Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr
Roman
Lili lebt mit Samuel zusammen, dem Sozialarbeiter mit dem pelzfarbenen Blick und der sanften Stimme, der sie aus dem Jugendknast geholt hat. Doch eines Tages ist Yoïm wieder da, und mit ihm kehren die Gespenster der Vergangenheit zurück. Yoïm, Dealer und...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
8.00 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr “
Lili lebt mit Samuel zusammen, dem Sozialarbeiter mit dem pelzfarbenen Blick und der sanften Stimme, der sie aus dem Jugendknast geholt hat. Doch eines Tages ist Yoïm wieder da, und mit ihm kehren die Gespenster der Vergangenheit zurück. Yoïm, Dealer und Gauner, der sie aus dem Gefängnis ihrer Kindheit befreit hat, um sie in eine noch tiefere Abhängigkeit zu stürzen. Und nun sind mit ihm der Hass und die Verzweiflung wieder da, und zugleich die hypnotische Anziehung, die Lust an der Unterwerfung.
Lese-Probe zu „Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr “
IIn dieser Nacht hat mich die Stille geweckt. Eine lärmende Stille, die Stille der Städte, mit all den vertrauten Motoren, dem Brummen der Geräte, dem Sirren der Stechmücken und dem Anprallen einer Fliege gegen das Fenster. Ich hörte die Straße und das Quietschen der Reifen, die fernen Sirenen und das tausendfache Fernsehgeknister bei den Schlaflosen, ich hörte das Wasser, das in der Dusche klatschte, und die ins Verborgene des Telefonnetzes eingespeisten Botschaften, die den Raum um mich herum durchquerten, die mich durchquerten, um an ihr Ziel zu gelangen. Ich lauschte der Sommernacht, ihrem unregelmäßigen Herzschlag.
Geweckt hat mich aber, daß aus diesem Vibrieren nichts herausstach. Normalerweise höre ich die Tiere. Ich höre die Tiere im Zoo, wie sie ihr geheimnisvolles Nachtleben führen. Doch in dem Moment war da nichts. Sonst waren meine Nächte immer vom Trompeten des Elefanten, dem schrillen Gekreisch der Affen und dem Heulen der Kojoten durchdrungen. Auch panisches Federgeraschel, Schrecken und Alpträume der Tiere hätten da sein müssen; normalerweise hörte ich sie, hatte ich an ihrem nächtlichen Treiben teil, doch in dem Moment nichts mehr, nichts als eine Sommernacht, nichts als der Widerhall der Welt.
"Wo sind die Tiere?", das habe ich gesagt, glaube ich, aber es hat Samuel nicht geweckt, also habe ich es wahrscheinlich gedacht, ich habe mich im Bett aufgesetzt, es war hell, aber ich wußte nicht mehr, ob es der Vollmond war oder nur der fahle elektrische Schein der Straßenlampen. Ich bin aufgestanden und ans offene Fenster getreten, habe die betäubte Fliege befreit, indem ich den Vorhang bewegte, und den Geruch der Stadt eingeatmet - ein frischerer Geruch, wie gewaschen, ganz sauber und duftend, ein frischerer Geruch als am Tag -, aber die Tiere habe ich immer noch nicht gehört. Von meinem Fenster konnte ich die Gitter des Zoos und den großen Affenfelsen sehen, auch den oberen Teil der Voliere. Eine Weile habe ich gewartet, daß sie aufwachten,
... mehr
ich sagte mir, vielleicht gibt es ja jede Nacht eine Stunde, in der die Tiere still sind, vielleicht habe ich es einfach nie bemerkt. Ich habe gewartet, daß sie aufwachten. Ich stand da, regungslos, den Blick starr in den Garten gerichtet, die Schulter an den Fensterrahmen gelehnt, schon wieder am Einschlafen, im Stehen zwar, aber mit schon abdriftendem und verlangsamtem, nur noch mühsam funktionierendem Geist, als ich sie plötzlich vorbeiziehen sah.
Zuerst war es die Giraffe, deren langen, schaukelnden Hals ich über der Hecke gesehen habe; ich bin aus dem Fenster gestiegen und näher herangegangen, barfuß durch das nasse Gras. Alle waren sie da, sie zogen durch die menschenleere, in mattes Licht getauchte Straße, sie zogen vorüber, meine Tiere, die ganz kleinen umringt von den größeren, manche rennend, andere eher schlendernd, da waren das Elefantenpaar und die räudigen Wölfe, das Gürteltier und die Gürteltierjungen, da waren alle Affen und Wanda, die alte Gorilladame - so stand es auf dem Schild an ihrem Käfig -, da waren Viecher, deren Namen ich nicht kannte, und das wunderbare, langsam schreitende Okapi - seine besondere Traurigkeit habe ich immer gemocht -, da waren die Wildkatzen, die Zebras und auch die Geier, die über der ganzen Zeremonie kreisten. Ich sagte mir, ist das schön, das ist so schön, ich murmelte es vor mich hin, hinter der Hecke kauernd, auch etwas erschreckt, ich wiegte mich leicht in der feuchten Luft und spürte, wie meine Füße in der lockeren Erde einsanken. In einer traumartigen Stille sah ich alle Tiere vorüberziehen. Ich dachte, sie sind still, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen, sie laufen davon, die Tiere laufen davon, und ich fing an zu lachen, ganz leise, damit sie mich nicht hörten und fressen kämen, ich lachte hinter der Hecke und sagte mir, vielleicht tun sie das jede Nacht und kommen im Morgengrauen zurück, und ich schlang die Arme um meinen Körper und lachte ganz leise. Dann sind sie um die Ecke gebogen, ich habe mich mit dem Hintern ins Gras fallen lassen, die letzten Glühwürmchen aufstörend, weiter lachend und erschauernd vor Lust.
