Die Marchesa
Die Marchesa von Simonetta Agnello Hornby
LESEPROBE
1.
»A vecchie picciriddi Dio l aiuta.
Den Altenund den Kindern klein steh der liebe Herrgott bei.«
Dezember 1898.An der Montagnazza führt Amalia Cuffaro,Amme der Costanza Safamita,eine Unterhaltung mit ihrer Nichte Pinuzza Belice und flicht ihr einen Zopf.
Amalia Cuffaro hatte Pinuzza mitaltbackenem, in Ziegenmilch geweichtem Brot gefüttert, nahm jetzt einen Zipfelder großen Serviette, die um Pinuzzas Hals geknotetwar, wischte ihr Mund und Kinn ab und schüttelte das Tuch energisch über derErde aus: Pinuzza trielteund spuckte ihr Essen oft wieder aus, auch wenn es ihr schmeckte. Zum Schluß schob Amalia mit dem Zeigefinger die Brotreste weg,die das Mädchen auf Brust und Schulter gesabbert hatte. Auf dem Boden wartetenschon die Ameisen auf ihren Anteil: Die größte Kolonie hatte sich in demausgehöhlten Stein eingenistet, wo der tönerne Wasserkrug stand; dichtgedrängt strömten sie zu den Leckerbissen, die ihnenallmorgendlich von oben zufielen. Amalia dachte verdrossen: Unmengen Brot undMilch werden in diesem Haushalt vergeudet, wo doch nur der Hunger im Übermaßvorhanden ist. Böse Ameisen waren das, eine angriffslustige Kämpferrasse mitdickem Leib und rotem Kopf. Unverschämt krabbelten sie sogar den Stuhl hinauf,auf dem Pinuzza festgebunden saß. Kreuz und quersuchten sie ihren Weg und hinterließen rote Pünktchen auf der Haut desMädchens.
Die Arme!Sogar im Mund der Wehrlosen hatte Amalia welche entdeckt und mußte ihr die Finger zwischen die Zähne zwängen, um sie vonden Teufelsbiestern zu befreien.
Amalia warauch in ihrem Alter noch recht wendig; breitbeinig richtete sie sich in derHöhle auf, um verbissen den immerwährenden Kampf gegen die Ameisen wiederaufzunehmen; sie beugte sich nach vorn, langte miteinem Arm zwischen den Beinen hindurch, griff nach dem Saum ihres Unterkleids,zog es, sich aufrichtend, vor und stopfte es in den Gürtel. So verwandelte sieihr Kleid in orientalisch anmutende Pluderhosen. Dann nahm sie ein BündelFächerpalmenblätter, das als Besen diente, und kauerte sich hin, sehr daraufbedacht, daß ihr Rock nicht mit dem Erdboden inBerührung käme und sich ja keines der Ameisenbiester an ihr festhakte. Sorgsamfegte sie den Boden und zerstörte die Ameisenreihen, die aus sämtlichen Winkelnder Höhle zu Pinuzzas Stuhl strömten.
Sie schobdas Abfallhäufchen voll wuselnder Ameisen auf den kleinen Platz vor demHöhleneingang und beförderte alles, Staub, Brotkrumen, Ameisen, mit einemletzten Besenschlag in den Abgrund.
Nach demfrühen Tod ihrer Herrin hatte Amalia entschieden, doch besser zu ihrer Familiezurückzukehren und nicht ihrem Sohn Giovannino nachAmerika zu folgen. Carmine Belice,ihr jüngerer Bruder, hatte sich seiner Pflicht zwar nicht entzogen, aber Amalianur mit Widerwillen aufgenommen, denn als ihre Schwiegereltern tot waren undder Sohn Giovannino die Reise in die Ferne angetretenhatte, war sie mit ihrem Lohn und den Dingen, die ihr die Familie Safamita geschenkt hatte, allzu verschwenderischumgegangen. Ohne Hab und Gut war sie nun ins Haus Belicezurückgekehrt, wie sie es einst, vierzig Jahre zuvor, verlassen hatte, um DiegoCuffaros Frau zu werden. In den zwei fensterlosenZimmerchen zu ebener Erde, wo sie zusammengepfercht zu acht in Gesellschaft vonHühnern, Ziege und Esel hausten, war für Amalia wahrlich kein Platz mehr. DerBruder hatte sie deshalb zusammen mit Pinuzza ineiner Höhle der Montagnazza untergebracht, wo amMonatsende kein Hauswirt anklopfte, um die Miete zu kassieren. Im übrigen, erklärte Carmine Belice den Naseweisen und den Klatschmäulern, seien lautärztlichem Rat frische Luft und Sonnenlicht der Gesundheit seiner Tochterüberaus zuträglich.
