Die Samstagsfrau
Roman
Die erfolgreiche Anwältin Raakel wird von ihrer Vergangenheit eingeholt: Als sie dreizehn Jahre alt war, ist ihre Mutter plötzlich spurlos verschwunden. Sie waren beste Freundinnen, enge Vertraute. Die Tochter wusste als Einzige von den Affären der Mutter,...
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Produktinformationen zu „Die Samstagsfrau “
Klappentext zu „Die Samstagsfrau “
Die erfolgreiche Anwältin Raakel wird von ihrer Vergangenheit eingeholt: Als sie dreizehn Jahre alt war, ist ihre Mutter plötzlich spurlos verschwunden. Sie waren beste Freundinnen, enge Vertraute. Die Tochter wusste als Einzige von den Affären der Mutter, begleitete sie zu den Verabredungen und genoss die Nähe zur Mutter in den wenigen Stunden der Zweisamkeit. Doch sie spürte auch die Anziehungskraft, die ihre Mutter auf Männer ausübte, und wie ähnlich sie ihrer Mutter war. Nun will die Polizei den Fall neu aufrollen, doch Raakel weiß nicht, ob sie wirklich wissen will, was mit ihrer Mutter geschehen ist...
Die erfolgreiche Anw ltin Raakel wird von ihrer Vergangenheit eingeholt: Als sie dreizehn Jahre alt war, ist ihre Mutter pl tzlich spurlos verschwunden. Sie waren beste Freundinnen, enge Vertraute. Die Tochter wusste als Einzige von den Aff ren der Mutter, begleitete sie zu den Verabredungen und genoss die N he zur Mutter in den wenigen Stunden der Zweisamkeit. Doch sie sp rte auch die Anziehungskraft, die ihre Mutter auf M nner aus bte, und wie hnlich sie ihrer Mutter war. Nun will die Polizei den Fall neu aufrollen, doch Raakel wei nicht, ob sie wirklich wissen will, was mit ihrer Mutter geschehen ist...
"Ein kluges Buch und ein subtiler Kriminalroman, dessen zwei Geschichten sich erst ganz am Ende vereinigen. Bis dahin verschlingt man die Seiten viel zu schnell, als dass sich alle Reicht mer und Nuancen der Geschichte im Ged chtnis festsetzen k nnten. Deshalb wirkt die Geschichte noch lange nach." Savon Sanomat
"Pirjo Hassinen hat einen gro artigen Roman geschrieben, der einen gespannt macht, stimuliert und noch viele Tage lang zum Nachdenken anregt." Uutisp iv Demari
"Wenn man etwas lesen will, an dem man zu knabbern hat, sollte man sich Hassinens 'Die Weihnachtsfrau' vornehmen. Ihr ausdrucksvoller Stil und das Gewebe voller R tsel bieten moderne Literatur vom Feinsten." Tiedonantaja
"Ein kluges Buch und ein subtiler Kriminalroman, dessen zwei Geschichten sich erst ganz am Ende vereinigen. Bis dahin verschlingt man die Seiten viel zu schnell, als dass sich alle Reicht mer und Nuancen der Geschichte im Ged chtnis festsetzen k nnten. Deshalb wirkt die Geschichte noch lange nach." Savon Sanomat
"Pirjo Hassinen hat einen gro artigen Roman geschrieben, der einen gespannt macht, stimuliert und noch viele Tage lang zum Nachdenken anregt." Uutisp iv Demari
"Wenn man etwas lesen will, an dem man zu knabbern hat, sollte man sich Hassinens 'Die Weihnachtsfrau' vornehmen. Ihr ausdrucksvoller Stil und das Gewebe voller R tsel bieten moderne Literatur vom Feinsten." Tiedonantaja
Lese-Probe zu „Die Samstagsfrau “
IM JAHR ZWEI VOR BEGINN DER ZEITRECHNUNGAls Mutter mir zeigte, wie man einen Orgasmus bekommt, war ich elf. Es war ein Tag im Oktober.
"Komm mal her, Rachel", rief sie aus dem Wohnzimmer. Das Sonnenlicht f llte jeden Winkel des Hauses, es hatte auf dem Heimweg von der Schule die Ahornb ume zum Lodern gebracht und die L rchen t rkisgelb verf rbt.
"Bring den Ranzen in dein Zimmer und komm", sagte Mutter. Sie sa am Esstisch, die H nde auf der glatten Tischplatte. Ihre Haare plusterten sich im Licht auf, so als wollte sich vom Nacken her ein Heiligenschein bilden.
Als ich mich ihr gegen bersetzte, nahm Mutter meine H nde und legte sie sachte neben die ihren. Ich blickte ihr in die Augen und verstand einmal mehr, weshalb sich die M nner in sie verliebten. Ich h tte es ihr gerne gesagt.
"Setz dich gerade und stell die F e nebeneinander", hielt sie mich an. Ich warf einen schnellen Blick unter den Tisch, um zu sehen, wie sie es machte; in meinem Bauch kribbelte es, es f hlte sich an wie im Flugzeug beim Start. Meine Fersen hoben sich ein paar Zentimeter, aber die stoische Bewegungslosigkeit meiner Mutter zwang mich zur Ruhe. Durch die Ritze im Wohnzimmerfenster drang der Geruch von Laub aus dem Hof, eine Mischung aus F ulnis und Frische.
"Beug dich langsam nach vorne, bis deine Br ste den Tischrand ber hren. Dein Hintern soll sich auf dem Stuhl zu einem Herz ausbreiten."
Ich sp rte, wie sich unter mir auf dem Pl schbezug ein Herz formte. Ich wartete auf weitere Anweisungen. Mutter gab den Takt an.
"Jetzt konzentrier dein ganzes Gewicht auf das Innere des Herzens", sagte sie. "Spann alle Muskeln an, bis sich in dir ein kleiner, saugender Schacht bildet. Beweg dich nicht von der Stelle ... lass die H nde auf dem Tisch, die F e nebeneinander. Sp rst du es?"