Am anderen Morgen habe ich in der Küche Brot geröstet und Kaffee gekocht. Im glänzenden Licht des Tagesanbruchs fühlte ich mich eins mit der Welt. Samuel ist hereingekommen und hat mich angelächelt, wie er es jeden Morgen tut. Ich habe immer den Eindruck, daß er die Nacht fern von mir verbracht hat, daß er nach langer Abwesenheit zurückkehrt, obwohl er doch wie jede Nacht zu meiner Rechten geschlafen hat. Er sagt mir guten Tag, und für mich ist das ein weiteres Indiz. Ich sage mir, er lag also diese Nacht nicht wirklich zu meiner Rechten, da waren nur sein Skelett und seine leere Hülle, sonst nichts. Ich lächle und umarme ihn, ich lasse mir nichts von dem anmerken, was mir im Kopf herumgeht.
Wir setzen uns also in aller Ruhe an den Küchentisch, und Samuel erzählt mir seine Träume. Es gefällt ihm, daß ich Sinn und Symbole darin finde, also tue ich es, um ihn diesen zufriedenen und etwas geheimnisvollen Ausdruck annehmen zu sehen, den er manchmal bekommt - als wäre er von etwas Großem und Unbegreiflichem erfüllt. Er weiß nicht, daß seine Träume mich langweilen. Wir hören Radio, knabbern geröstetes Brot und machen winzige Krümelhäufchen auf dem Boden.
Dann plötzlich denke ich an die Tiere aus dem Zoo, die in der Nacht ausgebrochen sind. Es fällt mir auf einen Schlag wieder ein, es ist, als hätte ich endlich einen Namen für den süßen Geschmack gefunden, den ich im Mund habe, für die leise Befriedigung, die ich an diesem noch so jungen Morgen verspüre. Ich lächle und spitze die Ohren, aber ich höre nichts als das Sprechen der Leute, die in meinem Radio wohnen, und das Klappern von Samuels Löffel im Honigtopf. Diese beiden Nebengeräusche nehmen zuviel Raum ein, als daß ich irgendein Grunzen aus dem Zoo jenseits der Robinienallee vernehmen könnte. Ich stehe auf, setze die Füße in die kleinen Krümelhalden auf dem Kachelboden, entfalte meinen Körper und seine astlangen Glieder, gehe zum Fenster. Eine Weile lausche ich regungslos. Dann drehe ich mich zu Samuel um und sage, sie scheinen weg zu sein, man hört gar nichts mehr, ich sehe Samuel an, seinen Bart und sein Unterhemd, seine runden Schultern und jeden kleinsten Muskel seiner Arme, sein Blick ist sanft und entrückt, er achtet nicht auf das, was ich gerade gesagt habe, er konzentriert sich auf den Honigtopf und die Nachrichten aus der Politik, die ihn die Stirn runzeln lassen. Zu alledem kann er sich nicht auch noch mit dem Zoo beschäftigen.
Wenn er wüßte, daß ich letzte Nacht die Tiere habe ausbrechen sehen, würde er denken, daß jemand sie freigelassen hat, er hätte einen Verdacht, Samuel hätte einen Verdacht, er würde sich fragen, war sie es?, er würde sich fragen, geht es wieder los?, ich würde all diese kleinen Fragen durch seinen dunklen Blick ziehen sehen - weich so weich wie ein Fell, man muß sich pelzfarbene Augen vorstellen, die auch genauso schimmern.
Also wiederhole ich nicht, daß die Tiere weg sind, ich habe nicht die geringste Lust, ihn beruhigen zu müssen, ich habe keine Lust, irgend etwas zu sagen wie: Wahnsinn, wie konnten die nur alle Tiere freilassen?, in ungläubigem Ton, damit er auch ganz sicher wäre, daß ich nichts damit zu tun hatte. Dabei glaube ich, wenn ich dazu Gelegenheit bekommen hätte, wenn meine Absonderlichkeiten nicht durch mein Leben hier ganz abgeschliffen wären, klar, dann wäre natürlich ich es gewesen, die nachts in einem schwarzen Lycra-Overall mit Kapuze losgezogen wäre und die Käfige und Gitter des Zoos aufgemacht hätte, ja, dann hätte ich die Viecher alle herausgelassen.
Ich lausche weiter und atme die saubere Morgenluft ein, da ist Vogelgeschrei ganz in der Nähe, die Krähen und die Grillen, aber ich höre nichts besonders Wildes, Haariges oder Gewaltiges. Ich habe Lust, mich im Kreis zu drehen. Ich habe nicht geträumt. Sie sind weg, sage ich euch, sie sind weg.
