Die Nacht hat viele Augen / McCloud Brothers Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Der Sicherheitsexperte Seth Mackey weiß alles über die Frauen, mit denen sich sein Boss, der Millionär Victor Lazar, schmückt. Doch die junge Raine Cameron ist eindeutig etwas Besonderes. Nacht für Nacht beobachtet Seth sie auf einem Dutzend...
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Produktinformationen zu „Die Nacht hat viele Augen / McCloud Brothers Bd.1 “
Klappentext zu „Die Nacht hat viele Augen / McCloud Brothers Bd.1 “
Der Sicherheitsexperte Seth Mackey weiß alles über die Frauen, mit denen sich sein Boss, der Millionär Victor Lazar, schmückt. Doch die junge Raine Cameron ist eindeutig etwas Besonderes. Nacht für Nacht beobachtet Seth sie auf einem Dutzend Videobildschirmen. Ihre verletzliche Schönheit weckt eine glühende Leidenschaft in ihm. Seth ermittelt im Geheimen gegen Victor, denn er ist überzeugt, dass dieser seinen Halbbruder ermordet hat. Und er fürchtet, Raine könnte sein nächstes Opfer sein. Doch Raine hat ihre eigenen Gründe, warum sie an Victor Rache nehmen will. Um ihren Plan in die Tat umzusetzen, braucht sie Seths Hilfe.
Lese-Probe zu „Die Nacht hat viele Augen / McCloud Brothers Bd.1 “
Die Nacht hat viele Augen von Shannon McKennan2
Noch immer hatte Raine die Bilder ihres Traums im Kopf, während sie sich ihren Weg durch den morgendlichen Verkehr bahnte. Die Traumbilder schienen sehr viel lebhafter und realer zu sein als das triste, einsame Leben, das sie hier in Seattle lebte.
Sie war gut darin, Träume zu analysieren sie hatte weiß Gott genug Übung darin , aber so viel sie auch darüber nachgrübelte, für diesen einen fiel ihr keine plausible Begründung ein. Sie war winzig und schwamm in einem gläsernen Aquarium. Das Licht funkelte auf den falschen bunten Steinen, die den Boden bedeckten. Langsam schwamm sie durch kleine Korallen, über ein Miniaturschloss aus Plastik und ein versunkenes Piratenschiff. Sie war nackt und sich dessen schrecklich bewusst.
Sie versuchte, sich ihr langes Haar um den Körper zu schlingen, aber immer wieder trieb es als helle, wabernde Wolke zurück in ihr Gesicht. Eine schwarze Piratenflagge bewegte sich träge im Wasser. Der Schädel und die gekreuzten Knochen darauf waren das letzte Bild, das sie mitnahm, als der Wecker sie um 5:30 Uhr aus dem Schlaf riss. Als ein Ford Explorer hinter ihr hupte, weil die Ampel inzwischen grün war, zuckte sie zusammen. Sie musste in der Realität bleiben und sich auf die regennassen Straßen konzentrieren.
Dieser Traum kehrte immer wieder, seit sie in dem Haus wohnte, das Lazar Import und Export ihr zur Verfügung gestellt hatte. Wohnte, nicht lebte, denn es gelang ihr einfach nicht, sich dort wohlzufühlen, obwohl es ein schönes Haus war, bereits vollständig möbliert und viel zu luxuriös für eine kleine Vorstandsassistentin. Es machte sie nervös. Sie hatte schon genug Probleme und wollte sich nicht auch noch in ihren eigenen vier Wänden unwohl fühlen.
Sie hatte vor, sich eine eigene Wohnung zu
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suchen, sobald sie etwas Luft zum Atmen hatte. Zum Teufel mit den Extrakosten. Davon zu träumen, dass sie nackt, gefangen und hilflos war, tat ihrem Selbstbewusstsein nicht gerade gut. Sie wünschte sich, dass sie mal einen Traum von sich hätte, in dem sie mutig und furchtlos war. Eine Piratenkönigin, die ein Entermesser schwang und ihren Kampfruf ausstieß. Aber sie konnte sich nicht beschweren.
Der Aquariumtraum war um einiges weniger anstrengend als der Traum von dem blutenden Grabstein. Aus ihm wachte sie wenigstens nicht nach Luft ringend und mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen auf, voller Trauer um ihren verstorbenen Vater. Trotzdem, der Schädel und die gekreuzten Knochen beunruhigten sie. In ihren wiederkehrenden Träumen gab es immer irgendwelche Bilder, die für den Tod standen. Glückliches Mädchen, dachte sie mit grimmigem Vergnügen. So fängt man den Tag richtig an ... mit einem bluttriefenden Dolch, einem Nest voller Schlangen oder einem Atompilz.
Der tägliche Schrei, mit dem sie Adrenalin in ihren Körper pumpte, war besser als Kaffee. Ihr Magen flatterte, als sie in die Parkgarage des Gebäudes fuhr, in dem sich die Firmenbüros befanden. Jeremy, der stets zu einem Flirt aufgelegte Parkwächter, zwinkerte ihr zu und winkte, während ihr nur ein mattes Lächeln gelang. Sie hatte ihren Job bei Lazar Import und Export unter falschen Voraussetzungen bekommen, und mit jedem Tag zahlte sie einen höheren Preis für diesen Betrug. Sie hatte die riesige Firma, die in vielen unterschiedlichen Bereichen tätig war, bis in den letzten Winkel durchleuchtet und ihren Lebenslauf so angepasst, dass er dem Personalchef gefallen musste. Sie beruhigte ihr schlechtes Gewissen, indem sie sich sagte, dass sie im Recht war und alles einer gerechten Sache diente.
Trotzdem hatte Raine noch nie gut lügen können. Eine Kleinigkeit zum Frühstück würde jetzt helfen, aber dafür war keine Zeit, nicht mal für ein Stück Gebäck. Bei Lazar Import und Export musste man weiß Gott schon hart genug arbeiten, auch wenn man nicht ständig lügen musste. Es war der mieseste und tückischste Arbeitsplatz, den sie je erlebt hatte. Jederzeit musste man damit rechnen, ein Messer in den Rücken gerammt zu bekommen.
Zudem bestand nicht die geringste Chance, Freundschaften mit Kollegen zu knüpfen. Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild in den auf Hochglanz polierten Wänden des Fahrstuhls. Sie hatte abgenommen. Ihr Rock saß zu tief auf den Hüften. Aber wer hatte bei Lazar schon Zeit, etwas zu essen? Sie konnte schon von Glück sagen, wenn sie im Laufe des Tages eine Sekunde Zeit fand, um zu pinkeln. Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und verkündete dies mit einem Ping, als sie gerade noch einmal ihre Lippen nachzog.
Die Tür glitt auf, ein Mann kam herein, und die Tür schloss sich wieder hinter ihm. Die Kabine schien plötzlich sehr eng zu sein. Sie steckte den Lippenstift wieder in ihre Handtasche, und ein leichtes Kribbeln lief über ihre Haut, wie eine Brise, die durchs hohe Gras raschelte. Sie achtete darauf, ihn nicht direkt anzusehen, wie es sich in einem Fahrstuhl gehörte, aber aus den Augenwinkeln konnte sie trotzdem einen flüchtigen Eindruck gewinnen. Er war groß, vielleicht etwas über eins achtzig. Schlank. Dunkel gebräunte Haut. Sie warf einen flüchtigen Blick auf seine großen Hände, die aus den weißen Manschetten seines Anzugs hervorschauten seines sehr eleganten und teuren Anzugs. Wahrscheinlich Armani, dachte sie und warf einen Blick auf den Schnitt seiner Ärmel.
Ein Sommer in Barcelona mit diesem schamlosen Modepüppchen Juan Carlos hatte sie eine Menge Feinheiten über Männermode gelehrt.
Der Mann sah sie an. Sie spürte den Druck und die Hitze seines Blicks auf der Seite ihres Gesichts. Sie hätte ihn direkt ansehen müssen, um sicher zu sein. Und zum ersten Mal war ihre Neugier stärker als ihre Furcht. Vielleicht waren es der Totenschädel und die gekreuzten Knochen aus ihrem Traum, die sie überhaupt erst auf den Gedanken brachten, aber das Bild tauchte sofort vor ihrem geistigen Auge auf, als sie den Blick hob, um ihn anzusehen.