Ich f hlte, wie sich zwischen den Beinen eine harte Stelle bildete, eine Art Narbe, in der das Blut pocht. Mutter sah es an meinem Blick und ermutigte mich mit einem Kopfnicken.
"Jetzt stell
... mehr
dir vor, jemand w rde dich beobachten", fuhr sie fort.
"Gro mutter zum Beispiel?"
"Zum Beispiel. Deshalb darfst du dich nicht bewegen, nicht l cheln und dich auch nicht verkrampfen. Versuch auszusehen, als w rdest du Hausaufgaben machen oder in einer Zeitung bl ttern. Mach weiter mit dem Pressen, und wenn alles richtig angespannt ist, setz den Schacht in dir in Bewegung, als w rdest du einen Kreisel drehen. Die Kreiselspitze bohrt ein samtweiches Loch in den Bezug, gr bt sich durch die F llung durch, und kein Au enstehender bemerkt etwas ..."
Ich konzentrierte mich, brachte den Kreisel aber nicht in Schwung.
"R ck n her an den Tisch ran. Schieb den Po nach hinten gegen die Lehne. Fang noch einmal an, den Schacht zu bilden. Lass die Augen offen."
Ich folgte gehorsam und sp rte, wie der Kreisel mit dem Gleichgewicht k mpfte und dann zu rotieren begann, als ob eine unsichtbare Hand oder ein Gebl se ihn angesto en h tte. Ich juchzte auf vor Freude, aber blitzschnell legte meine Mutter ihren Finger vor den Mund.
Mein Kreisel drehte sich. Gerne h tte ich die Beine bewegt und meine Oberschenkel in eine andere Stellung gebracht, um mit den Muskeln den Kreisel in Schwung zu halten wie eine von allen Seiten n her r ckende Wand. Es war, als h tte ich gerade Autofahren gelernt.
"Ich kann es!"
"Nicht bewegen. Vergiss nicht, dass es keiner sehen darf."
Pl tzlich zitterte ich, sch ttelte mich, lachte und bemerkte, dass ich mich drehte und wand wie die S ndigen im Tempel. Kranke, denen Laute entweichen, die eigentlich niemand h ren m chte, obwohl der Prediger sie lobt und anspornt.
So f hlt es sich also an, wenn der Teufel die Seele verl sst? So gut, dass es einem egal ist?
In dem Moment, als meine Mutter mich vom Tisch auf das Sofa holte, begriff ich, dass sich das nicht vergleichen lie . Dass es sich um etwas v llig anderes handelte, um einen weiteren Schritt weg von Vater und Gro mutter, hin zur Welt meiner Mutter.
Ich lachte und weinte mit blinden Augen an ihrer Brust, aber es machte nichts, auch wenn meine Beine kraftlos schlotterten wie die berlangen L ufe eines Elchs.
"Jetzt, wo du das hier kannst, wirst du nie mehr allein sein", sagte Mutter. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Pullover und sog den Geruch ein, der alle Sehns chte der Welt enthielt. Es war fast, als sp rte ich schon in diesem Augenblick der gr tm glichen N he, was meiner Mutter in zwei Jahren zusto en sollte.
"Du wirst nie mehr allein sein", wiederholte sie. Sie zog mich in ihre Arme wie eine Spinne, die Z rtlichkeit sucht, und sang f r mich ein Weihnachtslied, mitten im strahlendsten Oktober.
IM JAHR ZWEIUNDZWANZIG NACH BEGINN DER ZEITRECHNUNG
W hrend meiner Studienzeit fiel es mir schwer, ber l ngere Zeit die Gedanken zusammenzuhalten, wenn jemand sprach. Im H rsaal folgten alle unerm dlich dem Vortragenden, nur ich fuhr pl tzlich auf, sah, wie konzentriert sich alle in Richtung des Overheadprojektors reckten, und merkte, dass ich ganz woanders gewesen war. Wenn ein bahnbrechender Fall geschildert wurde, glitt ich einfach weg. Ich begann, R cken zu betrachten, Pullover, d nne Seidenblusen und die W nde, wo ein Fries in Goldlettern verk ndete: Fiat iustitia ne pereat mundus. Gerechtigkeit geschehe, und sollte die Welt dar ber zugrunde gehen.
Meine Gro mutter hatte diese Schw che l ngst bemerkt, obwohl ich mit meinem Blick nie abgeschweift war, Lieder richtig mitgesungen und s mtliche Gebete gesprochen hatte.
"Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?", hatte sie gefl stert. Der Vorwurf hatte mir die Tr nen in die Augen getrieben und mich noch eifriger im Gesangbuch bl ttern lassen, als k nnte ich das n chste freudig gesungene Lied kaum erwarten.
Meinem derzeitigen Leben und meiner Arbeit taten diese Gedankenfl ge keinen Abbruch. Man erwartete geradezu, dass ich nachdenklich war, Pausen machte, dass ich w hrend der zunehmend verworrenen Erz hlungen meiner Klienten Kaffee bestellte, um dann wieder bei den Punkten anzusetzen, die bei allen Parteien feurige Leidenschaften weckten.
Ich hatte mich auf Erbrecht spezialisiert und war Minderheitsaktion rin der Anwaltskanzlei Pirkka Sundstr m. Die Kanzlei lag in Etu-T l , in der Innenstadt von Helsinki, im f nften Stock eines dunkel verputzten Hauses. Vom Konferenzraum aus hatte man ungehinderten Einblick in ein Architekturb ro auf der anderen Stra enseite, und obwohl an unserem Tisch hitzige Debatten ber Geld gef hrt wurden, floh mein Blick des fteren durch das Fenster dort hin ber.
