, einen Kellermeister oder den Besitzereiner Leinenweberei handelte. Seinen Ruf hatte er sich durch die Arbeit anmehreren Bauwerken erworben, unter denen besonders die Kathedrale seinerGeburtsstadt Troyes zu erwähnen war, und ihm war bewusst, dass ihm nicht mehrgenügend Lebenszeit verbleiben würde, um alle Aufträge zu erledigen, die aufseinem Arbeitstisch warteten. Zurzeit leitete er den Wiederaufbau derKathedrale von Châlons, die vor einigen Jahren bei einem Brand zerstört wordenwar, als er eine Botschaft erhielt, er möge unverzüglich nach Vertuszurückkehren. Voller Angst, zu Hause könnte etwas Schlimmes vorgefallen sein,ließ er das Maultier schirren und machte sich sofort auf den Weg.
Es warbereits dunkel, als er die brennende Fackel am Eingang des Ortes Vertus vorsich sah, der hauptsächlich vom Wein lebte und wo Madeleine und er sich abseitsder Stadt ihr Haus gebaut hatten. Fast alle Bewohner arbeiteten in den Weinbergen,und auch er hatte einen kleinen Rebenacker erworben, in den er sich zurückzog,sobald es seine Arbeit zuließ - also so gut wie nie. Seine einzige Tochter Alixwar hier geboren und hatte die Leere in seinem Leben ausgefüllt. In einemAlter, in dem seine Bekannten bereits Großeltern waren, war er der Vater eineswundervollen Mädchens geworden. Sie hatte ihm ein zweites Leben geschenkt.Madeleine, eine warmherzige, gütige Frau aus dem Dorf, hatte ihm ein Zuhausegeschaffen, das ihm seit dem Tod seiner Mutter vor zehn Jahren gefehlt hatte.Wie die Priesterinnen der Antike wachte sie über das Herdfeuer und wartete aufseine Rückkehr, wenn er Tage, zuweilen Monate unterwegs war. Sie sprachen nichtviel, denn ihre Sprache unterschied sich ebenso wie ihre Wünsche undSehnsüchte. Er hatte den Kopf stets voller Baumuster und Formen, doch sielauschte seinem Schweigen, und aus ihren Augen sprach die Bewunderung, die sieempfand, wenn sie ihn über seinen Tisch gebeugt arbeiten sah. Das stilleEinverständnis ersetzte die fehlenden Worte mehr als genug. Und dann war da dasBett, das sein ganzes Leben lang kalt gewesen war und nun plötzlich warm undeinladend. Er war kein großer Liebhaber, und man konnte auch nicht ebenbehaupten, dass er jemals wegen einer Sache, die er für reine Zerstreuunghielt, den Kopf verloren hätte. Aber es war beruhigend, den Körper einer Frauneben sich zu spüren und ihren Atem zu hören. Seit sie zusammen waren, fühlteer sich weniger einsam.
Noch bevorer vom Maultier gestiegen war, kamen ihm einige seiner Nachbarnentgegengelaufen, um ihm mitzuteilen, dass Madeleine zusammen mit vielenanderen aus der ganzen Gegend unter dem Vorwurf der Ketzerei festgenommen undzur Burg gebracht worden war.
»Es heißt,dass sich über fünfhundert Gefangene dort befi nden«, teilte ihm ein Mann mit.
Erüberschlug die Zahl rasch im Kopf. Sie erschien ihm ein wenig übertriebenangesichts der Tatsache, dass die unterirdischen Verliese der Burg nicht so vieleMenschen aufnehmen konnten. Er wusste es genau, denn er hatte die Anlage selbstgebaut, aber dann sah er das Bild von eingepferchtem Vieh vor sich, und esüberlief ihn kalt.
»Angeblich«,fuhr der Mann fort, »will der Inquisitor ein Exempel statuieren und plant einengroßen Prozess. Er hat sich geschworen, alle Ketzer auf immer zu vernichten.«
»Der Teufelhat diesen Kerl mit einer Hexe gezeugt!«, rief ein anderer der Umstehenden, unddie Übrigen nickten zustimmend.