Er hatte das Gesicht eines Piraten. Er war nicht im klassischen Sinne schön. Seine Züge waren zu grob und kantig, seine Nase uneben und schief. Das tiefschwarze Haar war kurz geschnitten. Es stand steil in die Luft wie eine schwarze Scheuerbürste aus Samt. Seine breiten Wangenknochen stachen hervor, und es lagen tiefe Höhlungen darunter. Die Augenbrauen waren dick, mit schwarzen Wimpern darunter, und sein Mund war sowohl grimmig als auch sinnlich.
Aber es waren seine Augen, die ihr einen Schock versetzten. Sie waren schwarz, mit schweren Lidern, und wirkten ausgesprochen exotisch. Sie starrten sie mit brennender Intensität an. Es waren die Augen eines Seeräubers auf Kaperfahrt.
Sein Blick glitt über ihren Körper, als könne er durch ihr klassisches graues Kostüm hindurchsehen, durch ihre Bluse, ihre Unterwäsche direkt bis zu ihrem bebenden Fleisch. Seine Musterung war frech und arrogant, als habe er jedes Recht, sie anzustarren. So wie ein Piratenkapitän vielleicht seine hilflose Gefangene betrachtete ... bevor er sie zu weiteren Vergnügungen mit in seine Kabine zerrte. Raine riss ihren Blick los.
Ihre übersprudelnde Fantasie ging sofort mit ihr durch und tauschte den Armanianzug gegen ein Piratenoutfit: weite Bluse, enge Kniebundhosen, in denen sich deutlich sein ... seine Ausstattung abzeichnete, ein Enterschwert, das in einer roten Schärpe steckte, und ein goldener Ring im Ohr. Es war lächerlich, aber Hitze stieg in ihr auf, und sie wurde nervös. Sie musste unbedingt aus diesem Fahrstuhl raus, bevor noch die spiegelnden Wände beschlugen. Zu ihrer ungeheuren Erleichterung hielt der Lift im sechsundzwanzigsten Stock, und die Türen öffneten sich.
Sie stürzte hinaus und prallte gegen den Mann, der draußen stand und einsteigen wollte. Sie murmelte eine zusammenhanglose Entschuldigung und eilte in Richtung des Treppenhauses. Wenn sie zu Fuß ging, würde sie zwar zu spät kommen, aber sie konnte sich unterwegs wieder etwas fangen. Oh Gott, wie armselig und wie typisch.
Ein heißer Typ starrte sie im Fahrstuhl an, und sie zerfloss gleich wie eine verängstigte Jungfrau. Sie hatte die einmalige Chance ihres Lebens verpasst, von einem Piraten geschändet zu werden. Kein Wunder, dass sie kein Liebesleben hatte. Sie sabotierte es ja schon, bevor es überhaupt anfangen konnte. Jedes verdammte Mal.
Der Arbeitstag begann Unheil verheißend. Harriet, die Büromanagerin, kam vorbeigefegt, während Raine ihren Mantel aufhängte.
Harriets schmales Gesicht war ganz verkniffen vor lauter Missfallen.
»Ich hatte Sie früher erwartet«, bemerkte sie schnippisch. Raine warf einen Blick auf die Uhr. Es war 7:32 Uhr.
»Aber ich ... es ist nur ...«
»Sie wissen genau, dass der aktualisierte Report über die Befolgung der OFAC-Richtlinien um zwölf Uhr fertig und mit FedEx aus dem Haus sein muss! Und wir haben immer noch keine Antwort von der Banque Intercontinentale Arabe über die eingefrorenen Subventionen für die Weinlieferungen. In Paris ist es bereits 16:30 Uhr, und unsere Lieferanten trommeln bereits mit den Fingern. Irgendjemand muss die Bestellung für die brasilianischen Espressobohnen verhandeln, und Sie sind im Moment die Einzige im Büro, die halbwegs vernünftig Portugiesisch spricht. Und gar nicht erwähnen will ich die Tatsache, dass die neuen Seiten der Website noch nicht fertig sind. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie auch ein bisschen Verantwortung für Ihre Arbeit übernehmen, Raine. Ich kann mich nicht um alles kümmern.«
Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte Raine eine Entschuldigung, setzte sich und tippte den Code ein, der die Voicemail an ihrem Telefon abschaltete.
»Und noch etwas. Mr Lazar möchte, dass Sie beim Morgenmeeting Kaffee, Tee und Gebäck servieren«, fuhr Harriet fort. Entsetzt sprang Raine auf.
»Ich?« Harriet verzog die Lippen. »Ich habe mich nicht besonders darauf gefreut, ihm zu sagen, dass Sie zu spät sind.«
Raines Magen zog sich zusammen.
»Aber er hat niemals ... Stefania hat immer ...«
»Er will Sie«, unterbrach Harriet. »Und was er will, das bekommt er. Der Kaffee kocht schon, was allerdings nicht Ihnen zu verdanken ist, und der Caterer hat gerade das Essen gebracht. Es steht in der Küche. Das Porzellan und das Silberbesteck befinden sich bereits auf dem Konferenztisch.« Stefania steckte den Kopf in Raines Arbeitsnische.
»Achte darauf, dass du die Choreografie des Geisha-Girls absolut perfekt bringst«, riet sie ihr. »Bei Lazar muss das ästhetisch perfekt sein. Ein Tropfen Kaffee daneben, und du bist erledigt.«
Sie musterte Raine mit einem kritischen Blick.
»Und frisch noch einmal dein Make-up auf. Dein linkes Auge ist verschmiert. Hier, komm, nimm meinen Lippenstift.«
Raine starrte auf den kleinen Stift, sprachlos vor Bestürzung. Es war das erste Mal, dass Victor Lazar öffentlich ihre Existenz anerkannt hatte. Sie hatte ihn natürlich schon gesehen. Es war auch unmöglich, ihn zu übersehen. Wie ein Sturm fegte er durch das Büro, trieb Leute vor sich her und zerrte andere hinterdrein.
Er war so dynamisch und einschüchternd, wie sie ihn aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte, allerdings nicht so groß. Als sie ihm das erste Mal nach all den Jahren wieder begegnet war, waren seine durchdringenden grauen Augen über sie hinweggeglitten, ohne sie zu beachten.
Vor Erleichterung hatte sie weiche Knie bekommen. Offensichtlich sah er keine Verbindung zwischen der neuen Vorstandsassistentin und seiner kleinen, elf Jahre alten Nichte mit den weißblonden Zöpfen, die er seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gott sei Dank. Sein plötzliches Interesse an ihr kam ihr jedoch unheimlich vor.
»Machen Sie schnell, Raine! Das Meeting war für 7:45 Uhr angesetzt!«
Harriets rasiermesserscharfer Ton riss sie aus ihren Gedanken. Mit klopfendem Herzen hastete sie in die Küche. Es war nichts Besonderes, versuchte sie sich einzureden, während sie das Essen auspackte. Sie servierte Kaffee, Croissants, Bagles, MiniMuffins und Obst. Sie würde lächeln, hübsch aussehen und sich dann graziös zurückziehen, um Lazar und seine Klienten ihren Geschäften zu überlassen. Schließlich ging es nicht um eine mündliche Prüfung.
Natürlich nicht, meldete sich da die kleine sarkastische Stimme in ihrem Hinterkopf. Er ist nur der Mörder deines Vaters, höchstpersönlich und in deiner Reichweite. Also wirklich keine große Sache. Sie goss sich eine Tasse von dem starken Kaffee ein, den es immer in der Personalküche gab, und trank ihn so schnell, dass sie sich Mund und Kehle verbrannte.