Ich sehe Samuel an, der starr auf seine Kaffeeschale blickt. Zwischen ihm und mir steht eine Vase mit roten Tulpen, die ich gestern im Garten gepflückt habe, die Vase ist durchsichtig, das Wasser ist schon leicht gelblich, ich habe ihnen wahrscheinlich zuviel gegeben, dann lassen die Tulpen sich hängen wie die Zweige einer Weide, sie berühren mit ihren Blütenblättern fast den Tisch. Samuel ist auf seine Kaffeeschale konzentriert, ich höre das Geräusch, das seine Backenzähne beim Zermalmen des gerösteten Brotes machen. Das Geräusch ekelt mich ein bißchen, beruhigt mich aber auch, es ist ein köstliches und gräßliches Geräusch. Ich lächle Samuel an und wende mich wieder dem Garten zu, dem Rasen mit der elektrisierenden Farbe und allen Blättern des Baumes, die an diesem idealen Morgen schillern und sich schütteln, ich wende mich dem leichten Sommerwind zu, der Moleküle und Gespenster in einer bebenden Schwebe hält. Ich rühre mich nicht mehr, ich lasse mich von dieser gleißenden Jahreszeit durchfluten, ich kneife die Augen zusammen, und hinter mir spüre ich Samuel, wie er nicht lächelt wegen der Innenpolitik und des Honigs, der auf den Tisch tropft und den er mit seinem schon klebrigen Finger abwischen muß. Samuel blickt auf, er ist weiterhin ernst, Samuel ist ein ernster Mann, der sehr viel besser als ich das verminte Gelände verbirgt, auf dem er sich bewegt, ich höre ihn, wie er sich schweigend Gedanken macht, und ich wiederhole für mich selbst, die Tiere meines Zoos sind ausgebrochen und Samuel hat es nicht bemerkt. Vielleicht wird niemand es bemerken.
Nachdem Samuel weg ist, bleibe ich auf den Holzstufen sitzen, die in den Garten hinausführen, die Ellbogen fest gegen meinen Magen gedrückt - was Samuel gewöhnlich zu der Frage veranlaßt: Hast du Angst, daß man dir ein Stück von deinem Bauch klaut? -, ich sehe zu, wie die ganze Feuchtigkeit der Nacht sich verflüchtigt und durchscheinende Mückchen gebiert, die nervös um mich herum wabern, ich warte, werfe ab und zu einen Blick auf meine Füße oder auf die Haut meiner Beine - aber nie zu lange, denn meine Füße und die Haut meiner Beine können mich in abgrundtiefe Traurigkeit stürzen. Ich denke über Samuels Vorschlag nach, den er mir am Abend zuvor beim Essen gemacht hat, den Vorschlag, der uns "längerfristig" binden würde, und ich denke auch über all die ausgebrochenen Tiere nach (aber nicht sehr lange, ich habe es überhaupt nicht eilig zu überprüfen, ob sie tatsächlich alle weg sind, ich will mir meine nächtliche Verzauberung lebendig erhalten).
In meinem Kopf wälze ich, wie ein Bonbon im Mund, Samuels "längerfristigen" Vorschlag hin und her. Ich berühre ihn mit der Zunge, schrecke vor der plötzlichen Säure zurück. Schließlich freunde ich mich mit dem Geschmack an. Aber ich komme zu keiner Entscheidung. Ich warte, bis die Sonne mich überflutet und verbrennt, bevor ich mich in den Schatten der Küche zurückziehe. Dort schlage ich alle Türen zu und produziere Durchzug von allen Seiten, indem ich die Fenster mit Stühlen offenhalte, dann harre ich mitten in dem Wirbel aus, damit mein Haus sich abkühlt und die gefährlichen Gedanken davonfliegen.
Am Abend kommt Samuel mit Ben und seiner neuen Freundin nach Hause. Als sie hereinkommen, reden sie über Politik, aber ihre Unterhaltung ist nicht sehr angeregt. Samuel pflegt seinen Freunden, die alle sowieso schon überzeugt sind, von Ereignissen zu berichten, die ihn empört haben; die anderen antworten immer "ja ja, ganz deiner Meinung", weil sie seine Meinung wirklich voll und ganz teilen. In dieser geteilten Empörung geht es Samuel dann gut, er fühlt sich stärker und mehr im Recht. Ich glaube, es ist Samuels Naivität, die mich rührt, etwas, das mit Kindheit zu tun hat - in ihrer frühesten und reinsten Form.
Wir setzen uns mit unseren Aperitif-Gläsern auf die Stufen zum Garten, ich lasse sie reden und lächle - damit sie sich keine Gedanken machen über meine Abwesenheit -, während ich auf den noch klappernden Eiswürfel in meinem Glas starre, der gegen die Wände klingelt, sooft ich es bewege.
Bens neue Freundin ist hübsch, mit einem ganz besonderen Funkeln in den Augen, ich wünsche ihnen viel Glück miteinander, das wiederhole ich still vor mich hin, denn ich sage mir, daß Ben gut ein paar Beschwörungen brauchen kann, um eine Liebesgeschichte für immer hinzubekommen. Er sieht seine Prinzessin an. Ben gefällt mir sehr. Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr. Ich habe schon versucht, Ben zu verführen, aber ich habe noch rechtzeitig wieder aufgehört mit meinem Spielchen, gerade als Ben genauso an mir hing wie an Samuel.