Jetzt, am dritten Dezember, einem Dienstagmorgen kurz vor zehn, wanderten etliche M nner und Frauen durch die freundlichen R ume. Wohin man blickte, sah man helles Holz und Metall, das komplette Gegenteil von der Anwaltskanzlei Pirkka Sundstr m. Bei uns war alles mit dunklem Holz verkleidet, die Gardinen hingen schwer herab wie in muffigen Innenstadthotels. Das Parkett im Konferenzraum war pechschwarz lackiert, die Aktenschr nke und Regale hatte Pirkka der Universit t abgekauft, wo sie im neunzehnten Jahrhundert als Laboreinrichtungen gedient hatten. Pirkka zufolge war man in den Schr nken auf unz hlige Knochen von Kleins ugern gesto en, por s und staubig wie die berreste eines abgerissenen Kachelofens.
An diesem Morgen nahmen wir im Konferenzraum ein Nachlassverzeichnis auf. Die Mutter dreier Schwestern war Anfang November gestorben und hatte einen kleinen Blumenladen und eine Zweizimmerwohnung hinterlassen. Eine halbe Stunde nach Beginn hatte sich der Tonfall der Anwesenden bereits versch rft. Die Forderungen der j ngsten Schwester ver rgerten die beiden anderen, ihre Augen blitzten, und die Stimmen wurden schroff.
Ich lie es geschehen, obwohl ich am Kopf des Tisches sa und den Papierberg verwaltete. Das beim Thema Erbrecht aufgeschlagene Gesetzbuch lag schwer wie eine Bibel in Reichweite. Ich dachte an einen Prediger aus alten Tagen, der bei uns zu Hause in der gro en Bilderbibel gebl ttert hatte. Auf den Zeichnungen von Dor hatten sich die Menschen im Sturm gewunden und sich Drachen und Seeungeheuern gleich hin und her geschl ngelt. Verschiedene Seiten waren herausgerissen worden, ein Gewaltakt meiner Mutter, und das hatte unverkennbar seine zerfledderten Spuren hinterlassen.
Die j ngste der Schwestern bestand darauf, zus tzlich zum Wohnungsanteil den Blumenladen zu bekommen, da sie jahrelang ohne Bezahlung dort gearbeitet hatte. Sie quengelte wie ein Nesth kchen, weshalb die mittlere Schwester ihre Forderungen bewusst gemessen formulierte: Jeder bekommt gleich viel!
Die lteste blickte erwartungsvoll zu mir her ber, jedes einzelne meiner Worte w rde sie genie en. Ich w rde ihr und ihren Schwestern ein Messer reichen, mit dem der Kuchen sorgf ltig und mitleidlos in gleich gro e St cke geteilt werden w rde.
Wie immer in solchen Konflikten wurde mir klar, dass ich als Gesetzesvertreterin repr sentierte, was unser Prediger f r meine Gro mutter gewesen war, damals vor vielen Jahren. Der Mann, den meine Gro mutter normalerweise von uns ferngehalten hatte, durfte auf einmal in unsere Wohnung kommen, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Ihm war ein mit Kissen ausstaffierter Sofaplatz angeboten worden, und nachdem mein Vater in seinem Zimmer verschwunden war, hatte Gro mutter die Bibel auf eine Weise in den Scho des Priesters gelegt, wie in meiner Fantasie Maria aus den H nden des Engels ihren in Windeln gewickelten Sohn empfangen hatte.
Gro mutters Augen waren pfefferschwarz geworden.
"Nicht wahr?", hatte sie gefragt, und ihr Gesicht war bleich gewesen vor Verlangen, gleichzeitig mit dem Prediger nicken zu d rfen.
Sie hatte den Prediger nicht zu uns eingeladen, um zu fragen: Was?, sondern: Nicht wahr? Gro mutter hatte ihr eigenes, pers nliches Urteil und ihre Missbilligung dessen, was meine Mutter getan hatte, f r zu schwach gehalten. Als der Prediger die herausgerissenen Seiten bemerkt und zu Gro mutter aufgeschaut hatte, war auf ihren Lippen derselbe Anflug eines L chelns erschienen, den meine Mutter so oft vor mir verborgen hatte.
Die lteste der Schwestern war ohne Angst zur Nachlassaufstellung gekommen, da es nicht zu fragen galt: Was? Was sollen wir tun, was geschieht jetzt?
Sie wusste es bereits. Gesetze sind h ufig so verfasst, dass sie nicht mit allgemeinen eingefleischten Rechtsauffassungen in Konflikt geraten. Oder in den Worten einer Kommilitonin: Die Gerechtigkeit ist wie eine nackte Frau, ber die der eifers chtige Liebhaber, wenn er geht, die Decke des Gesetzes wirft. Nicht eine Zehe darf hervorgucken und Konkurrenten anlocken.
Ich blickte hin ber zum Architekturb ro und sah, wie man sich dort mit Kaffeebechern in der Hand zu einer Besprechung zusammenfand. Alle Fenster waren von Weihnachtskerzen erleuchtet. Im tr ben Morgenlicht sahen die Architekten aus wie F rsten.
Als das Handy klingelte, entschuldigte ich mich bei meinen Klienten und ging ans Fenster. Die Melancholie des nassen Vorwinters schaffte es nicht bis in den f nften Stock. Es war, als schaute ich aus einem Flugzeug auf die Stra e, von ganz weit oben.
"Rachel Heimonen."
Hinter dem gegen berliegenden Fenster gestikulierte einer der wichtigeren Mitarbeiter, dr ckte seine Krawatte gegen das schneewei e Hemd und setzte sich ans Tischende, um die Besprechung zu leiten. In seinem Alter hatte Schlankheit etwas Vertrocknetes, Ledernes, und in der w hlerischen Atmosph re eines Nachtklubs w rde das den Frauen nicht entgehen. Wann war ein Mann zu alt? Und was, wenn unter seinem Hemd das Brusthaar ergraute, f r ihn selbst lediglich ein Zeichen von M nnlichkeit?