Um das Ganze wirklich durchstehen zu können, würde sie sich ein Metallrückgrat einoperieren lassen müssen. Sie sollte froh sein, dass Victor sie bemerkt hatte. Sie musste nahe an ihn herankommen, wenn sie Nachforschungen zum Tod ihres Vaters anstellen wollte. Deswegen hatte sie diesen albtraumhaften Job überhaupt angenommen, deswegen lebte sie dieses surreale Leben.
Der Traum von dem weinenden Grabstein hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Jahrelang hatte sie versucht, diesen teuflischen Traum zu enträtseln.
Ein Dutzend logischer Erklärungen waren ihr eingefallen: Sie vermisste ihren Vater, trug verdrängten Groll über seinen Tod mit sich herum, brauchte einen Sündenbock et cetera. Sie hatte sich mit Traumpsychologie beschäftigt, eine Psychotherapie gemacht, kreative Visualisierung versucht, Hypnose, Yoga, jede Stress lösende Technik, die sie hatte auftreiben können, aber der Traum war geblieben.
Er brannte in ihren Gedanken, drückte sie nieder und sabotierte jeden Versuch, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Vor einem Jahr hatte sie ihn dann jede Nacht geträumt, sie war völlig daran verzweifelt. Sie hatte Angst gehabt, ins Bett zu gehen, obwohl sie hundemüde war. Sie hatte versucht, sich mit Schlaftabletten ins Koma zu versetzen, ertrug aber die Kopfschmerzen nicht, die am nächsten Tag folgten. Sie war mit ihrer Weisheit am Ende und merkte, dass ihr Leben vollkommen zum Stillstand gekommen war bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag um drei Uhr morgens. Sie hatte plötzlich aufrecht im Bett gesessen, mit rasendem Herzen, und hatte mit verweinten, brennenden Augen in die Dunkelheit gestarrt, während sie immer noch die grausame Kraft von Victors Arm spürte, der sie um die Schultern gepackt hielt.
Als das Licht der aufgehenden Sonne die Fenster ihres Schlafzimmers langsam in ein helles Grau getaucht hatte, war sie endlich bereit gewesen nachzugeben. Der Traum wollte sie dazu bringen, etwas zu tun, und sie würde sich nicht länger weigern. Denn wenn sie es tat, würde sie irgendwann daran zerbrechen. Natürlich hatte sie keinerlei Beweise. Die Akte zu den Ereignissen war eindeutig und schlüssig.
Ihr Vater war bei einem Segelbootunfall ums Leben gekommen. Victor war auf einer Geschäftsreise im Ausland gewesen, und Raines Mutter hatte behauptet, dass sie und Raine zu jener Zeit in Italien gewesen waren, und sich geweigert, weiter über die Sache zu sprechen. Als Raine sechzehn war, hatte sie ihre Mutter einmal gefragt, ob sie glaube, dass der Tod ihres ersten Mannes ein Unfall gewesen sei.
Ihre Mutter hatte sie hart ins Gesicht geschlagen, war dann in einen lautstarken Weinkrampf ausgebrochen und hatte ihre erschrockene Tochter in die Arme gezogen und sie um Vergebung gebeten.
»Natürlich ist es ein Unfall gewesen, Honey. Natürlich war es das«, hatte sie mit gebrochener Stimme wiederholt. »Lass es gut sein. Vergangenheit bleibt Vergangenheit. Es tut mir so leid.«
Raine hatte das verbotene Thema niemals wieder angesprochen, aber dieses Schweigen über die Vergangenheit hatte ihr immer irgendwie den Atem genommen. Sie hatte so wenig in der Hand. Jahrelang auf der Flucht und immer in irgendwelchen Verstecken, eine endlose Folge von falschen Namen und falschen Pässen, die nackte Furcht in der Stimme ihrer Mutter, wenn ihr Onkel auch nur erwähnt wurde, eine bleibende Erinnerung an Panik und Angst, eng verbunden mit dem Gefühl tiefer Trauer. Und dann natürlich der Traum. Der Traum war erbarmungslos. Und jetzt war sie also dort.
In den drei Wochen, seit sie in der Firma arbeitete, hatte sie absolut nichts erfahren, außer einer schwindelerregenden Menge von Informationen über die Regeln des Office of Foreign Asset Control, über Finanzkalkulationsprogramme, Vorlagen für Containertransportverträge und Websitewerkzeuge. Sie war eine schreckliche Lügnerin und hatte niemals das geringste Talent besessen, andere zu täuschen, was sich gerade als Nachteil herausstellte.
Sie musste sich, so gut sie konnte, durchkämpfen, während sie mit ihren Melonenstücken und Mini-Muffins herumbalancierte. Was für eine furchtlose, kühne Frau auf den Spuren der Wahrheit und Gerechtigkeit sie doch war. Wieder spürte sie dieses Prickeln, das über ihre Haut lief, während sie die Frischhaltefolie von einer Schale mit Frischkäse für die Bagels abzog.
Sie fuhr herum und ließ die Plastikschale fallen. Der Mann, den sie im Fahrstuhl gesehen hatte, stand in der Küchentür. Sie schluckte schwer.
Sie musste Kaffee und Mini-Muffins servieren, ermahnte sie sich. Sie hatte keine Zeit, sich von einem gierigen Piraten schänden zu lassen, egal wie sexy und unwiderstehlich er auch sein mochte.
»Haben Sie sich verlaufen?«, fragte sie höflich. »Kann ich Sie irgendwohin bringen?«
Sie spürte den heißen Blick des Mannes überall auf ihrem Körper wie starke, besitzergreifende Hände.
»Nein. Den Konferenzraum finde ich schon allein.« Seine tiefe Stimme strich sanft über ihre Nerven wie eine langsame, kribbelnde Berührung.
»Sie sind also ... äh ... wegen des Morgenmeetings hier«, stammelte sie.
»Ja.« Er betrat mit panthergleicher Grazie die Küche, bückte sich und nahm die Schale hoch. Dann richtete er sich auf und immer weiter auf und überragte ihre eins zweiundsechzig.
Er nahm eine Serviette von dem Tresen hinter ihr, wischte einen Fussel vom Frischkäse ab und hielt ihn ihr hin.
»Niemand wird es je erfahren«, versprach er sanft. »Das bleibt unser kleines Geheimnis.«
Sie nahm die Schale entgegen und wartete darauf, dass er einen Schritt zurücktrat. Doch das tat er nicht, bemerkte sie Sekunden später. Ganz im Gegenteil. Sie griff hinter sich, und irgendwie gelang es ihr, den Frischkäse dort ohne weitere Zwischenfälle auf dem Tablett zu platzieren.
Ihr Herz hämmerte wild. Sie konnte doch sonst auch lächeln, beschwor sie sich verzweifelt. Sie konnte auch flirten. Sie war schon ein großes Mädchen. Es war erlaubt.
Aber er stand so dicht vor ihr, seine Augen waren so heiß und hungrig. Die Intensität seiner maskulinen Energie lähmte sie. Sie war sprachlos, konnte nicht einmal Luft holen.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie im Fahrstuhl nervös gemacht habe.« Seine Stimme streichelte sie erneut so sanft wie Wildleder. »Sie haben mich überrascht, ich habe meine Manieren vergessen.«
Sie versuchte, sich am Küchentresen entlangzuschlängeln.
»Sie sind immer noch nicht sehr höflich«, erklärte sie. »Und ich bin immer noch nervös.«
»Ach ja?« Er legte beide Hände auf den Tresen und fing sie in einem knisternden Kraftfeld männlicher Hitze ein.
»Nun ja, und ich bin immer noch überrascht.« Er beugte sich vor. Sie fragte sich in einem kurzen Anflug von Panik, ob er sie küssen würde, aber er hielt Millimeter vor ihrem Haar inne und holte tief Luft.
»Sie duften wunderbar«, murmelte er. Sie drückte sich gegen den Tresen. Im Rücken spürte sie die Gewürzschublade.
»Ich benutze kein Parfum«, erwiderte sie tapfer. Er roch noch einmal an ihr und seufzte, sein warmer, duftender Atem strich über ihren Hals.