Die Abendsonne hat uns links überholt, schnell senkt sie sich über die Wohnblocks, färbt unsere Haut rosa und gibt jedem von uns einen langen Schatten, der sich über die Holzdielen bis ans Ende der Küche ausdehnt. Die Dämmerung ist mild und läßt den Staub des Tages wieder zu Boden sinken, die Mücken fliegen aus den Gräsern mit ihren winzigen Wasserreservoirs auf. Ich beobachte diesen abendlichen Rausch und wittere den Blutgeruch, der mit den Dämpfen aus der Erde aufsteigt. Da sagt Samuel auf einmal, Lili und ich werden ein Baby bekommen, und ich drehe mich fast ohne Überraschung zu ihm um. Dieses Baby gibt es noch nicht, ich habe mich mit Samuels Vorschlag nicht einverstanden erklärt, und einmal mehr bin ich von seiner Naivität gerührt.
Also glauben die beiden anderen natürlich, daß wir so ein wunderbares Paar im eigenen Häuschen sind, so ein wunderbares Paar, das ein prima Leben mit lauter stummen und rosigen Babys plant. Ich will niemanden vor den Kopf stoßen, also nicke ich. Ben und seine Freundin (Véra, glaube ich) fangen an, uns zu gratulieren. Ich schaffe es nicht, ihnen zu sagen, nein nein wartet mal, mein Bauch ist bis jetzt noch leer, wißt ihr, das ist nur Samuels Überschwang. Es ist natürlich unmöglich, ihnen das jetzt zu sagen. Samuel würde lächerlich dastehen, und ich würde allen die Freude verderben. Also rede ich eben drauflos, klar, und erzähle, wie selig ich bin, ich trage ein bißchen dick auf. Samuel sieht mich leicht erstaunt an, aber er ist auch in der Falle, und so sitzen wir alle beide da, sehr schön in unseren weißen Kleidern, alle beide umflutet von diesem vollkommenen Abendlicht, und lügen unsere Freunde an, aber mit einem so reizenden Lächeln, daß man uns nichts übelnehmen kann. Ich bin natürlich ganz woanders, ich sehe all die wilden Tiere von letzter Nacht wieder vor mir und das Schaukeln der Giraffe, ich sehe sie, wie sie ausbrechen, aber in diesem reinen Moment lächle ich weiter. Samuel steht auf und reicht mir die Hand, um mir zu helfen. Wir bleiben noch kurz auf der Treppe stehen. Ich finde diesen Mann wunderbar, das sage ich mir im Stillen, dieser Mann ist ein Wunder. Mitten im Solarplexus spüre ich eine tiefe Freude, hier an seiner Seite zu sein; ich lache, um zu verbergen, wie bewegt ich bin, und wir gehen alle vier ins Haus, setzen uns zum Essen an den Tisch, wir reden leise, um die Nachtfalter und die Sommernacht nicht zu stören, die unsere Stimmen über den Garten hinaus trägt, um meine Gespenster und die Fülle dieses Abends nicht zu stören.
II
Am nächsten Tag entschließe ich mich, in den Zoo zu gehen. Es ist noch früh. Ich warte vor dem Eingangstor, mit ein paar Kindern, den bedingungslosen Fans, in Begleitung ihrer alleinstehenden Tanten, ich warte ans Gitter gelehnt darauf, daß das Tor sich öffnet, genieße den glühenden Schatten der Robinien, spiele an meinem Plastikarmband mit den winzigen Glasperlen herum, lasse sie durch meine Finger gleiten wie einen Rosenkranz. Ich rieche schon den einschmeichelnden Geruch von Sand und Mist, vermischt mit den süßen Aromen der Kinder, diesen künstlichen Erdbeer- und Ananasaromen. Ich fülle meine Lungen mit diesem Wirrwarr von Düften und lächle im glühenden Schatten der Robinien.
Der grüne Wärter öffnet uns das Tor, ich gehe hinein, und schon flaniere ich durch die Alleen, bleibe vor Gittern stehen, stütze mich mit den Ellbogen auf die Mäuerchen vor den leeren Käfigen - sie sind nicht zurückgekommen, meine Tiere, oder sie verkriechen sich seit ihrer Eskapade in ihren Kunstharzhöhlen und schlafen heute morgen noch immer.
Wo ich entlanggehe, rührt sich nichts, kein Schrei, niemand.
Es ist die mörderische Stunde. Ich spüre die brennende Sonne durch meinen Hut, ich fühle sie durch die Zwischenräume des geflochtenen Strohs dringen.
Ich bleibe lange vor dem Gorillaweibchen Wanda stehen, sie ist so alt, daß sie die anderen ihren Ausflug wohl ohne sie fortsetzen lassen mußte, nachdem sie erlebt hatte, was sie nie wieder zu erleben glaubte - viel mehr wollte sie eigentlich auch nicht und kehrte zurück zu ihrem Trockenfutter und ihrem überreifen Obst. Dieser Zoo ist jetzt ein Tieraltersheim geworden, sage ich mir. Ich versuche, Madame Wandas unendliche Traurigkeit auszuloten, sage mir vor, daß sie bald sterben wird, ich atme den Geruch ihrer Wärme und ihres Verfalls ein - denn Madame Wanda verfällt, ganz sachte verfällt sie in ihrem langsamen Alterungsprozeß -, und ich frage mich, was könnte man tun, um sie zu erlösen, außer ihr ein wohlschmeckendes tödliches Granulat zu geben, was tun für Madame Wanda.
