Die Schönheitslinie
An Nicks Entwicklung vom kleinbürgerlichen Provinzler zum dandyhaften Kosmopoliten spiegelt der Booker-Preisträger Alan Hollinghurst das große Thema der englischen Literatur: die Klassengesellschaft. Und so ist dieser Roman ein nachdenklich stimmendes Sittenporträt der Thatcher-Ära, in einer Prosa, die funkelnd, aufregend und rar ist.
Nick Guest ist entschlossen, es in London weit zu bringen. Und der Schlüssel zum Erfolg des zwanzigjährigen Provinzlers ist die Familie Fedden. Sie laden ihn bereitwillig ein, in ihr stattliches Haus in Notting Hill zu ziehen und an ihrem glamourösen Leben teilzunehmen. Gerald Fedden arbeitet als Tory-Abgeordneter unter Margaret Thatcher, seine Frau Rachel entstammt einer immens reichen jüdischen Bankerfamilie. Aus Nicks anfänglicher Faszination entwickelt sich eine rückhaltlose Hinwendung, auch weil die Feddens, anders als seine kleinbürgerlichen Eltern, seine zaghafte Homosexualität zu akzeptieren scheinen - solange sie ihr Leben nicht beeinflusst. Außerdem brauchen sie ihn, Nick kümmert sich um ihre manisch-depressive Tochter. Catherines Hochs und Tiefs gehören für ihn zum Mythos dieser verzauberten, fremden Welt.
Drei Jahre vergehen, und aus dem schüchternen Nick ist ein Dandy geworden, der sich in der Highsociety zu bewegen weiß und seinen Platz in der lebenshungrigen Szene gefunden hat. Der allerdings eines nicht darf: öffentlich zu seinem Liebhaber Wani stehen, einem "neuen Konservativen". Doch es gelingt den Männern nicht lange, ihre Liebe geheim zu halten - und dann zerbricht nicht nur diese Fassade des schönen Scheins.
Alan Hollinghurst, ein Meister psychologischer Beschreibung, lässt in diesem klassischen Entwicklungsroman die Thatcher-Ära aufleben, mit großer Genauigkeit und atmosphärisch dicht. Er spiegelt diese "gespenstische Zeit", wie er selbst diese Dekade bezeichnet, in der Vielfalt ihrer Sprachen - alles glitzert ironisch und ist übersprüht mit funkelndem Geist. Hollinghursts fein geschliffene, berauschende Prosa ist eine wahre Huldigung an die Schönheit. "Selten ist die Suche nach Liebe, Sex und Schönheit so exquisit in Romanform gegossen worden."
DieSchönheitslinie von AlanHollinghurst
LESEPROBE
Der Liebesakkord
(1983)
Peter Crowthers Machwerk über die Wahl lag schon in denBuchhandlungen aus. Es hieß Erdrutsch !, und der Verkäufer bei Dillon s hattedas Schaufenster sinnigerweise mit einem Modell der gleichnamigenNaturkatastrophe dekoriert. Die Bücher mit dem mattgoldenen Konterfei dertriumphierenden Premierministerin auf dem Umschlag kamen dem Betrachter alsschimmernde Lawine entgegen. Nick blieb draußen auf der Straße stehen und betratdann den Laden, um sich das Buch anzusehen. Peter Crowther hatte er einmalkennen gelernt; er war ihm als Auftragsschreiber geschildert worden, alsZeilenschinder, aber auch als »scharfer Analytiker«: Das schwache Lächeln, dassich jetzt beim Durchblättern des Buches einstellte, verbarg nur NicksUnsicherheit darüber, welche Einschätzung der Wahrheit näher kam. Das Tempo,mit dem Crowther das Buch herausgehauen hatte - die Wahl lag gerade mal zweiMonate zurück -, hatte eindeutig etwas von Schinderei an sich, von seinemSchreibstil ganz abgesehen. Die Schärfe des Buches beschränkte sich anscheinendnur auf die Anstrengungen der Opposition. Nick sah sich alle Fotos genau an,aber nur auf einem war Gerald zu sehen: ein Gruppenbild der »101 neuen Parlamentsmitgliederder Torys«, auf dem Gerald sich in die erste Reihe gemogelt hatte, weil erschnell genug gewesen war oder einfach nur clever. Er lachte und sah in dieKamera, als säße er im Geiste schon auf der Regierungsbank. Das Lachen, derweiße Kragen auf dem dunklen Hemd, das schlaffe Brusttuch - man würde noch überihn sprechen, wenn die alten Knaben in den Reihen hinter ihm zu einem schwachenGrinsen und Stirnrunzeln verblasst wären. Dennoch, im Text wurde er nur zweiMal erwähnt: als »Bonvivant« und als Angehöriger jener »schwindendenMinderheit« der konservativen Parlamentsmitglieder, die ganz offensichtlichPrivatschule und Oxbridge durchlaufen hatten, »wie bei Gerald Fedden, dem neuenAbgeordneten für den Kreis Barwick, nicht zu übersehen war«. Achselzuckendverließ Nick die Buchhandlung, doch draußen auf der Straße spürte er, etwasverzögert, Stolz darauf, dass das Foto eines Bekannten von ihm in einem Buchabgedruckt war.
