Die Mücke im Bernstein
Der große Ostpreußen-Roman
Ein bewegender Roman über ein besonderes Schmuckstück und das Schicksal einer Familie.
Ein edles Schmuckstück, das von Generation zu Generation weitervererbt wird. Doch es bringt den Familienmitgliedern kein Glück....
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Produktinformationen zu „Die Mücke im Bernstein “
Ein bewegender Roman über ein besonderes Schmuckstück und das Schicksal einer Familie.
Ein edles Schmuckstück, das von Generation zu Generation weitervererbt wird. Doch es bringt den Familienmitgliedern kein Glück.
Ein großes Familienepos, das über sieben Jahrhunderte umfasst und die Geschichte einer Familie in Ostpreußen erzählt - bis hin zu den tragischen Geschehnissen der jüngeren Vergangenheit.
Lese-Probe zu „Die Mücke im Bernstein “
Die Mücke im Bernstein von E.G. Stahl Erstes Kapitel Keirutum 1300
Ein plötzlicher Wind kam von Norden her, schnell und kalt, kräuselte das Meer, wellte den Sand, bog tief die Birken im Land und ließ das Strandgras am Galgenberg sich bewegen, als liefen unruhige Füße darüber hin. Wie fröstelnd zog die rote Sonne den letzten schmalen Feuerstreifen zu sich unter den Horizont und, als habe der Wind nur das gewollt, war er ebenso plötzlich fort, wie er aufgesprungen war. Aber die Kühle blieb.
Im aufquirlenden Nebel stand Keirut regungslos und schweigend. Er wußte, es galt jetzt, behutsam zu sein, denn dies war die unsichere schwebende Stunde zwischen Tag und Nacht, da nichts feststeht und alles geschehen kann, und ist nicht das meiste, was geschieht, böse? Diese Stunde gehörte den schweifenden Mächten, den unbestimmten, dämmernden, die nicht gut sind und nicht ungut und deshalb so gefährlich. Rühre dich nicht, vielleicht bemerken sie dich nicht!
Aus dem grauen Dämmer kam eine Gestalt auf ihn zugelaufen, klein und schlank, ein schmales dunkles Boot im Nebelmeer. Schwarz flatterte das offene Haar.
»Keirut!« sagte die Gestalt atemlos. »Keirut! Die Ahne singt!«
... mehr
Dann wandte sie sich und lief zurück, ein Mädchen von sechzehn, Jagodna, seine Schwester.
Ihr Ruf hatte die Stille zerbrochen, die schwebende Stunde
stürzte und sank ins Dunkel, das jetzt dichter aufquoll vom Wasser her.
Er eilte hinter ihr her, jetzt hatte er sie erreicht und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie verlangsamte den Schritt. »Wikind ist da«, sagte sie.»Wikind?«
»Ja. Nur die Unseren wissen es. Seine Männer warten im Wald.«
»Wikind! Was will er?«
Er wußte es, und ihm drohte das Herz stillzustehen.
»Du weißt es, ich soll mit ihm reiten. Du hast es ihm versprochen.«
»Und du? Willst du mit ihm reiten?«
»Er ist stark«, sagte sie nachdenklich, »auch klug und angenehm. Ich muß einen Mann nehmen!«
»Du willst ihn«, erwiderte er und bemerkte plötzlich, wie leer die Welt war. Dann stieg eine Hoffnung in ihm auf. »Ich habe es ihm versprochen«, sagte er. »Aber wir haben einen bestimmten Zeitpunkt ausgemacht.«
»Der Zeitpunkt ist da. Sein Vater ist tot, die Wunde heilte nicht mehr. Die Männer haben Wikind gewählt. Er ist jetzt der Herzog.«
Keimt vermochte kein Wort herauszubringen. Sie hatten jetzt das Dorf erreicht und das hölzerne burgartige Haus, in dem sie mit der Ahne und den Dienstleuten allein hausten, seit die Mutter tot und auch der Vater nicht mehr zurückgekehrt war aus einem der vielen Kriege gegen die Ordensritter, die Weißmäntel.
Wußte jemand, wie alt die Ahne war, zu welcher Sippe sie gehört hatte oder seit wann sie in der Ecke der großen niedrigen Stube saß, vor ihren Füßen das Feuer, das nur zur heißesten Zeit erlosch?