Genau in dem Moment, als ich die schwermütige Niedergeschlagenheit des Gorillas hinter mir lasse, als ich mich davon losreiße, um zur Allee zurückzugehen, bemerke ich, wie sich ganz links von mir etwas bewegt, etwas, das in der flirrenden Luft zittert, das glitzert und wieder verschwindet - einer dieser Hitzegeister, die im Sommer als Spiegelung über dem Asphalt erscheinen. Ich drehe den Kopf, es ist schon nichts mehr da. Nur ganz am anderen Ende, unter einer Robinie, sehe ich einen Mann und seine kleine Tochter, die einen Luftballon in Form eines gelben Hundes hält.
Mein Sommergespenst ist verschwunden. Wenn ich jedoch genau darüber nachdenke, kann ich sagen, daß es sich um einen Mann ganz in Schwarz handelte, der regungslos im linken Winkel meines linken Auges stand. Dort drüben unter der Robinie. In der Nähe des kleinen Mädchens und seines Vaters.Ich kann sogar sagen, wer dieser Mann ist. Aber sein Name läßt mich vor Entsetzen erstarren. Weil er eigentlich nicht wiederkommen sollte, er sollte nicht hier sein, er kann es im übrigen gar nicht, wenn ich es recht bedenke, es ist wirklich unmöglich, ich muß mich nur ein oder zwei Minuten am Geländer vor Madame Wanda festhalten und tief durchatmen, das Gesicht im Schatten meines großen Hutes, so, ich atme tief durch, ich pumpe mich mit der heißen Luft voll und sage mir, ganz ernsthaft und mit gerunzelter Stirn, ich sage mir, nein, er kann nicht wiedergekommen sein.
Zuerst war es die Giraffe, deren langen, schaukelnden Hals ich über der Hecke gesehen habe; ich bin aus dem Fenster gestiegen und näher herangegangen, barfuß durch das nasse Gras. Alle waren sie da, sie zogen durch die menschenleere, in mattes Licht getauchte Straße, sie zogen vorüber, meine Tiere, die ganz kleinen umringt von den größeren, manche rennend, andere eher schlendernd, da waren das Elefantenpaar und die räudigen Wölfe, das Gürteltier und die Gürteltierjungen, da waren alle Affen und Wanda, die alte Gorilladame - so stand es auf dem Schild an ihrem Käfig -, da waren Viecher, deren Namen ich nicht kannte, und das wunderbare, langsam schreitende Okapi - seine besondere Traurigkeit habe ich immer gemocht -, da waren die Wildkatzen, die Zebras und auch die Geier, die über der ganzen Zeremonie kreisten. Ich sagte mir, ist das schön, das ist so schön, ich murmelte es vor mich hin, hinter der Hecke kauernd, auch etwas erschreckt, ich wiegte mich leicht in der feuchten Luft und spürte, wie meine Füße in der lockeren Erde einsanken. In einer traumartigen Stille sah ich alle Tiere vorüberziehen. Ich dachte, sie sind still, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen, sie laufen davon, die Tiere laufen davon, und ich fing an zu lachen, ganz leise, damit sie mich nicht hörten und fressen kämen, ich lachte hinter der Hecke und sagte mir, vielleicht tun sie das jede Nacht und kommen im Morgengrauen zurück, und ich schlang die Arme um meinen Körper und lachte ganz leise. Dann sind sie um die Ecke gebogen, ich habe mich mit dem Hintern ins Gras fallen lassen, die letzten Glühwürmchen aufstörend, weiter lachend und erschauernd vor Lust.
Am anderen Morgen habe ich in der Küche Brot geröstet und Kaffee gekocht. Im glänzenden Licht des Tagesanbruchs fühlte ich mich eins mit der Welt. Samuel ist hereingekommen und hat mich angelächelt, wie er es jeden Morgen tut. Ich habe immer den Eindruck, daß er die Nacht fern von mir verbracht hat, daß er nach langer Abwesenheit zurückkehrt, obwohl er doch wie jede Nacht zu meiner Rechten geschlafen hat. Er sagt mir guten Tag, und für mich ist das ein weiteres Indiz. Ich sage mir, er lag also diese Nacht nicht wirklich zu meiner Rechten, da waren nur sein Skelett und seine leere Hülle, sonst nichts. Ich lächle und umarme ihn, ich lasse mir nichts von dem anmerken, was mir im Kopf herumgeht.
Wir setzen uns also in aller Ruhe an den Küchentisch, und Samuel erzählt mir seine Träume. Es gefällt ihm, daß ich Sinn und Symbole darin finde, also tue ich es, um ihn diesen zufriedenen und etwas geheimnisvollen Ausdruck annehmen zu sehen, den er manchmal bekommt - als wäre er von etwas Großem und Unbegreiflichem erfüllt. Er weiß nicht, daß seine Träume mich langweilen. Wir hören Radio, knabbern geröstetes Brot und machen winzige Krümelhäufchen auf dem Boden.