»Deswegen gefällt mir ihr Duft. Parfum überdeckt immer alles Gute. Ihr Haar, ihre Haut. Frisch und süß und heiß. Wie Blumen in der Sonne.«
Das konnte doch nicht tatsächlich passieren. Manchmal schien ihre Traumwelt wirklicher zu sein als die Realität, und dieser unaussprechlich kühne, gut aussehende Mann gehörte in eine ihrer eher unpassenden Traumszenarios, zusammen mit Einhörnern und Zentauren, Dämonen und Drachen. Unergründlichen Kreaturen, frei von Gesetzen und Grenzen der Sterblichen, umgeben von einem wilden Zauber. Und von tödlicher Gefahr.
Sie blinzelte. Er war immer noch da. Und zwar in einer überwältigenden Art und Weise. Auch der Griff der Schublade drückte sich immer noch unangenehm in ihren Rücken. Er war sehr real und keineswegs im Begriff, sich in eine Rauchwolke aufzulösen.
Sie musste sich mit ihm auseinandersetzen.
»Das ist ... unpassend«, sagte sie leise und atemlos.
»Ich kenne Sie nicht einmal. Bitte treten Sie einen Schritt zurück und lassen Sie mir etwas Luft zum Atmen.«
Nur zögernd wich er zurück.
»Tut mir leid«, sagte er, und es klang überhaupt nicht entschuldigend.
»Ich musste ihn mir einfach einprägen.«
»Was einprägen?«
»Ihren Duft«, erwiderte er, als sei das völlig offensichtlich. Raine starrte ihn mit offenem Mund an, und ihr war nur allzu bewusst, wie sich ihre Brustwarzen am Stoff ihres BHs rieben, wie die Seide ihrer Bluse über ihre Haut glitt, wenn sie atmete.
Ihr Gesicht war heiß, ihre Lippen fühlten sich geschwollen an. Ihre Knie zitterten. Sein Blick schien irgendetwas, das tief in ihrem Innern saß, zu berühren, einen unerforschten, verborgenen Ort, der unter seinem Blick Knospen zu treiben und zu erblühen schien und der verbunden war mit einer schmerzenden, namenlosen Sehnsucht.
Nein. Diese Sehnsucht war nicht namenlos. Sie war geil, wurde ihr blitzartig klar, und sie schämte sich entsetzlich. Sexuell erregt von einem vollkommen Fremden, mitten in der Personalküche von Lazar Import und Export, und er hatte sie noch nicht einmal berührt. Das war genau der passende Zeitpunkt für ihre schlummernde Erotik, um sich mal wieder zu melden. Ihr Timing war schon immer beschissen gewesen.
»Ah. Mr Mackey nehme ich an.« Beim Klang von Victor Lazars kühler, ironischer Stimme fuhr Raine herum. Er lehnte in der Küchentür und betrachtete die Szene mit seinen silbergrauen Augen, denen kein Detail entging. Der Pirat nickte ihm höflich zu.
»Mr Lazar. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Die Worte und auch der Tonfall waren höflich, aber die raue Sanftheit, die seine Stimme ausgezeichnet hatte, war verschwunden. Sie klang jetzt klar und hart wie Glas. Victor lächelte und musterte ihn kühl.
»Sie kennen meine Assistentin?«
»Aus dem Fahrstuhl«, erwiderte der Pirat. Victors Blick glitt von ihm zu Raine und blieb drei endlose Sekunden auf ihrem heißen Gesicht liegen.
»Ich verstehe«, murmelte er. »Also gut. Da Sie nun hier sind ... wollen wir dann? Die anderen warten.«
»Selbstverständlich.« Spannung lag in der Luft. Die beiden Männer betrachteten einander und lächelten beide nichtssagend und undurchdringlich. Normalerweise sprangen alle sofort, wenn Lazar auch nur den leisesten Wunsch äußerte, aber dieser dunkle Fremde folgte seiner eigenen Erdanziehungskraft. Er würde sich nur bewegen, wenn es ihm gefiel und keine Sekunde früher.
Raine war gefangen zwischen den beiden und wagte es nicht, einen Schritt zu tun. Ein leicht amüsiertes Lächeln glitt über Victors Gesicht.
»Hier entlang, Mr Mackey«, sagte er, als wolle er mit einem kleinen Kind scherzen. »Raine, bitte bringen Sie das Frühstück. Wir haben einen Menge zu besprechen.«
Der Pirat warf ihr einen letzten heißen und genießerischen Blick zu, während er Lazar aus der Küche folgte. Nicht rot werden und nicht rumstottern, ermahnte sie sich streng, während sie die silbernen Kannen mit Kaffee und Tee füllte.
Nicht über den Teppich stolpern und nicht gegen Türen laufen. Sie musste lernen, spielend mit solchen Situationen fertig zu werden. Und obwohl sie in das Szenario ihrer Mission keine knisternde Affäre eingeplant hatte, war das eigentlich gar keine so schlechte Idee. Dieser wunderbare, rebellische Gedanke ließ ihr vor lauter Panik die Knie weich werden.
Sie blieb auf dem Flur stehen und beruhigte sich erst einmal, während ihr die Arme zitterten, weil das Tablett so schwer war. Vielleicht konnte sie sich mit einer solchen für sie uncharakteristischen Kühnheit beweisen, dass sie tatsächlich den Mut hatte zu handeln, statt immer nur auf andere zu reagieren. Vielleicht wäre es gut, nicht nur für sie, sondern auch für ihr Vorhaben. Um diese unmögliche Aufgabe zu bewältigen, musste sie ohnehin zu einem völlig anderen Menschen werden. Kühn, furchtlos, skrupellos.
Wo konnte sie besser damit anfangen als in ihrem Sexleben? Das musste sowieso mal gründlich überholt werden. Sie setzte ein Geisha-Lächeln auf und stieß mit dem Fuß die Tür zum Konferenzraum auf. Außer Victor und dem Piraten befanden sich noch mehrere Leute im Raum. Sie lächelte jeden von ihnen an, während sie Kaffee und Tee ausschenkte, aber sie achtete darauf, den Piraten nicht anzusehen, als sie ihm seine Tasse gab.
Nur ein kurzer Blick auf seine langen, eleganten braunen Finger, als er ihr die Tasse abnahm, ließ ihr Herz bereits schneller schlagen. Die Gespräche im Raum verschmolzen zu einem unverständlichen Hintergrundrauschen. Sie konzentrierte sich darauf, zumindest den Sinn zu erfassen. Jede noch so kleine Information konnte sich als nützlich für ihr Vorhaben erweisen.
Der Pirat sprach über Transponder, die Identifizierung von Funkfrequenzen, das Sammeln von Daten, intelligente Labels und Datenschlüssel und Programmzyklen. GPS-Verfolgung, DatenStreaming, kabellose Modems. Kalter technischer Kram, der sie noch nie interessiert hatte. Aber seine Stimme war so tief und vibrierend und sexy. Ihr Nacken prickelte, als würde er ihn mit seinen Händen, mit seinen Lippen, mit seinem warmen Atem streicheln. Es war unglaublich schwer, sich zu konzentrieren. Ihr eigener Name ließ sie aufschrecken, sodass die Tasse, die sie hielt, auf der Untertasse klapperte. »... nehme ich an, dass es passt, Raine. Bitte sagen Sie Harriet Bescheid«, erklärte Victor gerade. Raine schluckte und stellte die Tasse behutsam neben Victors Ellbogen.
»Ihr inwiefern ... äh ... Bescheid sagen?«
Ungeduld zeigte sich auf Victors breitem, gut aussehendem Gesicht.
»Bitte passen Sie auf! Sie werden Mr Mackey und mich morgen auf eine Tour zu den Renton-Lagerhäusern begleiten. Halten Sie sich ab drei bereit.«
Sein Gesicht ähnelte von Nahem so sehr dem ihres Vaters, aber es war härter, kantiger. Sein kurzes Haar wirkte überraschend weiß gegen seine olivfarbene Haut. Ihr Vater hatte nicht lange genug gelebt, dass sein Haar noch hätte weiß werden können.
»Ich?«, flüsterte sie.
»Ist das ein Problem?« Victors Stimme war seidenweich. Schnell schüttelte sie den Kopf.