Niemand wußte es. Niemand hatte je von einer Zeit gehört, da sie nicht dort gesessen hatte. Gunlud hatte seinen Erstge borenen vor sie gebracht, und sie hatte das Kind Keimt genannt, so wie sie ihn selbst Gunlud genannt, als sie ihn das erste Mal auf den Armen seines Vaters Jelmin gesehen hatte, des großen Reiks. Sicher hatte sie auch Jelmin seinen Namen gegeben und all den anderen Vorvätern seines Geschlechts. Niemand zweifelte daran, daß sie von Perkunos selbst abstammte, dem Wissenden, wie sonst hätte man erklären können, daß sie von allem Kunde hatte, was je geschehen war, selbst in den versunkensten Zeiten und den fernsten Ländern?
Sie gebrauchte das Wort selten, und es war schon sehr lange her — war es nicht das letzte Mal gewesen am Tage vor Gunluds Tod? -, daß sie die Lippen geöffnet und zu reden begonnen hatte in dunklen Worten von unbekannten Dingen, sehr fernen Dingen. Waren sie fern im Vergangenen oder im Kommenden? »Die Ahne singt«, sagten dann die Leute und drängten sich in der weiten niederen Stube, um kein Wort zu verlieren.
Auch jetzt war die Stube gedrängt voll, und es machte den Leuten Mühe, genug Platz zu schaffen, damit die Geschwister nach vorn zu ihren Sitzen gelangen konnten. Es standen drei Sitze dort, und auf dem einen saß Wikind, der Litauer. Er und Keimt sahen einander an, mehr taten sie nicht, es war nicht der Zeitpunkt dazu, auch wußte jeder, was der andere dachte.
Er liebt seine Schwester, dachte Wikind, aber er ist ihr Bruder, er kann sie nicht heiraten, die Zeiten sind vorbei.
Er liebt Jagodna, dachte Keimt, aber er ist nicht ihr Bruder, er kann sie nicht so lieben wie ich. Warum habe ich sie ihm versprochen?
Jagodna setzte sich zwischen die beiden. Ihr Kopf neigte sich erwartungsvoll vor, sie sollte die Ahne zum erstenmal hören, denn damals, vor Jahren, war sie noch ein Kind gewesen, ein kleines Kind, das sich gefürchtet und am großen Bruder festgeklammert hatte.
Das undeutliche Murmeln der Ahne wurde zu Worten, plötzlich klang ihre Stimme kräftig und klar.
»Sie hatten die Wagen beladen. Eirun fuhr den ersten Wagen, den mit der lieblichen Sklavin und den größten Kostbarkeiten, und Keirut ritt ihm voraus. Es war jener Keirut ferner Zeiten, der das letzte große Reich im Südosten gegründet hat, am Dnjepr. Große Reiche hatten wir damals dort unten. Sie zerfielen, alles zerfällt, wenn die Zeit darüber hingeht. Damals zog Keimt fort, nach Süden, den Reden der Sklaven nach, die sein Vater vor Jahren eingetauscht hatte gegen Bernstein, von Leuten mit brauner Haut und schwarzen Haaren, bösen Leuten, wer sonst tauscht Bernstein gegen seine Brüder? Aber die Braunhäutigen sagten, die Getauschten seien nicht ihres Stammes, sondern ihre eigenen Sklaven, ihnen zugefallen als Beute bei Fahrten auf See, vielleicht sprachen sie wahr, wer konnte es wissen? Sie zogen fort mit Bernstein und Fellen, die Sklaven blieben. Einer der Frauen brach das Herz, sie starb und ließ ein Kind zurück, ein kleines Mädchen, schwarzhaarig und sehr lieblich. Keimt war herangewachsen zwischen den Fremden, ihre Erzählungen hatten