Dann plötzlich denke ich an die Tiere aus dem Zoo, die in der Nacht ausgebrochen sind. Es fällt mir auf einen Schlag wieder ein, es ist, als hätte ich endlich einen Namen für den süßen Geschmack gefunden, den ich im Mund habe, für die leise Befriedigung, die ich an diesem noch so jungen Morgen verspüre. Ich lächle und spitze die Ohren, aber ich höre nichts als das Sprechen der Leute, die in meinem Radio wohnen, und das Klappern von Samuels Löffel im Honigtopf. Diese beiden Nebengeräusche nehmen zuviel Raum ein, als daß ich irgendein Grunzen aus dem Zoo jenseits der Robinienallee vernehmen könnte. Ich stehe auf, setze die Füße in die kleinen Krümelhalden auf dem Kachelboden, entfalte meinen Körper und seine astlangen Glieder, gehe zum Fenster. Eine Weile lausche ich regungslos. Dann drehe ich mich zu Samuel um und sage, sie scheinen weg zu sein, man hört gar nichts mehr, ich sehe Samuel an, seinen Bart und sein Unterhemd, seine runden Schultern und jeden kleinsten Muskel seiner Arme, sein Blick ist sanft und entrückt, er achtet nicht auf das, was ich gerade gesagt habe, er konzentriert sich auf den Honigtopf und die Nachrichten aus der Politik, die ihn die Stirn runzeln lassen. Zu alledem kann er sich nicht auch noch mit dem Zoo beschäftigen.
Wenn er wüßte, daß ich letzte Nacht die Tiere habe ausbrechen sehen, würde er denken, daß jemand sie freigelassen hat, er hätte einen Verdacht, Samuel hätte einen Verdacht, er würde sich fragen, war sie es?, er würde sich fragen, geht es wieder los?, ich würde all diese kleinen Fragen durch seinen dunklen Blick ziehen sehen - weich so weich wie ein Fell, man muß sich pelzfarbene Augen vorstellen, die auch genauso schimmern.
Also wiederhole ich nicht, daß die Tiere weg sind, ich habe nicht die geringste Lust, ihn beruhigen zu müssen, ich habe keine Lust, irgend etwas zu sagen wie: Wahnsinn, wie konnten die nur alle Tiere freilassen?, in ungläubigem Ton, damit er auch ganz sicher wäre, daß ich nichts damit zu tun hatte. Dabei glaube ich, wenn ich dazu Gelegenheit bekommen hätte, wenn meine Absonderlichkeiten nicht durch mein Leben hier ganz abgeschliffen wären, klar, dann wäre natürlich ich es gewesen, die nachts in einem schwarzen Lycra-Overall mit Kapuze losgezogen wäre und die Käfige und Gitter des Zoos aufgemacht hätte, ja, dann hätte ich die Viecher alle herausgelassen.
Ich lausche weiter und atme die saubere Morgenluft ein, da ist Vogelgeschrei ganz in der Nähe, die Krähen und die Grillen, aber ich höre nichts besonders Wildes, Haariges oder Gewaltiges. Ich habe Lust, mich im Kreis zu drehen. Ich habe nicht geträumt. Sie sind weg, sage ich euch, sie sind weg.
Ich sehe Samuel an, der starr auf seine Kaffeeschale blickt. Zwischen ihm und mir steht eine Vase mit roten Tulpen, die ich gestern im Garten gepflückt habe, die Vase ist durchsichtig, das Wasser ist schon leicht gelblich, ich habe ihnen wahrscheinlich zuviel gegeben, dann lassen die Tulpen sich hängen wie die Zweige einer Weide, sie berühren mit ihren Blütenblättern fast den Tisch. Samuel ist auf seine Kaffeeschale konzentriert, ich höre das Geräusch, das seine Backenzähne beim Zermalmen des gerösteten Brotes machen. Das Geräusch ekelt mich ein bißchen, beruhigt mich aber auch, es ist ein köstliches und gräßliches Geräusch. Ich lächle Samuel an und wende mich wieder dem Garten zu, dem Rasen mit der elektrisierenden Farbe und allen Blättern des Baumes, die an diesem idealen Morgen schillern und sich schütteln, ich wende mich dem leichten Sommerwind zu, der Moleküle und Gespenster in einer bebenden Schwebe hält. Ich rühre mich nicht mehr, ich lasse mich von dieser gleißenden Jahreszeit durchfluten, ich kneife die Augen zusammen, und hinter mir spüre ich Samuel, wie er nicht lächelt wegen der Innenpolitik und des Honigs, der auf den Tisch tropft und den er mit seinem schon klebrigen Finger abwischen muß. Samuel blickt auf, er ist weiterhin ernst, Samuel ist ein ernster Mann, der sehr viel besser als ich das verminte Gelände verbirgt, auf dem er sich bewegt, ich höre ihn, wie er sich schweigend Gedanken macht, und ich wiederhole für mich selbst, die Tiere meines Zoos sind ausgebrochen und Samuel hat es nicht bemerkt. Vielleicht wird niemand es bemerken.
Nachdem Samuel weg ist, bleibe ich auf den Holzstufen sitzen, die in den Garten hinausführen, die Ellbogen fest gegen meinen Magen gedrückt - was Samuel gewöhnlich zu der Frage veranlaßt: Hast du Angst, daß man dir ein Stück von deinem Bauch klaut? -, ich sehe zu, wie die ganze Feuchtigkeit der Nacht sich verflüchtigt und durchscheinende Mückchen gebiert, die nervös um mich herum wabern, ich warte, werfe ab und zu einen Blick auf meine Füße oder auf die Haut meiner Beine - aber nie zu lange, denn meine Füße und die Haut meiner Beine können mich in abgrundtiefe Traurigkeit stürzen. Ich denke über Samuels Vorschlag nach, den er mir am Abend zuvor beim Essen gemacht hat, den Vorschlag, der uns "längerfristig" binden würde, und ich denke auch über all die ausgebrochenen Tiere nach (aber nicht sehr lange, ich habe es überhaupt nicht eilig zu überprüfen, ob sie tatsächlich alle weg sind, ich will mir meine nächtliche Verzauberung lebendig erhalten).