Ende desletzten Sommers hatte sich die Raserei der Champagne bemächtigt, und seitherwar der Friede in den anständigen Häusern dahin. Vier Jahre zuvor hatte GregorIX. ein kirchliches Sondertribunal zur Bekämpfung der Ketzerei ins Lebengerufen. Diese Aufgabe hatte bislang in weltlichen Händen gelegen, doch nachAuffassung des Papstes waren die Verfahren zu langsam und die Strafen zu milde,obwohl bereits eine ganze Reihe von Ketzern hingerichtet worden war. DerDominikanermönch Robert Lepetit wurde zum Inquisitor für Nordfrankreich bestelltund schwor, nicht eher zu ruhen, bis die Ketzerei ausgerottet war. Nach demDafürhalten vieler war er auf dem besten Wege dorthin.
Es dauerteeine Weile, bis Geoffroi begriff, weshalb Madeleine eingekerkert worden war.Aufmerksam lauschte er den Erklärungen eines betagten Mannes in einerschlichten schwarzen Kutte, die mit einem Strick gegürtet war. Er wohnte imHause einer seiner Nachbarinnen, der alten Catherine, die seiner Frau bei derGeburt beigestanden hatte.
»Wir sindeine Christengemeinde, die niemandem etwas zuleide tut«, sagte nun der Mann,den sie Bischof Moranis nannten. »Wir lieben die Menschen, auch unsere Feinde,und kümmern uns um die Armen und Kranken, so wie Jesus es getan hat. Wirverlangen kein Geld von unseren Gläubigen und leben nicht in Klöstern. Wirhaben weder Kirchen noch Kathedralen. Unser Gotteshaus ist die Welt, und unserGlaube beruht auf der Bergpredigt und dem Lukasevangelium. Die Kirche in Romhat ihren Zorn auf uns geschleudert, man nennt uns Ketzer, und unsere Anhängerleiden unter furchtbarer Verfolgung. Aber Christus hatte auch kein Dach überdem Kopf. Der Papst indes lebt in einem Palast, und seine Priester bereichernsich am Zehnten. Wir glauben an den Frieden unter den Menschen, wir verurteilendie Todesstrafe, weil niemand das Recht hat, einem anderen das Leben zu nehmen,und wir sind gewiss, dass am Ende das Gute über das Böse siegen wird. Man kenntuns auch als Katharer«, schloss er mit einem Lächeln.
»Katharer?«,fragte Geoffroi erstaunt.
»Wir selbstnennen uns gute Gläubige.«
»Und washat Madeleine mit all dem zu schaffen?«
»Sie isteine von uns.«
Die Antwortverschlug Geoffroi die Sprache. Er blickte sich um. Seine Nachbarn, diesefriedfertigen Leute, mit denen er sich zuweilen unterhielt, über Weinstöcke undErnten sprach und mit denen er Grüße austauschte, erschienen ihm nun in einemanderen Licht: Sie waren Mitglieder einer von der Kirche verdammten Sekte.Ketzer. In diesem Augenblick fühlte er sich wie eine Fliege in einem riesigenSpinnennetz. Seine Tochter lehnte auf einem Stuhl; die Augen waren ihrzugefallen. Ihr Vater hob sie wortlos auf seine Arme und schloss sich mittotenblassem Gesicht in seinem Haus ein.