Längsdieses sizilianischen Küstenstreifens erhob sich eine blendendweiße Mergelwand,ungefähr zweihundert Meter hoch und zehn Kilometer lang; zwischen ihrenSedimentsschichten befanden sich zahlreiche Risse und natürliche Höhlen. Aneinem Punkt drängte sich das Mergelmassiv zum Meer hin, schob sich alsVorgebirge in die Fluten; an anderen Stellen wiederum krümmte es sichlandeinwärts, bildete kleine Strände und reizvolle Buchten. In einer solchenlag das Fischerdorf Riporto, in nächsterNachbarschaft zu Sarentini; dort lebte Carmine Belice mit seinerFamilie. Seit undenklichen Zeiten suchten die Einheimischen Zuflucht in denHöhlen der Montagnazza, wie sie ihren Küstenfelsennannten, vergrößerten sie und gruben neue aus, um sich gegen die Überfälle derBarbarenpiraten und türkischen Freibeuter zu schützen. Nichteingeweihten warder Zugang kaum möglich. Tatsächlich war es nur den Glaubensabtrünnigengelungen, in diese Höhlen einzudringen und die Christenmenschen herauszuzerren,auf die ein Schicksal als Sklaven in der Gewalt der Türken wartete. Nach undnach waren die feindlichen Übergriffe zurückgegangen, und seit Mitte desachtzehnten Jahrhunderts hatte es keine Barbareneinfälle mehr gegeben.
Mit demwachsenden Elend in der Bevölkerung hatten sich die Höhlen wieder gefüllt.Untergetauchte, Flüchtige, junge Burschen, die sich dem verhaßten,von der Regierung des neuen Einheitsstaats aufgezwungenen Wehrdienst entziehenwollten, hatten sich dort niedergelassen. In den unteren und leichterzugänglichen »Stockwerken« hatte eine kleine Schar Unglückseliger,Gebrechlicher, Ausgestoßener und Wandersleute Zuflucht gefunden. Sie hattensteile, schwer bezwingbare Stufen in den Mergel gehauen, die der Regen wiederrund wusch oder mit unerbittlicher Regelmäßigkeit zerstörte und in gefährlicheRutschbahnen verwandelte. In einigen Abschnitten waren die Höhlenmünder inscheinbarem Gleichmaß verbreitert und über ganz schmale Zugänge längs derSteilklippe zu erreichen. Bei Tag erschien diese Seite der Montagnazzaden Menschen auf See wie die gewellte strahlendweiße Fassade eines weitläufigenPalazzos. Nach Sonnenuntergang, wenn die Öllämpchen brannten, sah sie aus wieein phosphoreszierender fetter Drachenwurm. Der restliche Teil desKüstenmassivs blickte nach Süden und schob sich steil in die Meeresfluten. VonMenschenhand unberührt, bot es Meeresvögeln Unterschlupf, und im Frühjahr undHerbst machten Zugvögel dort Zwischenhalt. Im Winter gingen Wind und Regendarauf nieder, und unter der Sommersonne erstrahlte das Gestein blendendweiß,ja, beinahe weißglühend. Immer aber war die Montagnazza wunderschön. Amalia dachte bei ihrem Anblick anfrischgeronnene Schafsmilch, die der Schäfer soebenin eine Form geschöpft hatte, so glänzendglatt und wabbelig.