sein Herz unruhig gemacht, und noch unruhiger wurde es vom Heimweh des lieblichen Sklavenmädchens, obwohl das Kind sich seiner Heimat nur wie eines fernen undeutlichen Traumes erinnern konnte. Es war schon in den ersten Lebensjahren den Braunhäutigen zugefallen samt seiner Mutter und von ihnen mitgenommen worden auf die große Reise ins Bernsteinland, einer jahrelangen Reise, wie es schien. Dennoch sprach die Liebliche immer von daheim und von der Mutter, als erinnere sie sich noch genau alles dessen, was gewesen war, der Schönheit und des Reichtums und der Sonne, unter der sie dahingefahren war auf großem Schiff über sehr blaues Wasser, zusammen mit der Mutter, zusammen auch mit jemandem, der über das Schiff geherrscht hatte und den sie Vater nannte. Sehr herrlich war alles gewesen, bis plötzlich die Braunhäuti gen gekommen waren und mit ihnen lauter Blut und Tod ringsum. Wenn das Mädchen soweit gekommen war in seiner Erzählung, verstummte es, machte eine schmerzliche Gebärde mit der Hand und sah den jungen Keirut hilflos und eindringlich an, und Keirut sagte: >Wenn ich Herzog sein werde — und einmal werde ich es sein — ziehen wir in deine Heimat, Liebliche, Schwarzlockige.<«
Hier legte Keimt, der junge Keimt, der Sohn Gunluds, seine Hand auf die der Schwester und murmelte: »Liebliche, Schwarzlockige.«
Der Blick der Ahne ging zu ihm, ging über ihn hinweg, sie sah ihn nicht, sie sah Vorbeigegangenes, längst Geschehenes, das aber wohl noch irgendwo stehen mußte im Raum, wie hätte es sonst aufleuchten können vor ihren Augen? Elrun, sagte sie, habe also den ersten Wagen gefahren, in dem auch die Liebliche war. Elrun kannte den Weg, er hatte ihn in früher Jugend schon einmal gemacht, zusammen mit seinem Vater und vielen anderen. Sie hatten Bernstein nach Süden gebracht, nicht nur solchen, wie ihn die See in rohen Stücken auswirft, sondern Figuren, die daraus geschnitzt waren mit scharfem Steinmesser, auch schön bearbeiteter Schmuck war darunter für Waffen und Frauen. Damit war man in das Land der Sonne gefahren, das wunderbare Land, nach dem sich Elrun jetzt noch verzehrte vor Sehnsucht, dort hatte man die Herrlichkeiten eingetauscht gegen Geräte und Stoffe, auch gegen anderen Schmuck, den die Frauen daheim mehr liebten. Es war eine lange Reise gewesen über sturmerfüllte Hochebenen und durch dichte Wälder, über endlose Moore hinweg, wo man den befestigten Weg sorgsam suchen mußte. Es gab auch damals schon befestigte Wege in den Mooren, es gab sie schon immer, wer weiß, seit wann schon Menschen gewohnt haben zwischen dem Bernsteinmeer und den hohen Bergen. Elrun hatten die Männer den Weg entlanggeführt damals, in seiner frühen Jugend, und jetzt tat er das gleiche mit
Keimt und der Lieblichen und den vierzig Mann, die ihnen folgten. Er kannte den Weg bis zu jener Stelle, da er sich teilte in den, der weiterging zum Land der Sonne, und den, der zum Land der Lieblichen führte, das weiter ostwärts zu liegen schien. Von da ab mußten die Götter helfen. Am Schnittpunkt würde man ihnen ein Opfer bringen. Wen würde das Los bestimmen?