»Ah ... nein. Selbstverständlich nicht.« Victor lächelte, und ein Schauder der Furcht lief ihr über den Rücken.
»Ausgezeichnet«, sagte er leise. Sie murmelte etwas Zustimmendes und floh, stolperte zwischen den Arbeitsplätzen hindurch bis auf die Damentoilette. Sie versteckte sich in der hintersten Kabine, presste ihr heißes Gesicht gegen die Knie und umfasste ihre Beine, während sie versuchte, das heftige Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Sie sah das Gesicht ihres Vaters so klar vor sich, als wären nicht schon siebzehn Jahre seit seinem Tod vergangen. So sanft, ein Mann der leisen Töne.
Der Gedichte las, ihr Geschichten erzählte. Der ihr wunderschöne Bilder in seinen Monografien über die Kunst der Renaissance zeigte. Der ihr beibrachte, Bäume und Wildblumen zu erkennen. Manchmal besuchte er sie in ihren Träumen, und wenn er das tat, wachte sie auf und vermisste ihn so sehr, dass sie glaubte, ihr Herz würde unter dem Druck wie Glas zersplittern.
Jetzt krieg dich endlich in den Griff, ermahnte sie sich wütend. Sie sollte feiern und keinen Nervenzusammenbruch auf der Toilette bekommen. Dies war die Chance für die Piratenkönigin zu zeigen, was sie konnte. Aber mehr und mehr fühlte sie sich wie das hilflose Wesen in ihrem Traum. Sie schwamm nackt und gefangen in endlosen Kreisen durch ihre durchsichtige begrenzte Welt.
Blind gegenüber möglichen Konsequenzen, aber immer verfolgt vom Schatten des nahenden Untergangs.
© 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Der Aquariumtraum war um einiges weniger anstrengend als der Traum von dem blutenden Grabstein. Aus ihm wachte sie wenigstens nicht nach Luft ringend und mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen auf, voller Trauer um ihren verstorbenen Vater. Trotzdem, der Schädel und die gekreuzten Knochen beunruhigten sie. In ihren wiederkehrenden Träumen gab es immer irgendwelche Bilder, die für den Tod standen. Glückliches Mädchen, dachte sie mit grimmigem Vergnügen. So fängt man den Tag richtig an ... mit einem bluttriefenden Dolch, einem Nest voller Schlangen oder einem Atompilz.
Der tägliche Schrei, mit dem sie Adrenalin in ihren Körper pumpte, war besser als Kaffee. Ihr Magen flatterte, als sie in die Parkgarage des Gebäudes fuhr, in dem sich die Firmenbüros befanden. Jeremy, der stets zu einem Flirt aufgelegte Parkwächter, zwinkerte ihr zu und winkte, während ihr nur ein mattes Lächeln gelang. Sie hatte ihren Job bei Lazar Import und Export unter falschen Voraussetzungen bekommen, und mit jedem Tag zahlte sie einen höheren Preis für diesen Betrug. Sie hatte die riesige Firma, die in vielen unterschiedlichen Bereichen tätig war, bis in den letzten Winkel durchleuchtet und ihren Lebenslauf so angepasst, dass er dem Personalchef gefallen musste. Sie beruhigte ihr schlechtes Gewissen, indem sie sich sagte, dass sie im Recht war und alles einer gerechten Sache diente.
Trotzdem hatte Raine noch nie gut lügen können. Eine Kleinigkeit zum Frühstück würde jetzt helfen, aber dafür war keine Zeit, nicht mal für ein Stück Gebäck. Bei Lazar Import und Export musste man weiß Gott schon hart genug arbeiten, auch wenn man nicht ständig lügen musste. Es war der mieseste und tückischste Arbeitsplatz, den sie je erlebt hatte. Jederzeit musste man damit rechnen, ein Messer in den Rücken gerammt zu bekommen.
Zudem bestand nicht die geringste Chance, Freundschaften mit Kollegen zu knüpfen. Kritisch betrachtete sie ihr Spiegelbild in den auf Hochglanz polierten Wänden des Fahrstuhls. Sie hatte abgenommen. Ihr Rock saß zu tief auf den Hüften. Aber wer hatte bei Lazar schon Zeit, etwas zu essen? Sie konnte schon von Glück sagen, wenn sie im Laufe des Tages eine Sekunde Zeit fand, um zu pinkeln. Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und verkündete dies mit einem Ping, als sie gerade noch einmal ihre Lippen nachzog.
Die Tür glitt auf, ein Mann kam herein, und die Tür schloss sich wieder hinter ihm. Die Kabine schien plötzlich sehr eng zu sein. Sie steckte den Lippenstift wieder in ihre Handtasche, und ein leichtes Kribbeln lief über ihre Haut, wie eine Brise, die durchs hohe Gras raschelte. Sie achtete darauf, ihn nicht direkt anzusehen, wie es sich in einem Fahrstuhl gehörte, aber aus den Augenwinkeln konnte sie trotzdem einen flüchtigen Eindruck gewinnen. Er war groß, vielleicht etwas über eins achtzig. Schlank. Dunkel gebräunte Haut. Sie warf einen flüchtigen Blick auf seine großen Hände, die aus den weißen Manschetten seines Anzugs hervorschauten seines sehr eleganten und teuren Anzugs. Wahrscheinlich Armani, dachte sie und warf einen Blick auf den Schnitt seiner Ärmel.
Ein Sommer in Barcelona mit diesem schamlosen Modepüppchen Juan Carlos hatte sie eine Menge Feinheiten über Männermode gelehrt.
Der Mann sah sie an. Sie spürte den Druck und die Hitze seines Blicks auf der Seite ihres Gesichts. Sie hätte ihn direkt ansehen müssen, um sicher zu sein. Und zum ersten Mal war ihre Neugier stärker als ihre Furcht. Vielleicht waren es der Totenschädel und die gekreuzten Knochen aus ihrem Traum, die sie überhaupt erst auf den Gedanken brachten, aber das Bild tauchte sofort vor ihrem geistigen Auge auf, als sie den Blick hob, um ihn anzusehen.
Er hatte das Gesicht eines Piraten. Er war nicht im klassischen Sinne schön. Seine Züge waren zu grob und kantig, seine Nase uneben und schief. Das tiefschwarze Haar war kurz geschnitten. Es stand steil in die Luft wie eine schwarze Scheuerbürste aus Samt. Seine breiten Wangenknochen stachen hervor, und es lagen tiefe Höhlungen darunter. Die Augenbrauen waren dick, mit schwarzen Wimpern darunter, und sein Mund war sowohl grimmig als auch sinnlich.
Aber es waren seine Augen, die ihr einen Schock versetzten. Sie waren schwarz, mit schweren Lidern, und wirkten ausgesprochen exotisch. Sie starrten sie mit brennender Intensität an. Es waren die Augen eines Seeräubers auf Kaperfahrt.
Sein Blick glitt über ihren Körper, als könne er durch ihr klassisches graues Kostüm hindurchsehen, durch ihre Bluse, ihre Unterwäsche direkt bis zu ihrem bebenden Fleisch. Seine Musterung war frech und arrogant, als habe er jedes Recht, sie anzustarren. So wie ein Piratenkapitän vielleicht seine hilflose Gefangene betrachtete ... bevor er sie zu weiteren Vergnügungen mit in seine Kabine zerrte. Raine riss ihren Blick los.
Ihre übersprudelnde Fantasie ging sofort mit ihr durch und tauschte den Armanianzug gegen ein Piratenoutfit: weite Bluse, enge Kniebundhosen, in denen sich deutlich sein ... seine Ausstattung abzeichnete, ein Enterschwert, das in einer roten Schärpe steckte, und ein goldener Ring im Ohr. Es war lächerlich, aber Hitze stieg in ihr auf, und sie wurde nervös. Sie musste unbedingt aus diesem Fahrstuhl raus, bevor noch die spiegelnden Wände beschlugen. Zu ihrer ungeheuren Erleichterung hielt der Lift im sechsundzwanzigsten Stock, und die Türen öffneten sich.