Hinter mir fauchten die Schwestern sich an, als k mpften drei Katzen am Boden eines unordentlichen Zimmers, mitten zwischen den Schulranzen. Ich griff nach dem Stift auf dem Fensterbrett, um mir den Namen des Anrufers aufzuschreiben. Jemand von der Polizei.
"Wir haben hier einen Mann im Knast", fing er an. Meine Klienten schwiegen - im Bem hen, mir gegen ber H flichkeit zu bewahren. Ich malte auf dem Papier die Initialen des Polizisten nach.
"Bei Demenzkranken kann man nie sicher sein, aber ich dachte, es lohnt sich, der Sache nachzugehen. Rebekka ist immerhin ein ziemlich un blicher Name."
Wenn Gef hle aufwallen, ist der allererste Moment besonders beklemmend. Als w re ihre gesamte Kraft auf einer einzigen Nadelspitze versammelt.
"Was hat das mit meiner Mutter zu tun?", fragte ich nach einer Weile.
"Das ist noch ziemlich unklar", seufzte der Polizist. Ich begriff erst jetzt, dass er aus meiner Heimatstadt anrief.
"Ein lterer Mann, der sich verirrt hat. Er wurde am Fu der Sprungschanze aufgegriffen. Der Streife gegen ber hat er behauptet, er habe Menschen get tet. Dabei fiel der Name Ihrer Mutter. Unter anderem."
"Und die anderen Namen?"
"Fantastereien. Ich dachte nur, ich frage mal nach. Ich habe die alten Akten vorliegen ..."
Das alles war so merkw rdig, dass ich einfach nur l cheln und auflegen wollte. Ich wollte zu den drei Schwestern zur ck und ihre Geschichte verschlingen, die sich in sicherem Abstand von meinem Leben abspielte. Bei meiner Arbeit kannte ich keine Furcht, keine Wut, keine Trauer, keinen Verdruss, auch keinen Neid, der so unertr glich war wie ein schmuddeliger Porno.
"Was soll ich also machen?", fragte ich. Niemand fragt Polizisten und Architekten: Nicht wahr?
"Hier in den Unterlagen sind mehrere m nnliche Personen aufgef hrt, und Sie sind die Einzige, die diese Begleiter Ihrer Mutter kannte. Vielleicht k nnten Sie kommen und sich diese Person einmal ansehen. Wo Ihre Mutter doch so spurlos verschwunden ist."
Wie war es m glich, dass sich jemand mit einem einzigen Anruf in mein Leben einklinkte und mich allem entriss, das gerade noch stimmig und unter Kontrolle war? Ich atmete ruhig, aber das Gef hl zu schweben lie nicht nach.
"Ich kann nicht kommen."
Ich sprach mit normaler Stimme, als handelte es sich blo um ein Terminproblem. Oder darum, dass es sich nicht lohnte, die Worte irgendeines im Wald aufgegriffenen Kranken ernst zu nehmen.
Ich konnte nicht in meine alte Heimatstadt fahren, um mir irgendeinen Mann anzugucken, der irgendwann einmal meine Mutter gekannt hatte. Ich wollte nicht. Ich h rte dem Polizisten zu, der mir naiv unverfroren mitteilte, er habe bereits mit meiner Gro mutter gesprochen.
"Haben Sie meine Gro mutter diesen Mann identifizieren lassen?", fragte ich und merkte, dass ich die Kontrolle ber meine Stimme verlor.
Der Gedanke, wie Gro mutter mit diesem Polizisten die unterirdischen Korridore der Polizeistation entlangging, war niederschmetternd. Ihr langer Wintermantel offen, der neue leichte Schal, der den neugierig gereckten Hals sch tzt. Ihre mittlerweile graubraunen Augen, die einen Mann mustern, den sie noch nie im Leben gesehen hat.
"Niemand au er Ihnen hat je diese M nner getroffen. Deshalb hat mir Ihre Gro mutter doch Ihre Nummer gegeben."
Ich h rte, dass sich der Polizist am sierte.
Aber er hatte Unrecht: Es war nicht meine alte Gro mutter, die ich besch tzen wollte.
Mich selbst wollte ich besch tzen. Meinen Seelenfrieden, die Voraussetzung daf r, dass ich es schaffte, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, mich auf Menschen zu konzentrieren, ihnen zuzuh ren, mit ihnen zu lachen, gut gelaunt zum Essen zu gehen. Dem politischen Geschehen zu folgen, Kunst und Unterhaltung zu genie en, Abendbl tter und Frauenzeitschriften zu kaufen, das Leben zu leben, das man aus Zeitungskolumnen und B chern kennt.
Irgendjemand zog mir den Boden unter den F en weg, wie im Zeichentrickfilm, wo eine Comicfigur, ohne es zu merken, l ngst in die Luft tritt.
"Wenn es heute nicht passt, wie w re es dann mit morgen? Der Mann wird heute Abend nach Harjala gebracht. Ich k nnte Sie vom Flughafen abholen."
Gro mutter hatte ber mich geredet. Ich stellte mir vor, wie der Polizist sich ein Bild von mir gemacht hatte, wie er h flich sein und Eindruck schinden wollte. War er ein bisschen wie Pirkka, hatte er die erstaunliche Gabe, sich vollkommen auf einen Menschen einzustellen, alle Informationen ber ihn auszuwerten und zu handeln, als h tte er einen Knopf im Ohr, ber den st ndig neue Details eingespeist werden?
"Die Fr hmaschine aus Helsinki landet Viertel vor neun. Ist es in Ordnung, wenn ich beim Ausgang warte? Ich trage einen grauen Mantel und habe blonde Haare, nicht mehr viele allerdings ... Alter f nfunddrei ig. Wir sind nicht auf dieselbe Schule gegangen, sonst k nnten wir uns kennen ..."
Flughafengel nde, Rollbahn, dunkler Himmel.