Heute Abend, acht Uhr, war er zu einem Blinddateverabredet, und der heiße Augusttag war bestimmt vom Flimmern der Nerven,unterbrochen von Schönwetterperioden lüsterner Träumereien. Das Date war nichtgänzlich »blind« - »nur sehr kurzsichtig«, wie Catherine Fedden sichausgedrückt hatte, als Nick ihr das Foto und den Brief gezeigt hatte.Anscheinend gefiel ihr das Äußere des Mannes, der Leo hieß und auch gut ihr Typhätte sein können, wie sie gestand; nur seine Handschrift erschreckte sie: Siewirkte kunstvoll und gleichzeitig ungestüm. Catherine besaß ein Taschenbuch, Grafologie : Der Charakter in der Hand , das alle möglichen Warnungen vor denNeigungen und Hemmungen der Menschen enthielt (»Künstler oder Verrückter?«,»Schoßhündchen oder Reißwolf?«). »Diese wahnsinnigen Oberlängen, Darling«,sagte sie. »Dahinter steckt jede Menge Ego.« Wieder hatten sie sich mit spitzenLippen über den kleinen Bogen billigen, blauen Briefpapiers gebeugt. »Und dasbedeutet nicht zufällig bloß einen starken Sexualtrieb?«, fragte Nick. Siehatte das verneint. Er war sehr aufgewühlt und sogar ziemlich gerührt überdiesen Brief eines völlig fremden Menschen; aber es stimmte, der Text an sichweckte kaum Erwartungen. »Nick - OK! Habe deinen Brief erhalten. Arbeite in derPersonalabteilung (London, Bezirk Brent). Wir können uns treffen, uns überInteressen und Wünsche unterhalten. Wann? Wo?« - und dann ein riesiges,wucherndes L für Leo, das die ganze untere Hälfte des Blattes einnahm.
Wenige Wochen zuvor war Nick in das große, weiße Haus derFeddens in Notting Hill eingezogen. Sein Zimmer befand sich unterm Dach und warmit seinem Fluidum von Teenager-Heimlichkeiten und -Trotz eindeutig demKinderbereich zuzuordnen. Tobys aufgeräumte Bude lag am Kopf der Treppe, NicksZimmer ein Stück weiter den durch eine Dachluke erhellten Flur entlang undCatherines am Ende. Nick hatte keine Geschwister, aber hier konnte er sich indie Rolle eines verlorenen mittleren Kindes hineinversetzen. Es war Toby, derihn hergebracht hatte, früher schon, in den Ferien, seine »Saison« in Londonüber - eine lang anhaltende, anregende Auszeit von seiner eigenen, alles andereals glanzvollen Familie -; und es war Toby, dessen Gestalt, halb bekleidet,noch immer hier herumspukte. Toby selbst wusste wahrscheinlich bis heute nicht,warum er und Nick Freunde waren, hatte aber diese unumstößliche Tatsachefreundlich anerkannt. In diesen Monaten nach dem letzten Semester in Oxford warer kaum je da, und Nick wurde an Tobys kleine Schwester und ihregastfreundliche Familie weitergereicht. Er war ein Freund der Familie, und erhatte etwas an sich, dem sie vertrauten, eine Ernsthaftigkeit, einen gewissenscheuen Glanz, etwas, das für Nick selbst nie ganz ersichtlich war, was derFamilie aber bei der Entscheidung, ihn als Mieter aufzunehmen, entgegenkam. AlsGerald Nicks heimatlichen Wahlbezirk Barwick für sich erobert hatte, wurdediese Regelung als Logik der Poesie bejubelt, beziehungsweise des Schicksals.