Sie stürzte hinaus und prallte gegen den Mann, der draußen stand und einsteigen wollte. Sie murmelte eine zusammenhanglose Entschuldigung und eilte in Richtung des Treppenhauses. Wenn sie zu Fuß ging, würde sie zwar zu spät kommen, aber sie konnte sich unterwegs wieder etwas fangen. Oh Gott, wie armselig und wie typisch.
Ein heißer Typ starrte sie im Fahrstuhl an, und sie zerfloss gleich wie eine verängstigte Jungfrau. Sie hatte die einmalige Chance ihres Lebens verpasst, von einem Piraten geschändet zu werden. Kein Wunder, dass sie kein Liebesleben hatte. Sie sabotierte es ja schon, bevor es überhaupt anfangen konnte. Jedes verdammte Mal.
Der Arbeitstag begann Unheil verheißend. Harriet, die Büromanagerin, kam vorbeigefegt, während Raine ihren Mantel aufhängte.
Harriets schmales Gesicht war ganz verkniffen vor lauter Missfallen.
»Ich hatte Sie früher erwartet«, bemerkte sie schnippisch. Raine warf einen Blick auf die Uhr. Es war 7:32 Uhr.
»Aber ich ... es ist nur ...«
»Sie wissen genau, dass der aktualisierte Report über die Befolgung der OFAC-Richtlinien um zwölf Uhr fertig und mit FedEx aus dem Haus sein muss! Und wir haben immer noch keine Antwort von der Banque Intercontinentale Arabe über die eingefrorenen Subventionen für die Weinlieferungen. In Paris ist es bereits 16:30 Uhr, und unsere Lieferanten trommeln bereits mit den Fingern. Irgendjemand muss die Bestellung für die brasilianischen Espressobohnen verhandeln, und Sie sind im Moment die Einzige im Büro, die halbwegs vernünftig Portugiesisch spricht. Und gar nicht erwähnen will ich die Tatsache, dass die neuen Seiten der Website noch nicht fertig sind. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie auch ein bisschen Verantwortung für Ihre Arbeit übernehmen, Raine. Ich kann mich nicht um alles kümmern.«
Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte Raine eine Entschuldigung, setzte sich und tippte den Code ein, der die Voicemail an ihrem Telefon abschaltete.
»Und noch etwas. Mr Lazar möchte, dass Sie beim Morgenmeeting Kaffee, Tee und Gebäck servieren«, fuhr Harriet fort. Entsetzt sprang Raine auf.
»Ich?« Harriet verzog die Lippen. »Ich habe mich nicht besonders darauf gefreut, ihm zu sagen, dass Sie zu spät sind.«
Raines Magen zog sich zusammen.
»Aber er hat niemals ... Stefania hat immer ...«
»Er will Sie«, unterbrach Harriet. »Und was er will, das bekommt er. Der Kaffee kocht schon, was allerdings nicht Ihnen zu verdanken ist, und der Caterer hat gerade das Essen gebracht. Es steht in der Küche. Das Porzellan und das Silberbesteck befinden sich bereits auf dem Konferenztisch.« Stefania steckte den Kopf in Raines Arbeitsnische.
»Achte darauf, dass du die Choreografie des Geisha-Girls absolut perfekt bringst«, riet sie ihr. »Bei Lazar muss das ästhetisch perfekt sein. Ein Tropfen Kaffee daneben, und du bist erledigt.«
Sie musterte Raine mit einem kritischen Blick.
»Und frisch noch einmal dein Make-up auf. Dein linkes Auge ist verschmiert. Hier, komm, nimm meinen Lippenstift.«
Raine starrte auf den kleinen Stift, sprachlos vor Bestürzung. Es war das erste Mal, dass Victor Lazar öffentlich ihre Existenz anerkannt hatte. Sie hatte ihn natürlich schon gesehen. Es war auch unmöglich, ihn zu übersehen. Wie ein Sturm fegte er durch das Büro, trieb Leute vor sich her und zerrte andere hinterdrein.
Er war so dynamisch und einschüchternd, wie sie ihn aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte, allerdings nicht so groß. Als sie ihm das erste Mal nach all den Jahren wieder begegnet war, waren seine durchdringenden grauen Augen über sie hinweggeglitten, ohne sie zu beachten.
Vor Erleichterung hatte sie weiche Knie bekommen. Offensichtlich sah er keine Verbindung zwischen der neuen Vorstandsassistentin und seiner kleinen, elf Jahre alten Nichte mit den weißblonden Zöpfen, die er seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gott sei Dank. Sein plötzliches Interesse an ihr kam ihr jedoch unheimlich vor.
»Machen Sie schnell, Raine! Das Meeting war für 7:45 Uhr angesetzt!«
Harriets rasiermesserscharfer Ton riss sie aus ihren Gedanken. Mit klopfendem Herzen hastete sie in die Küche. Es war nichts Besonderes, versuchte sie sich einzureden, während sie das Essen auspackte. Sie servierte Kaffee, Croissants, Bagles, MiniMuffins und Obst. Sie würde lächeln, hübsch aussehen und sich dann graziös zurückziehen, um Lazar und seine Klienten ihren Geschäften zu überlassen. Schließlich ging es nicht um eine mündliche Prüfung.
Natürlich nicht, meldete sich da die kleine sarkastische Stimme in ihrem Hinterkopf. Er ist nur der Mörder deines Vaters, höchstpersönlich und in deiner Reichweite. Also wirklich keine große Sache. Sie goss sich eine Tasse von dem starken Kaffee ein, den es immer in der Personalküche gab, und trank ihn so schnell, dass sie sich Mund und Kehle verbrannte.
Um das Ganze wirklich durchstehen zu können, würde sie sich ein Metallrückgrat einoperieren lassen müssen. Sie sollte froh sein, dass Victor sie bemerkt hatte. Sie musste nahe an ihn herankommen, wenn sie Nachforschungen zum Tod ihres Vaters anstellen wollte. Deswegen hatte sie diesen albtraumhaften Job überhaupt angenommen, deswegen lebte sie dieses surreale Leben.
Der Traum von dem weinenden Grabstein hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Jahrelang hatte sie versucht, diesen teuflischen Traum zu enträtseln.
Ein Dutzend logischer Erklärungen waren ihr eingefallen: Sie vermisste ihren Vater, trug verdrängten Groll über seinen Tod mit sich herum, brauchte einen Sündenbock et cetera. Sie hatte sich mit Traumpsychologie beschäftigt, eine Psychotherapie gemacht, kreative Visualisierung versucht, Hypnose, Yoga, jede Stress lösende Technik, die sie hatte auftreiben können, aber der Traum war geblieben.
Er brannte in ihren Gedanken, drückte sie nieder und sabotierte jeden Versuch, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Vor einem Jahr hatte sie ihn dann jede Nacht geträumt, sie war völlig daran verzweifelt. Sie hatte Angst gehabt, ins Bett zu gehen, obwohl sie hundemüde war. Sie hatte versucht, sich mit Schlaftabletten ins Koma zu versetzen, ertrug aber die Kopfschmerzen nicht, die am nächsten Tag folgten. Sie war mit ihrer Weisheit am Ende und merkte, dass ihr Leben vollkommen zum Stillstand gekommen war bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag um drei Uhr morgens. Sie hatte plötzlich aufrecht im Bett gesessen, mit rasendem Herzen, und hatte mit verweinten, brennenden Augen in die Dunkelheit gestarrt, während sie immer noch die grausame Kraft von Victors Arm spürte, der sie um die Schultern gepackt hielt.
Als das Licht der aufgehenden Sonne die Fenster ihres Schlafzimmers langsam in ein helles Grau getaucht hatte, war sie endlich bereit gewesen nachzugeben. Der Traum wollte sie dazu bringen, etwas zu tun, und sie würde sich nicht länger weigern. Denn wenn sie es tat, würde sie irgendwann daran zerbrechen. Natürlich hatte sie keinerlei Beweise. Die Akte zu den Ereignissen war eindeutig und schlüssig.