In der Maschine k mpften die meisten Passagiere mit ihren Jacken, stopften die Aktentaschen in das Gep ckfach oder unter die Sitze, schnallten sich an und blickten panisch nach drau en, strichen Blazer glatt oder zupften sich an den Haaren. Und als die Stewardess in ihren schwarzen Lederhandschuhen vorbeikam, wurden die F e ausgestreckt, als tr te man auf ein unsichtbares Gaspedal; es kann losgehen! Kunden und Partner und tausende von dringenden Aufgaben warteten am Ziel. Die Reise von einem Punkt zum anderen war blo ein notwendiges bel, wie der schnelle Gang zur Toilette vor einer langen Besprechung.
Ich hatte den Moment immer genossen, wenn die Maschine noch am Terminal stand, die Mechaniker drau en herumwerkelten und das Wasser in B chen ber die Tragfl chen str mte. Auf dem schwarzen Asphalt bildeten sich Pf tzen, in denen sich als zitternde B nder die Lichter des Flughafens spiegelten. Die Leere ringsum konnte man f rmlich sp ren, ebenso die vibrierende Kraft des Fahrwerks, auf dem das Flugzeug ruhte, einem Adler gleich, der mit seinen Klauen einen Ast umklammert.
Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und sp rte die M digkeit wie eine l hmende Maske auf meinem Gesicht. Auch die Menschen mit Flugangst sahen so aus. Nach au en hin dr ckte sich die Beklemmung wie Kummer aus, wie Ver rgerung, Sorge, ein naher Weinkrampf.
"Mama, werde ich auch sicher nicht sterben?", hatte ich bei meinem ersten Flug gefragt. Damals hatte sich der Sitz unter mir wie ein Schleudersitz angef hlt, und irgendetwas hatte meine Brust mit Panik gef llt.
"Gro mutter hat doch f r uns gebetet", hatte Mutter geantwortet. Dann hatte sie mich angeschaut und mir zugezwinkert.
Pirkka war nicht begeistert gewesen zu h ren, dass ich mir das Wochenende freinehmen wollte. Freitag war immerhin Unabh ngigkeitstag, und es lohnte sich nicht, Donnerstagabend nach Helsinki zur ckzuhetzen.
"Z nde bitte auch in meinem Namen eine Grabkerze an", hatte er gesagt, als ich nach dem Anruf des Polizisten in sein B ro gekommen war. Pirkka fragte erst gar nicht nach meiner Gro mutter, denn alles, was auch nur entfernt mit Religion zu tun hatte, veranlasste ihn zu fast schon ver chtlichen Bekundungen seiner Unparteilichkeit. Als Professorensohn im Zeichen der Freiheit aufgewachsen, war er "mit dieser Welt durch die Nabelschnur des Humanismus verbunden".Pirkkas Worte deprimierten mich, als ich in der Morgenmaschine auf den Start wartete. Durch welche Art von Schn ren ich mit meiner alten Heimatstadt verbunden war, glaubte Pirkka ganz genau zu wissen.
"Gro mutter zum Beispiel?"
"Zum Beispiel. Deshalb darfst du dich nicht bewegen, nicht l cheln und dich auch nicht verkrampfen. Versuch auszusehen, als w rdest du Hausaufgaben machen oder in einer Zeitung bl ttern. Mach weiter mit dem Pressen, und wenn alles richtig angespannt ist, setz den Schacht in dir in Bewegung, als w rdest du einen Kreisel drehen. Die Kreiselspitze bohrt ein samtweiches Loch in den Bezug, gr bt sich durch die F llung durch, und kein Au enstehender bemerkt etwas ..."
Ich konzentrierte mich, brachte den Kreisel aber nicht in Schwung.
"R ck n her an den Tisch ran. Schieb den Po nach hinten gegen die Lehne. Fang noch einmal an, den Schacht zu bilden. Lass die Augen offen."
Ich folgte gehorsam und sp rte, wie der Kreisel mit dem Gleichgewicht k mpfte und dann zu rotieren begann, als ob eine unsichtbare Hand oder ein Gebl se ihn angesto en h tte. Ich juchzte auf vor Freude, aber blitzschnell legte meine Mutter ihren Finger vor den Mund.
Mein Kreisel drehte sich. Gerne h tte ich die Beine bewegt und meine Oberschenkel in eine andere Stellung gebracht, um mit den Muskeln den Kreisel in Schwung zu halten wie eine von allen Seiten n her r ckende Wand. Es war, als h tte ich gerade Autofahren gelernt.
"Ich kann es!"
"Nicht bewegen. Vergiss nicht, dass es keiner sehen darf."
Pl tzlich zitterte ich, sch ttelte mich, lachte und bemerkte, dass ich mich drehte und wand wie die S ndigen im Tempel. Kranke, denen Laute entweichen, die eigentlich niemand h ren m chte, obwohl der Prediger sie lobt und anspornt.
So f hlt es sich also an, wenn der Teufel die Seele verl sst? So gut, dass es einem egal ist?
In dem Moment, als meine Mutter mich vom Tisch auf das Sofa holte, begriff ich, dass sich das nicht vergleichen lie . Dass es sich um etwas v llig anderes handelte, um einen weiteren Schritt weg von Vater und Gro mutter, hin zur Welt meiner Mutter.
Ich lachte und weinte mit blinden Augen an ihrer Brust, aber es machte nichts, auch wenn meine Beine kraftlos schlotterten wie die berlangen L ufe eines Elchs.
"Jetzt, wo du das hier kannst, wirst du nie mehr allein sein", sagte Mutter. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Pullover und sog den Geruch ein, der alle Sehns chte der Welt enthielt. Es war fast, als sp rte ich schon in diesem Augenblick der gr tm glichen N he, was meiner Mutter in zwei Jahren zusto en sollte.
"Du wirst nie mehr allein sein", wiederholte sie. Sie zog mich in ihre Arme wie eine Spinne, die Z rtlichkeit sucht, und sang f r mich ein Weihnachtslied, mitten im strahlendsten Oktober.