Gerald und Rachel weilten noch immer in Frankreich, undbeinahe bedauerte Nick ihre Rückkehr Ende des Monats. Jeden Morgen kam dieHaushälterin, um die Mahlzeiten für den Tag vorzubereiten, und GeraldsSekretärin, Sonnenbrille in die Haare geschoben, schaute vorbei und widmetesich den beeindruckenden Mengen an Post. Der Gärtner kündigte sich durch denLärm des Rasenmähers an, der durch ein offenes Fenster ins Haus drang, und Mr.Duke, der Mann für alles, von der Familie mit Euer Gnaden tituliert, kümmertesich um die anfallenden Reparaturen. Nick hatte sich im Haus niedergelassen undes fast, so kam es ihm vor, für sich in Besitz genommen. Gerne kam er am frühenAbend heim in die Kensington Park Gardens, wenn die Sonnenstrahlen die breite,baumlose Straße beharkten und sich die beiden weißen, verglasten Terrassen wiezwei wohlhabende Nachbarn nachsichtig anstarrten. Ebenso gerne machte er diedrei Schlösser der grünen Haustür auf, sperrte sie hinter sich wieder zu undspürte jedes Mal, wenn er in das rot gestrichene Esszimmer blickte oder dieTreppe hoch in die beiden Salons ging oder noch weiter nach oben, vorbei an denzwei angelehnten Türen zu den weißen Schlafzimmern, die stille Geborgenheit,die das Haus vermittelte. Die erste Treppe, die sich fächerförmig in dieEingangshalle ergoss, war aus Stein, die oberen Treppen gaben das Vertrauenerweckende Knarren von Eichenholz von sich. Schon sah er sich selbst einesTages jemanden die Treppe hinaufführen, einem neuen Freund das Haus zeigen -vielleicht Leo -, als wäre es sein eigenes oder würde ihm irgendwann gehören:die Bilder, das Porzellan und die geschwungenen französischen Möbel, die sich vonden Möbeln, mit denen er aufgewachsen war, gründlich unterschieden. DieSpiegelungen in dem dunklen polierten Holz gesellten sich wie blasse Schattenzu ihm. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen und das ganze Haus erkundet, vonden keilförmigen Schränken unterm Dach bis zur Rumpelkammer im Keller, Letzterewar ein finsteres Museum, von Gerald als trou de gloire bezeichnet. Über demKamin im Salon hing ein Gemälde von Guardi, eine Vedute von Venedig in einemvergoldeten Rokoko-Rahmen, an der Wand gegenüber zwei große, vergoldeteSpiegel. Nick hielt es in diesem Punkt mit seinem Helden Henry James, der »Goldin Mengen gut vertragen konnte«.
Manchmal kam Toby nach Hause, dann war laute Musik im Salonzu hören, oder er saß im Arbeitszimmer seines Vaters und telefonierte in derWeltgeschichte herum, in der Hand einen Gin Tonic - nicht als Hohn gegenüberseinen Eltern zu verstehen, vielmehr als berechtigte Nachahmung dessen, was siesich selbst an Freiheiten in ihrem Haus gönnten. Er schlenderte in den Garten,riss sich das Hemd vom Leib, warf sich auf einen Liegestuhl und las denSportteil des Telegraph . Nick beobachtete ihn vom Balkon aus, ging zu ihmhinunter, mit fast atemloser Anspannung; er wusste, dass Toby seinen Körper,den trainierten Körper eines Ruderers, gerne vorzeigte - das wohlfeile Almosender Schönheit. Sie tranken Bier, und Toby sagte: »Geht s meiner Schwester gut?Hoffentlich ist sie nicht zu ausgeflippt«, und Nick antwortete: »Es geht ihrgut, ganz gut«, schirmte die Augen gegen die sinkende Augustsonne ab underwiderte das Lachen - zur Beruhigung, von anderen ungeahnten Emotionenabgesehen.