Tante undNichte lebten in der einzigen Höhle der dritten Reihe, gleich unter demHochplateau. Einmal in der Woche wurde die Eintönigkeit ihrer Tageunterbrochen, wenn Carmine Beliceoder Pinuzzas Brüder Holz und Nahrung brachten. Sieführten ein hartes Leben, doch Amalia war dankbar, dem Elendsloch derBruderfamilie entkommen zu sein, an das sie sich nach so vielen Jahren imDienst in vornehmen Palästen nicht mehr hatte gewöhnen wollen. Amalia liebtedie Einsamkeit, die wilde Natur - und auf der Montagnazzagab es reichlich davon. Überdies war Pinuzza ihrstets eine angenehme Gesellschaft. Amalia hatte sogar einen Weg gefunden, sichein bißchen Geld zu verdienen: Sie flickte die Wäschevon Frauen aus den unteren Höhlen; vermittels eines Korbs wurden dieFlickstücke an einem Seil hochgezogen und wieder runtergelassen. Auf dieseWeise konnte sie sich ihren einzigen Luxus leisten, »RevalenzaArabica«, ein Stärkungspulver, dem sie alleerdenkbaren Wunderkräfte zuschrieb.
Verglichenmit Riporto, bedeutete die Montagnazzafür Pinuzza eine Verbesserung. Der Vater und die dreiBrüder hatten sie, in eine Decke gebettet, in die Höhle hinuntergelassen; dieEnden des dicken Seils, mit denen das Bündel jeweils an Kopf- und Fußseitezusammengeschnürt war, hatten sich zwei der Brüder um den Leib gewickelt undStück um Stück nachgelassen. Gleichzeitig kletterte der dritte, an den Nägeln,die hie und da im Mergel steckten, Halt suchend, die Wände der Montagnazza hinunter, um die Last zu steuern und um zuvermeiden, daß sich die Schwester an denFelsvorsprüngen verletzte. So war Pinuzza aus derGefangenschaft der feuchten Behausung, in die nie ein Lichtstrahl drang, in dieder Höhle übergewechselt, wo sie dank der Fürsorge der Tante, der gesunden Luftund der Sonnenwärme zusehends auflebte.
Pinuzzawartete auf das tägliche Ritual des Kämmens. Sie war vierzehn Jahre alt undnährte trotz ihrer Gebrechen Hoffnungen und Sehnsüchte wie jedes andere Mädchenauch; sie genoß es schon im voraus,bald wieder sauber und adrett zu sein. Amalia wischte ihr noch einmal mit demfeuchten Tuch den verschmierten Mund ab, hob den Hocker hoch und setzte ihnbehutsam vor den Höhleneingang.
Meer undHimmel lagen vor Pinuzza, nichts sonst. DieWintersonne wärmte angenehm. »Heute entlause ich dein Haar und flechte den Zopfneu«, sagte die Tante. Die Nichte lächelte. Amalia nahm einen großenKnochenkamm, dessen Griff mit Perlmuttintarsien verziert war, und begann, mitder dichtgezahnten Seite den Läusen zuzusetzen. Pinuzzas verkrüppelter, leidgeprüfter Leib hatte nur einschönes Attribut, und das war der glänzende und dichte schwarze Haarschopf.Amalia breitete mit flinken und geschickten Fingern sacht die Haare der Nichteauseinander, als wären die Strähnen des dicken Zopfs kleine Spindeln, undschickte sich an, feine Spitze auf dem Klöppelkissen zu fertigen. Das war fürbeide ein Moment besonders inniger Vertrautheit. Amalia kehrte zum Schatzkästleinihrer schönsten Erinnerungen zurück, ihre Zunge löste sich, und Pinuzza lauschte entrückt.
© Piper Verlag
Übersetzung:Monika Lustig
- Autor: Simonetta Agnello Hornby
- 2007, 445 Seiten, Maße: 12,1 x 19,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Lustig, Monika
- Übersetzer: Monika Lustig
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492250475
- ISBN-13: 9783492250474
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