IM JAHR ZWEIUNDZWANZIG NACH BEGINN DER ZEITRECHNUNG
W hrend meiner Studienzeit fiel es mir schwer, ber l ngere Zeit die Gedanken zusammenzuhalten, wenn jemand sprach. Im H rsaal folgten alle unerm dlich dem Vortragenden, nur ich fuhr pl tzlich auf, sah, wie konzentriert sich alle in Richtung des Overheadprojektors reckten, und merkte, dass ich ganz woanders gewesen war. Wenn ein bahnbrechender Fall geschildert wurde, glitt ich einfach weg. Ich begann, R cken zu betrachten, Pullover, d nne Seidenblusen und die W nde, wo ein Fries in Goldlettern verk ndete: Fiat iustitia ne pereat mundus. Gerechtigkeit geschehe, und sollte die Welt dar ber zugrunde gehen.
Meine Gro mutter hatte diese Schw che l ngst bemerkt, obwohl ich mit meinem Blick nie abgeschweift war, Lieder richtig mitgesungen und s mtliche Gebete gesprochen hatte.
"Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?", hatte sie gefl stert. Der Vorwurf hatte mir die Tr nen in die Augen getrieben und mich noch eifriger im Gesangbuch bl ttern lassen, als k nnte ich das n chste freudig gesungene Lied kaum erwarten.
Meinem derzeitigen Leben und meiner Arbeit taten diese Gedankenfl ge keinen Abbruch. Man erwartete geradezu, dass ich nachdenklich war, Pausen machte, dass ich w hrend der zunehmend verworrenen Erz hlungen meiner Klienten Kaffee bestellte, um dann wieder bei den Punkten anzusetzen, die bei allen Parteien feurige Leidenschaften weckten.
Ich hatte mich auf Erbrecht spezialisiert und war Minderheitsaktion rin der Anwaltskanzlei Pirkka Sundstr m. Die Kanzlei lag in Etu-T l , in der Innenstadt von Helsinki, im f nften Stock eines dunkel verputzten Hauses. Vom Konferenzraum aus hatte man ungehinderten Einblick in ein Architekturb ro auf der anderen Stra enseite, und obwohl an unserem Tisch hitzige Debatten ber Geld gef hrt wurden, floh mein Blick des fteren durch das Fenster dort hin ber.
Jetzt, am dritten Dezember, einem Dienstagmorgen kurz vor zehn, wanderten etliche M nner und Frauen durch die freundlichen R ume. Wohin man blickte, sah man helles Holz und Metall, das komplette Gegenteil von der Anwaltskanzlei Pirkka Sundstr m. Bei uns war alles mit dunklem Holz verkleidet, die Gardinen hingen schwer herab wie in muffigen Innenstadthotels. Das Parkett im Konferenzraum war pechschwarz lackiert, die Aktenschr nke und Regale hatte Pirkka der Universit t abgekauft, wo sie im neunzehnten Jahrhundert als Laboreinrichtungen gedient hatten. Pirkka zufolge war man in den Schr nken auf unz hlige Knochen von Kleins ugern gesto en, por s und staubig wie die berreste eines abgerissenen Kachelofens.
An diesem Morgen nahmen wir im Konferenzraum ein Nachlassverzeichnis auf. Die Mutter dreier Schwestern war Anfang November gestorben und hatte einen kleinen Blumenladen und eine Zweizimmerwohnung hinterlassen. Eine halbe Stunde nach Beginn hatte sich der Tonfall der Anwesenden bereits versch rft. Die Forderungen der j ngsten Schwester ver rgerten die beiden anderen, ihre Augen blitzten, und die Stimmen wurden schroff.
Ich lie es geschehen, obwohl ich am Kopf des Tisches sa und den Papierberg verwaltete. Das beim Thema Erbrecht aufgeschlagene Gesetzbuch lag schwer wie eine Bibel in Reichweite. Ich dachte an einen Prediger aus alten Tagen, der bei uns zu Hause in der gro en Bilderbibel gebl ttert hatte. Auf den Zeichnungen von Dor hatten sich die Menschen im Sturm gewunden und sich Drachen und Seeungeheuern gleich hin und her geschl ngelt. Verschiedene Seiten waren herausgerissen worden, ein Gewaltakt meiner Mutter, und das hatte unverkennbar seine zerfledderten Spuren hinterlassen.
Die j ngste der Schwestern bestand darauf, zus tzlich zum Wohnungsanteil den Blumenladen zu bekommen, da sie jahrelang ohne Bezahlung dort gearbeitet hatte. Sie quengelte wie ein Nesth kchen, weshalb die mittlere Schwester ihre Forderungen bewusst gemessen formulierte: Jeder bekommt gleich viel!
Die lteste blickte erwartungsvoll zu mir her ber, jedes einzelne meiner Worte w rde sie genie en. Ich w rde ihr und ihren Schwestern ein Messer reichen, mit dem der Kuchen sorgf ltig und mitleidlos in gleich gro e St cke geteilt werden w rde.
Wie immer in solchen Konflikten wurde mir klar, dass ich als Gesetzesvertreterin repr sentierte, was unser Prediger f r meine Gro mutter gewesen war, damals vor vielen Jahren. Der Mann, den meine Gro mutter normalerweise von uns ferngehalten hatte, durfte auf einmal in unsere Wohnung kommen, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Ihm war ein mit Kissen ausstaffierter Sofaplatz angeboten worden, und nachdem mein Vater in seinem Zimmer verschwunden war, hatte Gro mutter die Bibel auf eine Weise in den Scho des Priesters gelegt, wie in meiner Fantasie Maria aus den H nden des Engels ihren in Windeln gewickelten Sohn empfangen hatte.
Gro mutters Augen waren pfefferschwarz geworden.