»Niemand«, sang die Ahne, »niemand war zum Opfer bestimmt, den Göttern gefiel es anders. Einmal ward ein Lager aufgeschlagen auf windiger Hochebene vor steindurchsetztem Bergwald, über den Nebel quirlten und huschende Gespenster wehten. Die Lautlosen, Geschwinden jagten den Menschen Furcht ein, sie verkrochen sich unter Gebüsch und in Zelten. Fahl hing der Vollmond im Nebel, da kamen die Lautlosen, Geschwinden über das Lager, es waren keine Gespenster, es waren kleine dunkelgesichtige Männer mit schrägen Augen, und es waren weit über hundert. Der Kampf war wild und kurz, dann lagen die vierzig Männer tot unter dem Gestöhn des Windes. Keimt hatte beim ersten Laut aus seinem Zelt hervorstürzen wollen, aber die Liebliche hatte ihm einen Trank aufgenötigt, der ihn unverwundbar machen würde, und kaum hatte er ihn getrunken, so war er bewußtlos zu Boden gestürzt. Er erwachte erst am nächsten Morgen, da lag er in einer Höhle unter einem Steindach, und neben ihm saß die Liebliche in fremdländischem Männergewand. Er begriff die List, mit der sie ihn bewußtlos gemacht und an den Füßen hierhergeschleift hatte wie eine Kriegsbeute; Nacht, Nebel und das im Dunkel schnell fortgeraffte Gewand eines toten Schlitzäugigen hatten ihr geholfen, die Verzweiflung hatte ihr Kräfte gegeben. Er begriff auch, daß sie sich der Gefahr der Reise bewußt gewesen war und daß sie den betäubenden Trank wohlzubereitet mitgeführt hatte, damit er in größerer Dosis sie hineinrette in den Tod, wenn keine andere Rettung mehr sein sollte.
Dann jagten die Schlitzäugigen an der Höhle vorbei, sie hatten es eilig, sie waren nur eine versprengte Abteilung der großen Horde und mußten sich beeilen, um wieder zu den Ihrigen zu gelangen. So konnten sie auch den erbeuteten Bernsteinschatz nicht mitnehmen, sondern hatten ihn in aller Eile in tiefer Grube verborgen, da wollten sie ihn später holen.
Es wurde nichts daraus, sie kamen nie mehr in das Land, und die Grube auf der Hochebene vor dem Wald wurde eine der vielen, die tief unter der Erde an den alten Straßen liegen, gefüllt mit Lasten von Bernstein, hellem und dunklem, klarem und rauchigem, rohem und kunstvoll geschnitztem. Durch das Gefunkel sind die Wurzeln der Bäume gewachsen, und die Tiere, die unter der Erde leben, haben darin ihre Nester.
Als die Schlitzäugigen fort waren, kamen Keimt und die Liebliche hervor und fanden die Leichen. Sie erkannten jeden der Vierzig, nur Elrun fanden sie nicht, aber einen fast unversehrten Wagen und ein paar gesunde Pferde, damit wandten sie sich nach Südosten. Es war ein wildes und unwegsames Land, durch das sie zogen, voll dichter Wälder und himmelhoher Berge, es gab Bären und Wölfe, ob sie auf Menschen trafen, niemand kann es sagen.
Aber sie sind wohl hinübergekommen ins Land des Glükkes, sonst hätte nicht geschehen können, was später geschah, im Lande des Perkunos, aus dem Keimt aufgebrochen war mit der Lieblichen und mit vierzig Mann, und in das nur Elrun zurückgekehrt war, fast unkenntlich geworden von Hunger und Mühsal und Wunden. Alle seien tot, sagte er, auch Keimt, denn sein Zelt hatte der Fliehende leer gefunden.
Jahre vergehen, wie viele Jahre? So viele, als nötig sind, damit ein Neugeborenes zum Jüngling aufwächst und aus dem Walde tritt, ein schönes Pferd am Zügel, und den Leuten sagt, sein Vater Keimt sende ihn heim, damit er lebe in dem, was ihm gehöre. Glaubten sie ihm?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1971/1999 by BASTEI-LÜBBE Gmbh & Co: KG, Köln
Ihr Ruf hatte die Stille zerbrochen, die schwebende Stunde
stürzte und sank ins Dunkel, das jetzt dichter aufquoll vom Wasser her.
Er eilte hinter ihr her, jetzt hatte er sie erreicht und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie verlangsamte den Schritt. »Wikind ist da«, sagte sie.»Wikind?«
»Ja. Nur die Unseren wissen es. Seine Männer warten im Wald.«
»Wikind! Was will er?«
Er wußte es, und ihm drohte das Herz stillzustehen.
