Die Schuld, eine Frau zu sein
Die junge Pakistani Mukhtar Mai hat ein erschütterndes Schicksal erlitten. Im Namen des Stammesrates wird sie von vier Männern missbraucht. Danach soll sie Selbstmord begehen, um die Schande auszulöschen. Doch Mukhtar weigert sich....
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Produktinformationen zu „Die Schuld, eine Frau zu sein “
Die junge Pakistani Mukhtar Mai hat ein erschütterndes Schicksal erlitten. Im Namen des Stammesrates wird sie von vier Männern missbraucht. Danach soll sie Selbstmord begehen, um die Schande auszulöschen. Doch Mukhtar weigert sich. Stattdessen zieht sie vor Gericht und beginnt zu kämpfen.
"Mukhtar Mai ist eine Heldin."
The New York Times
Lese-Probe zu „Die Schuld, eine Frau zu sein “
Die Schuld, eine Frau zu sein von Mukhtar Mai 1Ein langer Weg
Die Entscheidung, die mein Leben von Grund auf verändern wird, fällt in der Nacht vom 22. Juni 2002 im Kreis der Familie.
Ich, Mukhtaran Bibi, achtundzwanzig Jahre alt und Angehörige der Bauernkaste der Gujjar aus dem Dorf Meerwala in der pakistanischen Provinz Punjab, muss vor den Klan der höheren Kaste der Mastoi treten, der aus mächtigen Grundbesitzern und Kriegern besteht. Ich muss sie im Namen meiner Familie um Vergebung bitten.
Um Vergebung für meinen kleinen Bruder Shakkur. Die Mastoi beschuldigen ihn, mit Salma, einem Mädchen ihres Stammes, »gesprochen« zu haben. Mein jüngerer Bruder ist gerade mal zwölfJahre alt, die junge Frau dagegen über zwanzig. Wir wissen, dass Shakkur nichts Schlechtes getan hat, doch die Mastoi haben es so beschlossen, und wir, die Gujjar, müssen uns ihren Geboten fügen. Das ist schon immer so gewesen.
Als mein Vater und mein Onkel mir die Nachricht gemeinsam überbringen, sind sie sehr müde und niedergeschlagen.
... mehr
Mit trauriger Stimme sagt mein Vater: »Wir haben unseren Mullah, Abdul Razzak, um Rat ersucht, doch er weiß nicht, was tun. Die Mastoi sind im Dorfrat weit zahlreicher vertreten als die Gujjar. Sie lehnen jedes Schlichtungsangebot ab und bleiben bei ihrer Forderung. Wir müssen uns fügen. Sie haben Waffen. Dein Onkel mütterlicherseits sowie Ramzan Pachar, ein unabhängiger Vermittler, haben alles versucht, um die Mitglieder der jirga zu besänftigen. Wir haben nur noch eine letzte Chance: Eine Frau der Gujjar muss im Namen unseres Stammes um Vergebung bitten. Und unter allen Frauen des Hauses haben wir dich ausgewählt.«
»Warum ausgerechnet mich?«, frage ich und sehe die beiden aus großen Augen an. Im ersten Moment fährt mir der Schreck durch alle Glieder. Es gibt so viele Frauen in unserer Familie, schießt es mir durch den Kopf, und ausgerechnet mich müssen sie auswählen. Wieso sollte gerade ich es schaffen, die Mitglieder der jirga, des örtlichen Stammesgerichts, zu unseren Gunsten umzustimmen?
»Dein Mann hat dir die Scheidung gewährt, du hast keine Kinder, du bist die Einzige im richtigen Alter, du lehrst den Koran, und du genießt Ansehen«, zählen sie zögerlich all die Gründe auf, die mich in ihren Augen zur geeigneten Person machen.
Mir bleibt keine andere Wahl, ich werde mich ihrem Wunsch fügen.
Die Dunkelheit ist seit Langem hereingebrochen, und ich habe noch keine konkrete Vorstellung davon, worum es bei diesem schwerwiegenden Konflikt eigentlich geht und wieso genau ich vor diesem Rat um Verzeihung bitten muss. Das wissen allein die Männer, die seit zahllosen Stunden in der jirga oder dem panchayat, wie das Stammesgericht auch genannt wird, versammelt sind.
Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht, doch ich versuche die unangenehmen Gedanken beiseitezuschieben. Es gelingt mir allerdings nur kurz, und bald schon wandern sie zu meinem kleinen Bruder zurück.
Shakkur ist seit heute Mittag verschwunden. Keiner aus meiner Familie hat in Erfahrung bringen können, was an diesem verhängnisvollen Nachmittag tatsächlich geschehen ist.
Wir wissen nur, dass mein Bruder sich zum angeblichen Tatzeitpunkt auf dem Zuckerrohrfeld in der Nähe des Hauses der Mastoi befand. Jetzt ist er allerdings auf dem Polizeire vier, etwa fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt, sie haben ihn dort eingesperrt. Ich erfahre aus dem Mund meines Vaters, dass sie meinen jüngeren Bruder geschlagen haben.