"Nicht wahr?", hatte sie gefragt, und ihr Gesicht war bleich gewesen vor Verlangen, gleichzeitig mit dem Prediger nicken zu d rfen.
Sie hatte den Prediger nicht zu uns eingeladen, um zu fragen: Was?, sondern: Nicht wahr? Gro mutter hatte ihr eigenes, pers nliches Urteil und ihre Missbilligung dessen, was meine Mutter getan hatte, f r zu schwach gehalten. Als der Prediger die herausgerissenen Seiten bemerkt und zu Gro mutter aufgeschaut hatte, war auf ihren Lippen derselbe Anflug eines L chelns erschienen, den meine Mutter so oft vor mir verborgen hatte.
Die lteste der Schwestern war ohne Angst zur Nachlassaufstellung gekommen, da es nicht zu fragen galt: Was? Was sollen wir tun, was geschieht jetzt?
Sie wusste es bereits. Gesetze sind h ufig so verfasst, dass sie nicht mit allgemeinen eingefleischten Rechtsauffassungen in Konflikt geraten. Oder in den Worten einer Kommilitonin: Die Gerechtigkeit ist wie eine nackte Frau, ber die der eifers chtige Liebhaber, wenn er geht, die Decke des Gesetzes wirft. Nicht eine Zehe darf hervorgucken und Konkurrenten anlocken.
Ich blickte hin ber zum Architekturb ro und sah, wie man sich dort mit Kaffeebechern in der Hand zu einer Besprechung zusammenfand. Alle Fenster waren von Weihnachtskerzen erleuchtet. Im tr ben Morgenlicht sahen die Architekten aus wie F rsten.
Als das Handy klingelte, entschuldigte ich mich bei meinen Klienten und ging ans Fenster. Die Melancholie des nassen Vorwinters schaffte es nicht bis in den f nften Stock. Es war, als schaute ich aus einem Flugzeug auf die Stra e, von ganz weit oben.
"Rachel Heimonen."
Hinter dem gegen berliegenden Fenster gestikulierte einer der wichtigeren Mitarbeiter, dr ckte seine Krawatte gegen das schneewei e Hemd und setzte sich ans Tischende, um die Besprechung zu leiten. In seinem Alter hatte Schlankheit etwas Vertrocknetes, Ledernes, und in der w hlerischen Atmosph re eines Nachtklubs w rde das den Frauen nicht entgehen. Wann war ein Mann zu alt? Und was, wenn unter seinem Hemd das Brusthaar ergraute, f r ihn selbst lediglich ein Zeichen von M nnlichkeit?
Hinter mir fauchten die Schwestern sich an, als k mpften drei Katzen am Boden eines unordentlichen Zimmers, mitten zwischen den Schulranzen. Ich griff nach dem Stift auf dem Fensterbrett, um mir den Namen des Anrufers aufzuschreiben. Jemand von der Polizei.
"Wir haben hier einen Mann im Knast", fing er an. Meine Klienten schwiegen - im Bem hen, mir gegen ber H flichkeit zu bewahren. Ich malte auf dem Papier die Initialen des Polizisten nach.
"Bei Demenzkranken kann man nie sicher sein, aber ich dachte, es lohnt sich, der Sache nachzugehen. Rebekka ist immerhin ein ziemlich un blicher Name."
Wenn Gef hle aufwallen, ist der allererste Moment besonders beklemmend. Als w re ihre gesamte Kraft auf einer einzigen Nadelspitze versammelt.
"Was hat das mit meiner Mutter zu tun?", fragte ich nach einer Weile.
"Das ist noch ziemlich unklar", seufzte der Polizist. Ich begriff erst jetzt, dass er aus meiner Heimatstadt anrief.
"Ein lterer Mann, der sich verirrt hat. Er wurde am Fu der Sprungschanze aufgegriffen. Der Streife gegen ber hat er behauptet, er habe Menschen get tet. Dabei fiel der Name Ihrer Mutter. Unter anderem."
"Und die anderen Namen?"
"Fantastereien. Ich dachte nur, ich frage mal nach. Ich habe die alten Akten vorliegen ..."
Das alles war so merkw rdig, dass ich einfach nur l cheln und auflegen wollte. Ich wollte zu den drei Schwestern zur ck und ihre Geschichte verschlingen, die sich in sicherem Abstand von meinem Leben abspielte. Bei meiner Arbeit kannte ich keine Furcht, keine Wut, keine Trauer, keinen Verdruss, auch keinen Neid, der so unertr glich war wie ein schmuddeliger Porno.
"Was soll ich also machen?", fragte ich. Niemand fragt Polizisten und Architekten: Nicht wahr?
"Hier in den Unterlagen sind mehrere m nnliche Personen aufgef hrt, und Sie sind die Einzige, die diese Begleiter Ihrer Mutter kannte. Vielleicht k nnten Sie kommen und sich diese Person einmal ansehen. Wo Ihre Mutter doch so spurlos verschwunden ist."
Wie war es m glich, dass sich jemand mit einem einzigen Anruf in mein Leben einklinkte und mich allem entriss, das gerade noch stimmig und unter Kontrolle war? Ich atmete ruhig, aber das Gef hl zu schweben lie nicht nach.
"Ich kann nicht kommen."
Ich sprach mit normaler Stimme, als handelte es sich blo um ein Terminproblem. Oder darum, dass es sich nicht lohnte, die Worte irgendeines im Wald aufgegriffenen Kranken ernst zu nehmen.
Ich konnte nicht in meine alte Heimatstadt fahren, um mir irgendeinen Mann anzugucken, der irgendwann einmal meine Mutter gekannt hatte. Ich wollte nicht. Ich h rte dem Polizisten zu, der mir naiv unverfroren mitteilte, er habe bereits mit meiner Gro mutter gesprochen.
"Haben Sie meine Gro mutter diesen Mann identifizieren lassen?", fragte ich und merkte, dass ich die Kontrolle ber meine Stimme verlor.