Ihr Vater war bei einem Segelbootunfall ums Leben gekommen. Victor war auf einer Geschäftsreise im Ausland gewesen, und Raines Mutter hatte behauptet, dass sie und Raine zu jener Zeit in Italien gewesen waren, und sich geweigert, weiter über die Sache zu sprechen. Als Raine sechzehn war, hatte sie ihre Mutter einmal gefragt, ob sie glaube, dass der Tod ihres ersten Mannes ein Unfall gewesen sei.
Ihre Mutter hatte sie hart ins Gesicht geschlagen, war dann in einen lautstarken Weinkrampf ausgebrochen und hatte ihre erschrockene Tochter in die Arme gezogen und sie um Vergebung gebeten.
»Natürlich ist es ein Unfall gewesen, Honey. Natürlich war es das«, hatte sie mit gebrochener Stimme wiederholt. »Lass es gut sein. Vergangenheit bleibt Vergangenheit. Es tut mir so leid.«
Raine hatte das verbotene Thema niemals wieder angesprochen, aber dieses Schweigen über die Vergangenheit hatte ihr immer irgendwie den Atem genommen. Sie hatte so wenig in der Hand. Jahrelang auf der Flucht und immer in irgendwelchen Verstecken, eine endlose Folge von falschen Namen und falschen Pässen, die nackte Furcht in der Stimme ihrer Mutter, wenn ihr Onkel auch nur erwähnt wurde, eine bleibende Erinnerung an Panik und Angst, eng verbunden mit dem Gefühl tiefer Trauer. Und dann natürlich der Traum. Der Traum war erbarmungslos. Und jetzt war sie also dort.
In den drei Wochen, seit sie in der Firma arbeitete, hatte sie absolut nichts erfahren, außer einer schwindelerregenden Menge von Informationen über die Regeln des Office of Foreign Asset Control, über Finanzkalkulationsprogramme, Vorlagen für Containertransportverträge und Websitewerkzeuge. Sie war eine schreckliche Lügnerin und hatte niemals das geringste Talent besessen, andere zu täuschen, was sich gerade als Nachteil herausstellte.
Sie musste sich, so gut sie konnte, durchkämpfen, während sie mit ihren Melonenstücken und Mini-Muffins herumbalancierte. Was für eine furchtlose, kühne Frau auf den Spuren der Wahrheit und Gerechtigkeit sie doch war. Wieder spürte sie dieses Prickeln, das über ihre Haut lief, während sie die Frischhaltefolie von einer Schale mit Frischkäse für die Bagels abzog.
Sie fuhr herum und ließ die Plastikschale fallen. Der Mann, den sie im Fahrstuhl gesehen hatte, stand in der Küchentür. Sie schluckte schwer.
Sie musste Kaffee und Mini-Muffins servieren, ermahnte sie sich. Sie hatte keine Zeit, sich von einem gierigen Piraten schänden zu lassen, egal wie sexy und unwiderstehlich er auch sein mochte.
»Haben Sie sich verlaufen?«, fragte sie höflich. »Kann ich Sie irgendwohin bringen?«
Sie spürte den heißen Blick des Mannes überall auf ihrem Körper wie starke, besitzergreifende Hände.
»Nein. Den Konferenzraum finde ich schon allein.« Seine tiefe Stimme strich sanft über ihre Nerven wie eine langsame, kribbelnde Berührung.
»Sie sind also ... äh ... wegen des Morgenmeetings hier«, stammelte sie.
»Ja.« Er betrat mit panthergleicher Grazie die Küche, bückte sich und nahm die Schale hoch. Dann richtete er sich auf und immer weiter auf und überragte ihre eins zweiundsechzig.
Er nahm eine Serviette von dem Tresen hinter ihr, wischte einen Fussel vom Frischkäse ab und hielt ihn ihr hin.
»Niemand wird es je erfahren«, versprach er sanft. »Das bleibt unser kleines Geheimnis.«
Sie nahm die Schale entgegen und wartete darauf, dass er einen Schritt zurücktrat. Doch das tat er nicht, bemerkte sie Sekunden später. Ganz im Gegenteil. Sie griff hinter sich, und irgendwie gelang es ihr, den Frischkäse dort ohne weitere Zwischenfälle auf dem Tablett zu platzieren.
Ihr Herz hämmerte wild. Sie konnte doch sonst auch lächeln, beschwor sie sich verzweifelt. Sie konnte auch flirten. Sie war schon ein großes Mädchen. Es war erlaubt.
Aber er stand so dicht vor ihr, seine Augen waren so heiß und hungrig. Die Intensität seiner maskulinen Energie lähmte sie. Sie war sprachlos, konnte nicht einmal Luft holen.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie im Fahrstuhl nervös gemacht habe.« Seine Stimme streichelte sie erneut so sanft wie Wildleder. »Sie haben mich überrascht, ich habe meine Manieren vergessen.«
Sie versuchte, sich am Küchentresen entlangzuschlängeln.
»Sie sind immer noch nicht sehr höflich«, erklärte sie. »Und ich bin immer noch nervös.«
»Ach ja?« Er legte beide Hände auf den Tresen und fing sie in einem knisternden Kraftfeld männlicher Hitze ein.
»Nun ja, und ich bin immer noch überrascht.« Er beugte sich vor. Sie fragte sich in einem kurzen Anflug von Panik, ob er sie küssen würde, aber er hielt Millimeter vor ihrem Haar inne und holte tief Luft.
»Sie duften wunderbar«, murmelte er. Sie drückte sich gegen den Tresen. Im Rücken spürte sie die Gewürzschublade.
»Ich benutze kein Parfum«, erwiderte sie tapfer. Er roch noch einmal an ihr und seufzte, sein warmer, duftender Atem strich über ihren Hals.
»Deswegen gefällt mir ihr Duft. Parfum überdeckt immer alles Gute. Ihr Haar, ihre Haut. Frisch und süß und heiß. Wie Blumen in der Sonne.«
Das konnte doch nicht tatsächlich passieren. Manchmal schien ihre Traumwelt wirklicher zu sein als die Realität, und dieser unaussprechlich kühne, gut aussehende Mann gehörte in eine ihrer eher unpassenden Traumszenarios, zusammen mit Einhörnern und Zentauren, Dämonen und Drachen. Unergründlichen Kreaturen, frei von Gesetzen und Grenzen der Sterblichen, umgeben von einem wilden Zauber. Und von tödlicher Gefahr.
Sie blinzelte. Er war immer noch da. Und zwar in einer überwältigenden Art und Weise. Auch der Griff der Schublade drückte sich immer noch unangenehm in ihren Rücken. Er war sehr real und keineswegs im Begriff, sich in eine Rauchwolke aufzulösen.
Sie musste sich mit ihm auseinandersetzen.
»Das ist ... unpassend«, sagte sie leise und atemlos.
»Ich kenne Sie nicht einmal. Bitte treten Sie einen Schritt zurück und lassen Sie mir etwas Luft zum Atmen.«
Nur zögernd wich er zurück.
»Tut mir leid«, sagte er, und es klang überhaupt nicht entschuldigend.
»Ich musste ihn mir einfach einprägen.«
»Was einprägen?«
»Ihren Duft«, erwiderte er, als sei das völlig offensichtlich. Raine starrte ihn mit offenem Mund an, und ihr war nur allzu bewusst, wie sich ihre Brustwarzen am Stoff ihres BHs rieben, wie die Seide ihrer Bluse über ihre Haut glitt, wenn sie atmete.
Ihr Gesicht war heiß, ihre Lippen fühlten sich geschwollen an. Ihre Knie zitterten. Sein Blick schien irgendetwas, das tief in ihrem Innern saß, zu berühren, einen unerforschten, verborgenen Ort, der unter seinem Blick Knospen zu treiben und zu erblühen schien und der verbunden war mit einer schmerzenden, namenlosen Sehnsucht.