»Du weißt es, ich soll mit ihm reiten. Du hast es ihm versprochen.«
»Und du? Willst du mit ihm reiten?«
»Er ist stark«, sagte sie nachdenklich, »auch klug und angenehm. Ich muß einen Mann nehmen!«
»Du willst ihn«, erwiderte er und bemerkte plötzlich, wie leer die Welt war. Dann stieg eine Hoffnung in ihm auf. »Ich habe es ihm versprochen«, sagte er. »Aber wir haben einen bestimmten Zeitpunkt ausgemacht.«
»Der Zeitpunkt ist da. Sein Vater ist tot, die Wunde heilte nicht mehr. Die Männer haben Wikind gewählt. Er ist jetzt der Herzog.«
Keimt vermochte kein Wort herauszubringen. Sie hatten jetzt das Dorf erreicht und das hölzerne burgartige Haus, in dem sie mit der Ahne und den Dienstleuten allein hausten, seit die Mutter tot und auch der Vater nicht mehr zurückgekehrt war aus einem der vielen Kriege gegen die Ordensritter, die Weißmäntel.
Wußte jemand, wie alt die Ahne war, zu welcher Sippe sie gehört hatte oder seit wann sie in der Ecke der großen niedrigen Stube saß, vor ihren Füßen das Feuer, das nur zur heißesten Zeit erlosch?
Niemand wußte es. Niemand hatte je von einer Zeit gehört, da sie nicht dort gesessen hatte. Gunlud hatte seinen Erstge borenen vor sie gebracht, und sie hatte das Kind Keimt genannt, so wie sie ihn selbst Gunlud genannt, als sie ihn das erste Mal auf den Armen seines Vaters Jelmin gesehen hatte, des großen Reiks. Sicher hatte sie auch Jelmin seinen Namen gegeben und all den anderen Vorvätern seines Geschlechts. Niemand zweifelte daran, daß sie von Perkunos selbst abstammte, dem Wissenden, wie sonst hätte man erklären können, daß sie von allem Kunde hatte, was je geschehen war, selbst in den versunkensten Zeiten und den fernsten Ländern?
Sie gebrauchte das Wort selten, und es war schon sehr lange her — war es nicht das letzte Mal gewesen am Tage vor Gunluds Tod? -, daß sie die Lippen geöffnet und zu reden begonnen hatte in dunklen Worten von unbekannten Dingen, sehr fernen Dingen. Waren sie fern im Vergangenen oder im Kommenden? »Die Ahne singt«, sagten dann die Leute und drängten sich in der weiten niederen Stube, um kein Wort zu verlieren.
Auch jetzt war die Stube gedrängt voll, und es machte den Leuten Mühe, genug Platz zu schaffen, damit die Geschwister nach vorn zu ihren Sitzen gelangen konnten. Es standen drei Sitze dort, und auf dem einen saß Wikind, der Litauer. Er und Keimt sahen einander an, mehr taten sie nicht, es war nicht der Zeitpunkt dazu, auch wußte jeder, was der andere dachte.
Er liebt seine Schwester, dachte Wikind, aber er ist ihr Bruder, er kann sie nicht heiraten, die Zeiten sind vorbei.
Er liebt Jagodna, dachte Keimt, aber er ist nicht ihr Bruder, er kann sie nicht so lieben wie ich. Warum habe ich sie ihm versprochen?
Jagodna setzte sich zwischen die beiden. Ihr Kopf neigte sich erwartungsvoll vor, sie sollte die Ahne zum erstenmal hören, denn damals, vor Jahren, war sie noch ein Kind gewesen, ein kleines Kind, das sich gefürchtet und am großen Bruder festgeklammert hatte.
Das undeutliche Murmeln der Ahne wurde zu Worten, plötzlich klang ihre Stimme kräftig und klar.