Catherines Hochs und Tiefs gehörten für Nick zum Mythos desHauses. Toby hatte ihm eines Abends im College, als Zeichen des Vertrauens, aufeiner Bank am See davon erzählt. »Sie ist ziemlich ätherisch«, hatte er gesagt,im Stillen beeindruckt von seiner Wortwahl. »Sie hat so ihre Launen.« Für Nickhatte das ganze Haus, bislang nur in der Vorstellung, das Licht und denSchatten von Launen angenommen, das dort gelebte Leben durchtränkt von Gefühlenso wie die Luft in Oxford vom Geruch des Seewassers. »Früher hat sie sich immermit einer Rasierklinge die Unterarme aufgeritzt.« Toby war zusammengezuckt.»Zum Glück hat sich das jetzt gelegt.« Das schien provozierender als reineLaunenhaftigkeit, und als Nick Catherine kennen lernte, ertappte er sich dabei,wie er gebannt auf ihre Arme starrte. Auf einem Unterarm waren sauber gezogene,parallele Linien zu sehen, einige Zentimeter lang, und auf dem anderen einMuster aus rechtwinkligen Narben, die man unwillkürlich als Buchstaben las; soals hätte sie versucht, das Wort Elle zu schreiben. Die Narben waren jedochlängst verheilt, Spuren von etwas, das ansonsten vergessen schien; manchmalfuhr Catherine zerstreut mit einem Finger darüber.
»Sich um unser Kätzchen kümmern«, wie Gerald sich vor derAbfahrt ausgedrückt hatte, damit andeutend, dass die Aufgabe so einfach wieverantwortungsvoll war. Es war Catherines Haus, aber es war Nick, der die Obhuthatte. Sie kampierte hier nur, verunsichert, als wäre sie der Mieter und nichtNick. Dass ihm die prunkvollen Räume gefielen, darüber wunderte sie sich, undüber seine fundierte Liebe zu den Dingen, den Gemälden und Möbeln, machte siesich lustig. »Was bist du doch für ein überheblicher Snob«, sagte sie mit einemherausfordernden Lachen; bei seiner Herkunft, der Familie, der er sichangeblich überlegen fühlte, war das wie ein Schlag ins Gesicht. »Eigentlichnicht«, sagte Nick, als wäre ein geringes Zugeständnis die beste Zurückweisung.»Ich liebe einfach nur schöne Dinge.« Catherine sah sich amüsiert um, als gingees um einen Haufen Trödel. Während der Abwesenheit der Eltern beschränkten sichihre Triebe auf bescheidene Verstöße, hauptsächlich Rauchen, und sie nahmFremde auf ihr Zimmer mit. Eines Abends kam Nick nach Hause und erwischte siedabei, wie sie mit einem alten schwarzen Minicab-Fahrer in der Küche saß undtrank und ihm verriet, wie hoch der Hausstand versichert war.
(...)
© Blessing Verlag
Übersetzung: Thomas Stegers
- Autor: Alan Hollinghurst
- 2005, 571 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Thomas Stegers
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672827
- ISBN-13: 9783896672827
"Allen Werken Hollinghursts gemeinsam ist die große Eleganz seiner Prosa. Er schreibt sicher mit am geschliffensten und perfektesten in der an Stilisten nicht gerade armen britischen Literatur. Seine Romane sind präzise gearbeitete Uhrwerke, jeder Satz ist so spiegelblank poliert wie das Tafelsilber auf einem englischen Adelssitz." (die tageszeitung)
"'Die Schönheistslinie' ist das reife, vollendete Meisterwerk eines großen englischen Stilisten - und schon ein Klassiker." (The Observer)
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Schönheitslinie".
Kommentar verfassen