Der Gedanke, wie Gro mutter mit diesem Polizisten die unterirdischen Korridore der Polizeistation entlangging, war niederschmetternd. Ihr langer Wintermantel offen, der neue leichte Schal, der den neugierig gereckten Hals sch tzt. Ihre mittlerweile graubraunen Augen, die einen Mann mustern, den sie noch nie im Leben gesehen hat.
"Niemand au er Ihnen hat je diese M nner getroffen. Deshalb hat mir Ihre Gro mutter doch Ihre Nummer gegeben."
Ich h rte, dass sich der Polizist am sierte.
Aber er hatte Unrecht: Es war nicht meine alte Gro mutter, die ich besch tzen wollte.
Mich selbst wollte ich besch tzen. Meinen Seelenfrieden, die Voraussetzung daf r, dass ich es schaffte, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, mich auf Menschen zu konzentrieren, ihnen zuzuh ren, mit ihnen zu lachen, gut gelaunt zum Essen zu gehen. Dem politischen Geschehen zu folgen, Kunst und Unterhaltung zu genie en, Abendbl tter und Frauenzeitschriften zu kaufen, das Leben zu leben, das man aus Zeitungskolumnen und B chern kennt.
Irgendjemand zog mir den Boden unter den F en weg, wie im Zeichentrickfilm, wo eine Comicfigur, ohne es zu merken, l ngst in die Luft tritt.
"Wenn es heute nicht passt, wie w re es dann mit morgen? Der Mann wird heute Abend nach Harjala gebracht. Ich k nnte Sie vom Flughafen abholen."
Gro mutter hatte ber mich geredet. Ich stellte mir vor, wie der Polizist sich ein Bild von mir gemacht hatte, wie er h flich sein und Eindruck schinden wollte. War er ein bisschen wie Pirkka, hatte er die erstaunliche Gabe, sich vollkommen auf einen Menschen einzustellen, alle Informationen ber ihn auszuwerten und zu handeln, als h tte er einen Knopf im Ohr, ber den st ndig neue Details eingespeist werden?
"Die Fr hmaschine aus Helsinki landet Viertel vor neun. Ist es in Ordnung, wenn ich beim Ausgang warte? Ich trage einen grauen Mantel und habe blonde Haare, nicht mehr viele allerdings ... Alter f nfunddrei ig. Wir sind nicht auf dieselbe Schule gegangen, sonst k nnten wir uns kennen ..."
Flughafengel nde, Rollbahn, dunkler Himmel.
In der Maschine k mpften die meisten Passagiere mit ihren Jacken, stopften die Aktentaschen in das Gep ckfach oder unter die Sitze, schnallten sich an und blickten panisch nach drau en, strichen Blazer glatt oder zupften sich an den Haaren. Und als die Stewardess in ihren schwarzen Lederhandschuhen vorbeikam, wurden die F e ausgestreckt, als tr te man auf ein unsichtbares Gaspedal; es kann losgehen! Kunden und Partner und tausende von dringenden Aufgaben warteten am Ziel. Die Reise von einem Punkt zum anderen war blo ein notwendiges bel, wie der schnelle Gang zur Toilette vor einer langen Besprechung.
Ich hatte den Moment immer genossen, wenn die Maschine noch am Terminal stand, die Mechaniker drau en herumwerkelten und das Wasser in B chen ber die Tragfl chen str mte. Auf dem schwarzen Asphalt bildeten sich Pf tzen, in denen sich als zitternde B nder die Lichter des Flughafens spiegelten. Die Leere ringsum konnte man f rmlich sp ren, ebenso die vibrierende Kraft des Fahrwerks, auf dem das Flugzeug ruhte, einem Adler gleich, der mit seinen Klauen einen Ast umklammert.
Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und sp rte die M digkeit wie eine l hmende Maske auf meinem Gesicht. Auch die Menschen mit Flugangst sahen so aus. Nach au en hin dr ckte sich die Beklemmung wie Kummer aus, wie Ver rgerung, Sorge, ein naher Weinkrampf.
"Mama, werde ich auch sicher nicht sterben?", hatte ich bei meinem ersten Flug gefragt. Damals hatte sich der Sitz unter mir wie ein Schleudersitz angef hlt, und irgendetwas hatte meine Brust mit Panik gef llt.
"Gro mutter hat doch f r uns gebetet", hatte Mutter geantwortet. Dann hatte sie mich angeschaut und mir zugezwinkert.
Pirkka war nicht begeistert gewesen zu h ren, dass ich mir das Wochenende freinehmen wollte. Freitag war immerhin Unabh ngigkeitstag, und es lohnte sich nicht, Donnerstagabend nach Helsinki zur ckzuhetzen.
"Z nde bitte auch in meinem Namen eine Grabkerze an", hatte er gesagt, als ich nach dem Anruf des Polizisten in sein B ro gekommen war. Pirkka fragte erst gar nicht nach meiner Gro mutter, denn alles, was auch nur entfernt mit Religion zu tun hatte, veranlasste ihn zu fast schon ver chtlichen Bekundungen seiner Unparteilichkeit. Als Professorensohn im Zeichen der Freiheit aufgewachsen, war er "mit dieser Welt durch die Nabelschnur des Humanismus verbunden".Pirkkas Worte deprimierten mich, als ich in der Morgenmaschine auf den Start wartete. Durch welche Art von Schn ren ich mit meiner alten Heimatstadt verbunden war, glaubte Pirkka ganz genau zu wissen.
... weniger
Autoren-Porträt von Pirjo Hassinen
Pirjo Hassinen, geboren 1957, studierte Politik und Philosophie. Einige ihrer Romane wurden für den Finlandia-Prize und den Nordic Literature Prize nominiert. Sie zählt zu den bekanntesten und beliebtesten finnischen Autorinnen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Pirjo Hassinen
- 2005, 348 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Finn. v. Meike Frese
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442732379
- ISBN-13: 9783442732371
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