»Sie hatten die Wagen beladen. Eirun fuhr den ersten Wagen, den mit der lieblichen Sklavin und den größten Kostbarkeiten, und Keirut ritt ihm voraus. Es war jener Keirut ferner Zeiten, der das letzte große Reich im Südosten gegründet hat, am Dnjepr. Große Reiche hatten wir damals dort unten. Sie zerfielen, alles zerfällt, wenn die Zeit darüber hingeht. Damals zog Keimt fort, nach Süden, den Reden der Sklaven nach, die sein Vater vor Jahren eingetauscht hatte gegen Bernstein, von Leuten mit brauner Haut und schwarzen Haaren, bösen Leuten, wer sonst tauscht Bernstein gegen seine Brüder? Aber die Braunhäutigen sagten, die Getauschten seien nicht ihres Stammes, sondern ihre eigenen Sklaven, ihnen zugefallen als Beute bei Fahrten auf See, vielleicht sprachen sie wahr, wer konnte es wissen? Sie zogen fort mit Bernstein und Fellen, die Sklaven blieben. Einer der Frauen brach das Herz, sie starb und ließ ein Kind zurück, ein kleines Mädchen, schwarzhaarig und sehr lieblich. Keimt war herangewachsen zwischen den Fremden, ihre Erzählungen hatten sein Herz unruhig gemacht, und noch unruhiger wurde es vom Heimweh des lieblichen Sklavenmädchens, obwohl das Kind sich seiner Heimat nur wie eines fernen undeutlichen Traumes erinnern konnte. Es war schon in den ersten Lebensjahren den Braunhäutigen zugefallen samt seiner Mutter und von ihnen mitgenommen worden auf die große Reise ins Bernsteinland, einer jahrelangen Reise, wie es schien. Dennoch sprach die Liebliche immer von daheim und von der Mutter, als erinnere sie sich noch genau alles dessen, was gewesen war, der Schönheit und des Reichtums und der Sonne, unter der sie dahingefahren war auf großem Schiff über sehr blaues Wasser, zusammen mit der Mutter, zusammen auch mit jemandem, der über das Schiff geherrscht hatte und den sie Vater nannte. Sehr herrlich war alles gewesen, bis plötzlich die Braunhäuti gen gekommen waren und mit ihnen lauter Blut und Tod ringsum. Wenn das Mädchen soweit gekommen war in seiner Erzählung, verstummte es, machte eine schmerzliche Gebärde mit der Hand und sah den jungen Keirut hilflos und eindringlich an, und Keirut sagte: >Wenn ich Herzog sein werde — und einmal werde ich es sein — ziehen wir in deine Heimat, Liebliche, Schwarzlockige.<«
Hier legte Keimt, der junge Keimt, der Sohn Gunluds, seine Hand auf die der Schwester und murmelte: »Liebliche, Schwarzlockige.«
Der Blick der Ahne ging zu ihm, ging über ihn hinweg, sie sah ihn nicht, sie sah Vorbeigegangenes, längst Geschehenes, das aber wohl noch irgendwo stehen mußte im Raum, wie hätte es sonst aufleuchten können vor ihren Augen? Elrun, sagte sie, habe also den ersten Wagen gefahren, in dem auch die Liebliche war. Elrun kannte den Weg, er hatte ihn in früher Jugend schon einmal gemacht, zusammen mit seinem Vater und vielen anderen. Sie hatten Bernstein nach Süden gebracht, nicht nur solchen, wie ihn die See in rohen Stücken auswirft, sondern Figuren, die daraus geschnitzt waren mit scharfem Steinmesser, auch schön bearbeiteter Schmuck war darunter für Waffen und Frauen. Damit war man in das Land der Sonne gefahren, das wunderbare Land, nach dem sich Elrun jetzt noch verzehrte vor Sehnsucht, dort hatte man die Herrlichkeiten eingetauscht gegen Geräte und Stoffe, auch gegen anderen Schmuck, den die Frauen daheim mehr liebten. Es war eine lange Reise gewesen über sturmerfüllte Hochebenen und durch dichte Wälder, über endlose Moore hinweg, wo man den befestigten Weg sorgsam suchen mußte. Es gab auch damals schon befestigte Wege in den Mooren, es gab sie schon immer, wer weiß, seit wann schon Menschen gewohnt haben zwischen dem Bernsteinmeer und den hohen Bergen. Elrun hatten die Männer den Weg entlanggeführt damals, in seiner frühen Jugend, und jetzt tat er das gleiche mit
Keimt und der Lieblichen und den vierzig Mann, die ihnen folgten. Er kannte den Weg bis zu jener Stelle, da er sich teilte in den, der weiterging zum Land der Sonne, und den, der zum Land der Lieblichen führte, das weiter ostwärts zu liegen schien. Von da ab mußten die Götter helfen. Am Schnittpunkt würde man ihnen ein Opfer bringen. Wen würde das Los bestimmen?