In meinem Kopf wälze ich, wie ein Bonbon im Mund, Samuels "längerfristigen" Vorschlag hin und her. Ich berühre ihn mit der Zunge, schrecke vor der plötzlichen Säure zurück. Schließlich freunde ich mich mit dem Geschmack an. Aber ich komme zu keiner Entscheidung. Ich warte, bis die Sonne mich überflutet und verbrennt, bevor ich mich in den Schatten der Küche zurückziehe. Dort schlage ich alle Türen zu und produziere Durchzug von allen Seiten, indem ich die Fenster mit Stühlen offenhalte, dann harre ich mitten in dem Wirbel aus, damit mein Haus sich abkühlt und die gefährlichen Gedanken davonfliegen.
Am Abend kommt Samuel mit Ben und seiner neuen Freundin nach Hause. Als sie hereinkommen, reden sie über Politik, aber ihre Unterhaltung ist nicht sehr angeregt. Samuel pflegt seinen Freunden, die alle sowieso schon überzeugt sind, von Ereignissen zu berichten, die ihn empört haben; die anderen antworten immer "ja ja, ganz deiner Meinung", weil sie seine Meinung wirklich voll und ganz teilen. In dieser geteilten Empörung geht es Samuel dann gut, er fühlt sich stärker und mehr im Recht. Ich glaube, es ist Samuels Naivität, die mich rührt, etwas, das mit Kindheit zu tun hat - in ihrer frühesten und reinsten Form.
Wir setzen uns mit unseren Aperitif-Gläsern auf die Stufen zum Garten, ich lasse sie reden und lächle - damit sie sich keine Gedanken machen über meine Abwesenheit -, während ich auf den noch klappernden Eiswürfel in meinem Glas starre, der gegen die Wände klingelt, sooft ich es bewege.
Bens neue Freundin ist hübsch, mit einem ganz besonderen Funkeln in den Augen, ich wünsche ihnen viel Glück miteinander, das wiederhole ich still vor mich hin, denn ich sage mir, daß Ben gut ein paar Beschwörungen brauchen kann, um eine Liebesgeschichte für immer hinzubekommen. Er sieht seine Prinzessin an. Ben gefällt mir sehr. Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr. Ich habe schon versucht, Ben zu verführen, aber ich habe noch rechtzeitig wieder aufgehört mit meinem Spielchen, gerade als Ben genauso an mir hing wie an Samuel.
Die Abendsonne hat uns links überholt, schnell senkt sie sich über die Wohnblocks, färbt unsere Haut rosa und gibt jedem von uns einen langen Schatten, der sich über die Holzdielen bis ans Ende der Küche ausdehnt. Die Dämmerung ist mild und läßt den Staub des Tages wieder zu Boden sinken, die Mücken fliegen aus den Gräsern mit ihren winzigen Wasserreservoirs auf. Ich beobachte diesen abendlichen Rausch und wittere den Blutgeruch, der mit den Dämpfen aus der Erde aufsteigt. Da sagt Samuel auf einmal, Lili und ich werden ein Baby bekommen, und ich drehe mich fast ohne Überraschung zu ihm um. Dieses Baby gibt es noch nicht, ich habe mich mit Samuels Vorschlag nicht einverstanden erklärt, und einmal mehr bin ich von seiner Naivität gerührt.
Also glauben die beiden anderen natürlich, daß wir so ein wunderbares Paar im eigenen Häuschen sind, so ein wunderbares Paar, das ein prima Leben mit lauter stummen und rosigen Babys plant. Ich will niemanden vor den Kopf stoßen, also nicke ich. Ben und seine Freundin (Véra, glaube ich) fangen an, uns zu gratulieren. Ich schaffe es nicht, ihnen zu sagen, nein nein wartet mal, mein Bauch ist bis jetzt noch leer, wißt ihr, das ist nur Samuels Überschwang. Es ist natürlich unmöglich, ihnen das jetzt zu sagen. Samuel würde lächerlich dastehen, und ich würde allen die Freude verderben. Also rede ich eben drauflos, klar, und erzähle, wie selig ich bin, ich trage ein bißchen dick auf. Samuel sieht mich leicht erstaunt an, aber er ist auch in der Falle, und so sitzen wir alle beide da, sehr schön in unseren weißen Kleidern, alle beide umflutet von diesem vollkommenen Abendlicht, und lügen unsere Freunde an, aber mit einem so reizenden Lächeln, daß man uns nichts übelnehmen kann. Ich bin natürlich ganz woanders, ich sehe all die wilden Tiere von letzter Nacht wieder vor mir und das Schaukeln der Giraffe, ich sehe sie, wie sie ausbrechen, aber in diesem reinen Moment lächle ich weiter. Samuel steht auf und reicht mir die Hand, um mir zu helfen. Wir bleiben noch kurz auf der Treppe stehen. Ich finde diesen Mann wunderbar, das sage ich mir im Stillen, dieser Mann ist ein Wunder. Mitten im Solarplexus spüre ich eine tiefe Freude, hier an seiner Seite zu sein; ich lache, um zu verbergen, wie bewegt ich bin, und wir gehen alle vier ins Haus, setzen uns zum Essen an den Tisch, wir reden leise, um die Nachtfalter und die Sommernacht nicht zu stören, die unsere Stimmen über den Garten hinaus trägt, um meine Gespenster und die Fülle dieses Abends nicht zu stören.