Nein. Diese Sehnsucht war nicht namenlos. Sie war geil, wurde ihr blitzartig klar, und sie schämte sich entsetzlich. Sexuell erregt von einem vollkommen Fremden, mitten in der Personalküche von Lazar Import und Export, und er hatte sie noch nicht einmal berührt. Das war genau der passende Zeitpunkt für ihre schlummernde Erotik, um sich mal wieder zu melden. Ihr Timing war schon immer beschissen gewesen.
»Ah. Mr Mackey nehme ich an.« Beim Klang von Victor Lazars kühler, ironischer Stimme fuhr Raine herum. Er lehnte in der Küchentür und betrachtete die Szene mit seinen silbergrauen Augen, denen kein Detail entging. Der Pirat nickte ihm höflich zu.
»Mr Lazar. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Die Worte und auch der Tonfall waren höflich, aber die raue Sanftheit, die seine Stimme ausgezeichnet hatte, war verschwunden. Sie klang jetzt klar und hart wie Glas. Victor lächelte und musterte ihn kühl.
»Sie kennen meine Assistentin?«
»Aus dem Fahrstuhl«, erwiderte der Pirat. Victors Blick glitt von ihm zu Raine und blieb drei endlose Sekunden auf ihrem heißen Gesicht liegen.
»Ich verstehe«, murmelte er. »Also gut. Da Sie nun hier sind ... wollen wir dann? Die anderen warten.«
»Selbstverständlich.« Spannung lag in der Luft. Die beiden Männer betrachteten einander und lächelten beide nichtssagend und undurchdringlich. Normalerweise sprangen alle sofort, wenn Lazar auch nur den leisesten Wunsch äußerte, aber dieser dunkle Fremde folgte seiner eigenen Erdanziehungskraft. Er würde sich nur bewegen, wenn es ihm gefiel und keine Sekunde früher.
Raine war gefangen zwischen den beiden und wagte es nicht, einen Schritt zu tun. Ein leicht amüsiertes Lächeln glitt über Victors Gesicht.
»Hier entlang, Mr Mackey«, sagte er, als wolle er mit einem kleinen Kind scherzen. »Raine, bitte bringen Sie das Frühstück. Wir haben einen Menge zu besprechen.«
Der Pirat warf ihr einen letzten heißen und genießerischen Blick zu, während er Lazar aus der Küche folgte. Nicht rot werden und nicht rumstottern, ermahnte sie sich streng, während sie die silbernen Kannen mit Kaffee und Tee füllte.
Nicht über den Teppich stolpern und nicht gegen Türen laufen. Sie musste lernen, spielend mit solchen Situationen fertig zu werden. Und obwohl sie in das Szenario ihrer Mission keine knisternde Affäre eingeplant hatte, war das eigentlich gar keine so schlechte Idee. Dieser wunderbare, rebellische Gedanke ließ ihr vor lauter Panik die Knie weich werden.
Sie blieb auf dem Flur stehen und beruhigte sich erst einmal, während ihr die Arme zitterten, weil das Tablett so schwer war. Vielleicht konnte sie sich mit einer solchen für sie uncharakteristischen Kühnheit beweisen, dass sie tatsächlich den Mut hatte zu handeln, statt immer nur auf andere zu reagieren. Vielleicht wäre es gut, nicht nur für sie, sondern auch für ihr Vorhaben. Um diese unmögliche Aufgabe zu bewältigen, musste sie ohnehin zu einem völlig anderen Menschen werden. Kühn, furchtlos, skrupellos.
Wo konnte sie besser damit anfangen als in ihrem Sexleben? Das musste sowieso mal gründlich überholt werden. Sie setzte ein Geisha-Lächeln auf und stieß mit dem Fuß die Tür zum Konferenzraum auf. Außer Victor und dem Piraten befanden sich noch mehrere Leute im Raum. Sie lächelte jeden von ihnen an, während sie Kaffee und Tee ausschenkte, aber sie achtete darauf, den Piraten nicht anzusehen, als sie ihm seine Tasse gab.
Nur ein kurzer Blick auf seine langen, eleganten braunen Finger, als er ihr die Tasse abnahm, ließ ihr Herz bereits schneller schlagen. Die Gespräche im Raum verschmolzen zu einem unverständlichen Hintergrundrauschen. Sie konzentrierte sich darauf, zumindest den Sinn zu erfassen. Jede noch so kleine Information konnte sich als nützlich für ihr Vorhaben erweisen.
Der Pirat sprach über Transponder, die Identifizierung von Funkfrequenzen, das Sammeln von Daten, intelligente Labels und Datenschlüssel und Programmzyklen. GPS-Verfolgung, DatenStreaming, kabellose Modems. Kalter technischer Kram, der sie noch nie interessiert hatte. Aber seine Stimme war so tief und vibrierend und sexy. Ihr Nacken prickelte, als würde er ihn mit seinen Händen, mit seinen Lippen, mit seinem warmen Atem streicheln. Es war unglaublich schwer, sich zu konzentrieren. Ihr eigener Name ließ sie aufschrecken, sodass die Tasse, die sie hielt, auf der Untertasse klapperte. »... nehme ich an, dass es passt, Raine. Bitte sagen Sie Harriet Bescheid«, erklärte Victor gerade. Raine schluckte und stellte die Tasse behutsam neben Victors Ellbogen.
»Ihr inwiefern ... äh ... Bescheid sagen?«
Ungeduld zeigte sich auf Victors breitem, gut aussehendem Gesicht.
»Bitte passen Sie auf! Sie werden Mr Mackey und mich morgen auf eine Tour zu den Renton-Lagerhäusern begleiten. Halten Sie sich ab drei bereit.«
Sein Gesicht ähnelte von Nahem so sehr dem ihres Vaters, aber es war härter, kantiger. Sein kurzes Haar wirkte überraschend weiß gegen seine olivfarbene Haut. Ihr Vater hatte nicht lange genug gelebt, dass sein Haar noch hätte weiß werden können.
»Ich?«, flüsterte sie.
»Ist das ein Problem?« Victors Stimme war seidenweich. Schnell schüttelte sie den Kopf.
»Ah ... nein. Selbstverständlich nicht.« Victor lächelte, und ein Schauder der Furcht lief ihr über den Rücken.
»Ausgezeichnet«, sagte er leise. Sie murmelte etwas Zustimmendes und floh, stolperte zwischen den Arbeitsplätzen hindurch bis auf die Damentoilette. Sie versteckte sich in der hintersten Kabine, presste ihr heißes Gesicht gegen die Knie und umfasste ihre Beine, während sie versuchte, das heftige Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Sie sah das Gesicht ihres Vaters so klar vor sich, als wären nicht schon siebzehn Jahre seit seinem Tod vergangen. So sanft, ein Mann der leisen Töne.
Der Gedichte las, ihr Geschichten erzählte. Der ihr wunderschöne Bilder in seinen Monografien über die Kunst der Renaissance zeigte. Der ihr beibrachte, Bäume und Wildblumen zu erkennen. Manchmal besuchte er sie in ihren Träumen, und wenn er das tat, wachte sie auf und vermisste ihn so sehr, dass sie glaubte, ihr Herz würde unter dem Druck wie Glas zersplittern.
Jetzt krieg dich endlich in den Griff, ermahnte sie sich wütend. Sie sollte feiern und keinen Nervenzusammenbruch auf der Toilette bekommen. Dies war die Chance für die Piratenkönigin zu zeigen, was sie konnte. Aber mehr und mehr fühlte sie sich wie das hilflose Wesen in ihrem Traum. Sie schwamm nackt und gefangen in endlosen Kreisen durch ihre durchsichtige begrenzte Welt.
Blind gegenüber möglichen Konsequenzen, aber immer verfolgt vom Schatten des nahenden Untergangs.
© 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Shannon McKenna
Neben ihrer Karriere als Sängerin begann Shannon McKenna Liebesromane zu schreiben. Mit "Die Nacht hat viele Augen" gelang ihr der große Durchbruch in den USA. Die Autorin lebt und arbeitet in Süditalien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Shannon McKenna
- 2010, 1. Aufl., 528 Seiten, Maße: 12,7 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Isabell Bauer
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802583302
- ISBN-13: 9783802583308
- Erscheinungsdatum: 07.09.2010
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