»Niemand«, sang die Ahne, »niemand war zum Opfer bestimmt, den Göttern gefiel es anders. Einmal ward ein Lager aufgeschlagen auf windiger Hochebene vor steindurchsetztem Bergwald, über den Nebel quirlten und huschende Gespenster wehten. Die Lautlosen, Geschwinden jagten den Menschen Furcht ein, sie verkrochen sich unter Gebüsch und in Zelten. Fahl hing der Vollmond im Nebel, da kamen die Lautlosen, Geschwinden über das Lager, es waren keine Gespenster, es waren kleine dunkelgesichtige Männer mit schrägen Augen, und es waren weit über hundert. Der Kampf war wild und kurz, dann lagen die vierzig Männer tot unter dem Gestöhn des Windes. Keimt hatte beim ersten Laut aus seinem Zelt hervorstürzen wollen, aber die Liebliche hatte ihm einen Trank aufgenötigt, der ihn unverwundbar machen würde, und kaum hatte er ihn getrunken, so war er bewußtlos zu Boden gestürzt. Er erwachte erst am nächsten Morgen, da lag er in einer Höhle unter einem Steindach, und neben ihm saß die Liebliche in fremdländischem Männergewand. Er begriff die List, mit der sie ihn bewußtlos gemacht und an den Füßen hierhergeschleift hatte wie eine Kriegsbeute; Nacht, Nebel und das im Dunkel schnell fortgeraffte Gewand eines toten Schlitzäugigen hatten ihr geholfen, die Verzweiflung hatte ihr Kräfte gegeben. Er begriff auch, daß sie sich der Gefahr der Reise bewußt gewesen war und daß sie den betäubenden Trank wohlzubereitet mitgeführt hatte, damit er in größerer Dosis sie hineinrette in den Tod, wenn keine andere Rettung mehr sein sollte.
Dann jagten die Schlitzäugigen an der Höhle vorbei, sie hatten es eilig, sie waren nur eine versprengte Abteilung der großen Horde und mußten sich beeilen, um wieder zu den Ihrigen zu gelangen. So konnten sie auch den erbeuteten Bernsteinschatz nicht mitnehmen, sondern hatten ihn in aller Eile in tiefer Grube verborgen, da wollten sie ihn später holen.
Es wurde nichts daraus, sie kamen nie mehr in das Land, und die Grube auf der Hochebene vor dem Wald wurde eine der vielen, die tief unter der Erde an den alten Straßen liegen, gefüllt mit Lasten von Bernstein, hellem und dunklem, klarem und rauchigem, rohem und kunstvoll geschnitztem. Durch das Gefunkel sind die Wurzeln der Bäume gewachsen, und die Tiere, die unter der Erde leben, haben darin ihre Nester.
Als die Schlitzäugigen fort waren, kamen Keimt und die Liebliche hervor und fanden die Leichen. Sie erkannten jeden der Vierzig, nur Elrun fanden sie nicht, aber einen fast unversehrten Wagen und ein paar gesunde Pferde, damit wandten sie sich nach Südosten. Es war ein wildes und unwegsames Land, durch das sie zogen, voll dichter Wälder und himmelhoher Berge, es gab Bären und Wölfe, ob sie auf Menschen trafen, niemand kann es sagen.
Aber sie sind wohl hinübergekommen ins Land des Glükkes, sonst hätte nicht geschehen können, was später geschah, im Lande des Perkunos, aus dem Keimt aufgebrochen war mit der Lieblichen und mit vierzig Mann, und in das nur Elrun zurückgekehrt war, fast unkenntlich geworden von Hunger und Mühsal und Wunden. Alle seien tot, sagte er, auch Keimt, denn sein Zelt hatte der Fliehende leer gefunden.
Jahre vergehen, wie viele Jahre? So viele, als nötig sind, damit ein Neugeborenes zum Jüngling aufwächst und aus dem Walde tritt, ein schönes Pferd am Zügel, und den Leuten sagt, sein Vater Keimt sende ihn heim, damit er lebe in dem, was ihm gehöre. Glaubten sie ihm?
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 1971/1999 by BASTEI-LÜBBE Gmbh & Co: KG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: E. G. Stahl
- 511 Seiten, Maße: 13,3 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828997856
- ISBN-13: 9783828997851
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