In dieserNacht tat er kein Auge zu. Er bewachte den ruhigen Schlaf der Kleinen, währender fürchtete, jeden Augenblick könnten die Sektierer erscheinen, mit ihremBischof an der Spitze, um sie beide mitzunehmen. In diesen langen Stundengingen ihm schreckliche Gedanken durch den Kopf. Wie war es möglich, dass ernichts bemerkt hatte? Wie konnte es sein, dass er nicht gemerkt hatte, dassMadeleine, seine herzensgute Ehefrau, eine von ihnen war? Dann überlegte er.Durch seine Eheschließung hatte sich nichts an seinem Lebensstil geändert.Bauarbeiten an den unterschiedlichsten Orten zwangen ihn, über längere Zeitfern von zu Hause zu sein. Seine Frau und er hatten nie über ihren Glaubengesprochen, sie hatten sich nie ihre innersten Gedanken und Wünsche anvertraut.Ihm hatte es genügt, sie in seiner Nähe zu wissen, sie gelegentlich zu liebenund sein Schweigen mit ihr zu teilen.
Er wusstenicht viel über diese Katharer, die von der Kirche verteufelt und derabscheulichsten aller Häresien beschuldigt wurden: Sie leugneten dieGöttlichkeit Jesu Christi, Grundlage der römischen Lehre. Sie glaubten nicht andie Jungfräulichkeit Mariens, die Sakramente, die Heiligenverehrung und denReliquienkult. Für sie gab es zwei Götter, einen guten und einen bösen,Schöpfer des Geistes der eine, Schöpfer der Materie der andere. Vor allem aberbezichtigten sie die Kirche Roms, ein Werkzeug des Teufels zu sein. Sie warenVerrückte, von Glaubenslehren aus dem Osten Europas vergiftet, und der Papsthatte zum Kreuzzug gegen sie aufgerufen. Seit Beginn des Jahrhunderts hatte esbereits zwei blutige Feldzüge mit Tausenden von Toten im Süden gegeben, inOkzitanien. Aber das war weit weg von der Champagne, dem Land der Kathedralenund Klöster, über dessen grüne Felder jene Pilger zogen, die an dem Grab desApostels Jakobus in Santiago de Compostela beten wollten.
Am nächstenMorgen wurde Geoffroi im ersten Tages14 licht in Begleitung von Alix in derBurg vorstellig und verlangte den Inquisitor zu sprechen. Er konnte seineÜberraschung kaum verhehlen, als man ihn in einen kleinen Raum führte und erplötzlich dem Dominikaner von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Siebegegneten sich nicht zum ersten Mal, und dieser Mann war keine Person, die manso rasch vergaß.
Vor einigenJahren hatte der Mönch die Kathedrale Notre Dame in Reims besucht und nicht anWorten der Begeisterung für das Wunderwerk gespart, das sich an derselbenStelle erhob wie die erste Kirche acht Jahrhunderte zuvor. Krönungskirche derKönige und eines der schönsten Bauwerke des neuen Stils in Frankreich,erstaunte es die Besucher durch seine riesigen Dimensionen und seine harmonischenStrukturen. Der Stil war kühn, erhaben, umstritten und von unbedingterSchönheit. Alle Baumeister, Zimmerleute, Steinmetze und Glasmaler des Landeswollten auf der Baustelle in Reims arbeiten. Geoffroi war einer von ihnengewesen. Er hatte am Mittelportal der Westfassade gearbeitet, das derMuttergottes gewidmet war.
DerDominikanermönch hatte die Fassade bestaunt, doch plötzlich war dieBegeisterung auf seinem Gesicht dem Zorn gewichen, als er die in Stein gehaueneFigur der Jungfrau Maria im mittleren Giebel entdeckte. Dargestellt war eineschöne Frau, deren Haar, das sie nach Art der unverheirateten Mädchen offentrug, ein makelloses, lächelndes Gesicht umrahmte. Nach der Mode der vornehmenDamen der Champagne gekleidet, schienen die Falten ihrer unter der Brustgerafften Tunika in Bewegung zu sein. Einladend streckte sie die Arme aus, alswollte sie zur Umarmung auffordern.( )
© KrügerVerlag
Übersetzung:Lisa Grüneisen
- Autor: Toti Lezea
- 2007, 492 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Grüneisen, Lisa
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810512885
- ISBN-13: 9783810512888
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