II
Am nächsten Tag entschließe ich mich, in den Zoo zu gehen. Es ist noch früh. Ich warte vor dem Eingangstor, mit ein paar Kindern, den bedingungslosen Fans, in Begleitung ihrer alleinstehenden Tanten, ich warte ans Gitter gelehnt darauf, daß das Tor sich öffnet, genieße den glühenden Schatten der Robinien, spiele an meinem Plastikarmband mit den winzigen Glasperlen herum, lasse sie durch meine Finger gleiten wie einen Rosenkranz. Ich rieche schon den einschmeichelnden Geruch von Sand und Mist, vermischt mit den süßen Aromen der Kinder, diesen künstlichen Erdbeer- und Ananasaromen. Ich fülle meine Lungen mit diesem Wirrwarr von Düften und lächle im glühenden Schatten der Robinien.
Der grüne Wärter öffnet uns das Tor, ich gehe hinein, und schon flaniere ich durch die Alleen, bleibe vor Gittern stehen, stütze mich mit den Ellbogen auf die Mäuerchen vor den leeren Käfigen - sie sind nicht zurückgekommen, meine Tiere, oder sie verkriechen sich seit ihrer Eskapade in ihren Kunstharzhöhlen und schlafen heute morgen noch immer.
Wo ich entlanggehe, rührt sich nichts, kein Schrei, niemand.
Es ist die mörderische Stunde. Ich spüre die brennende Sonne durch meinen Hut, ich fühle sie durch die Zwischenräume des geflochtenen Strohs dringen.
Ich bleibe lange vor dem Gorillaweibchen Wanda stehen, sie ist so alt, daß sie die anderen ihren Ausflug wohl ohne sie fortsetzen lassen mußte, nachdem sie erlebt hatte, was sie nie wieder zu erleben glaubte - viel mehr wollte sie eigentlich auch nicht und kehrte zurück zu ihrem Trockenfutter und ihrem überreifen Obst. Dieser Zoo ist jetzt ein Tieraltersheim geworden, sage ich mir. Ich versuche, Madame Wandas unendliche Traurigkeit auszuloten, sage mir vor, daß sie bald sterben wird, ich atme den Geruch ihrer Wärme und ihres Verfalls ein - denn Madame Wanda verfällt, ganz sachte verfällt sie in ihrem langsamen Alterungsprozeß -, und ich frage mich, was könnte man tun, um sie zu erlösen, außer ihr ein wohlschmeckendes tödliches Granulat zu geben, was tun für Madame Wanda.
Genau in dem Moment, als ich die schwermütige Niedergeschlagenheit des Gorillas hinter mir lasse, als ich mich davon losreiße, um zur Allee zurückzugehen, bemerke ich, wie sich ganz links von mir etwas bewegt, etwas, das in der flirrenden Luft zittert, das glitzert und wieder verschwindet - einer dieser Hitzegeister, die im Sommer als Spiegelung über dem Asphalt erscheinen. Ich drehe den Kopf, es ist schon nichts mehr da. Nur ganz am anderen Ende, unter einer Robinie, sehe ich einen Mann und seine kleine Tochter, die einen Luftballon in Form eines gelben Hundes hält.
Mein Sommergespenst ist verschwunden. Wenn ich jedoch genau darüber nachdenke, kann ich sagen, daß es sich um einen Mann ganz in Schwarz handelte, der regungslos im linken Winkel meines linken Auges stand. Dort drüben unter der Robinie. In der Nähe des kleinen Mädchens und seines Vaters.Ich kann sogar sagen, wer dieser Mann ist. Aber sein Name läßt mich vor Entsetzen erstarren. Weil er eigentlich nicht wiederkommen sollte, er sollte nicht hier sein, er kann es im übrigen gar nicht, wenn ich es recht bedenke, es ist wirklich unmöglich, ich muß mich nur ein oder zwei Minuten am Geländer vor Madame Wanda festhalten und tief durchatmen, das Gesicht im Schatten meines großen Hutes, so, ich atme tief durch, ich pumpe mich mit der heißen Luft voll und sage mir, ganz ernsthaft und mit gerunzelter Stirn, ich sage mir, nein, er kann nicht wiedergekommen sein.
... weniger
Autoren-Porträt von Véronique Ovaldé
Vonique OvaldVeronique Ovalde, Anfang 30, lebt mit ihren zwei Kindern in Le Pre-St.Gervais und arbeitet in einem Pariser Verlag. "Die Mner im Allgemeinen gefallen mir sehr" ist ihr dritter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Véronique Ovaldé
- 2007, 185 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Französ. v. Claudia Kalscheuer
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442735238
- ISBN-13: 9783442735235
Kommentar zu "Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Männer im allgemeinen gefallen mir sehr".
Kommentar verfassen