»Wir haben Shakkur gesehen, als die Polizei ihn bei den Mastoi abgeholt hat. Der Ärmste war blutüberströmt, und seine Kleider waren völlig zerrissen. Sie haben ihn in Handschellen abgeführt, ohne dass ich auch nur ein Wort mit ihm sprechen konnte. Ich hatte ihn zuvor erfolglos überall gesucht. Ein Mann, der hoch oben in einer Palme saß, um Zweige zu schneiden, hat mir erklärt, er habe gesehen, wie die Mastoi ihn entführt hätten. Nach und nach habe ich von verschiedenen Leuten im Dorf erfahren, dass die Mastoi ihn zunächst des Diebstahls bezichtigt haben. Er soll sich in ihrem Zuckerrohrfeld bedient haben. Dann ist Salma ins Spiel gekommen.«
Die Mastoi ergreifen häufig derartige Repressalien. Sie sind ungemein gewalttätig, und ihr mächtiges Stammesoberhaupt hat viele Bekannte an den richtigen Stellen - alles einflussreiche Männer.
Niemand aus meiner Familie hat jemals gewagt, zu ihnen zu gehen. Diese Männer sind imstande, wie aus dem Nichts und ohne jeden Grund mit Gewehren bewaffnet in jedem beliebigen Haus aufzutauchen, hemmungslos zu plündern, zu zerstören oder zu vergewaltigen. Wir können dagegen nichts tun, denn wir gehören den Gujjar an, einem niedrigen Stamm, und müssen uns dem Willen der Mastoi beugen.
Abdul Razzak, der Mullah von Meerwala, der dank seiner religiösen Funktion als Einziger zu einem solchen Schritt befugt ist, hat versucht, die Freilassung meines Bruders zu erwirken. Leider erfolglos. Als meine Familie die Nachricht erhielt, war die Bestürzung groß und wir waren zunächst sehr
hilflos. Doch mein Vater hat sich nicht mit der Situation abfinden wollen und all seinen Mut zusammengenommen - wohl wissend, dass dies Ärger bedeuten könnte. Er ist also zur örtlichen Polizei gegangen und hat sich beklagt.
Empört, dass ein Gujjar-Bauer es gewagt hat, ihnen die Stirn zu bieten und ihnen die Polizei vorbeizuschicken, haben die hochmütigen Mastoi die Anklage daraufhin kurzerhand geändert. Sie haben nun einfach behauptet, mein kleiner Bruder Shakkur habe Salma vergewaltigt. Deshalb würden sie ihn nur gehen lassen, wenn er ins Gefängnis komme. Sie haben allen Ernstes verlangt, die Polizei müsse ihn wieder den Mastoi übergeben, falls er freigelassen würde.
Sie beschuldigen Shakkur also der ziná, in Pakistan gleichbedeutend mit der Sünde der Vergewaltigung, des Ehebruchs oder der außerehelichen sexuellen Beziehung. Nach dem Gesetz der Scharia droht meinem zwölfjährigen Bruder damit die Todesstrafe.
Die Polizei hat ihn daraufhin tatsächlich ins Gefängnis gesteckt - einerseits weil er beschuldigt wird, andererseits um ihn vor der Gewalttätigkeit der Mastoi zu schützen, die auf dem Recht bestehen, selbst zu richten.
Das ganze Dorf ist seit dem frühen Nachmittag über die Angelegenheit auf dem Laufenden, und aus Sicherheitsgründen hat mein Vater sämtliche Frauen meiner Familie zu einigen Nachbarn gebracht. Wir fürchten die Vergeltung der rachsüchtigen Mastoi, die in solchen Dingen generell nicht lange zögern. Wenn die einflussreichen Angehörigen dieses Stammes Rache üben, das ist bekannt, dann immer an einer Frau aus einem niedriger gestellten Klan als dem ihren.
Und nun soll eine Frau der Gujjar sich vor den Männern des Dorfes, die vor dem Anwesen der Mastoi zur jirga versammelt sind, erniedrigen und um Vergebung für ihre Familie bitten.
Diese Frau bin ich.
Ich kenne das besagte Anwesen aus der Ferne, es liegt etwa dreihundert Meter von unserem Hof entfernt - mächtige Mauern umschließen das Haus mit seiner Terrasse, von der aus die Mastoi die Umgebung überwachen, als wären sie die Herren über die Welt.
»Mach dich fertig, Mukhtaran, und folge uns«, fordert mich mein Vater mit fester Stimme auf.
Stumm nicke ich und erhebe mich.
Ich weiß in dieser Nacht nicht, dass der Weg, der von unserem kleinen Hof zu dem sehr viel prunkvolleren Anwesen der Mastoi führt, mein Leben auf den Kopf stellen wird. Je nachdem, was das Schicksal für mich bereithält, wird dieser Weg kurz oder lang sein. Kurz, wenn die Männer des Klans meine Bitte um Vergebung annehmen. Und lang, wenn ...
Tief in mir habe ich eine ungute Vorahnung, schließlich sind die Mastoi im ganzen Dorf gefürchtet, aber ich versuche zuversichtlich zu sein. Ich stehe auf, nehme den Koran und drücke ihn an mein Herz, bevor ich mich mit einem Schal im Gepäck aufmache, um meine Aufgabe zu erfüllen. Das Heilige Buch wird mich beschützen.
Ich könnte auch Angst haben. Aber was würde das ändern? Die Wahl meines Vaters war die einzig richtige, die einzig mögliche.
Mit meinen achtundzwanzig Jahren kann ich zwar weder lesen noch schreiben, weil es in unserem Dorf wie häufig in Pakistan auf dem Land keine Schulen für Mädchen gibt, doch ich habe den Koran auswendig gelernt. Seit meiner Scheidung erteile ich den Kindern in Meerwala ehrenamtlich Unterricht. Das verschafft mir Ansehen. Das gibt mir Kraft und Selbstvertrauen.
Dadurch gestärkt, laufe ich in dieser sternenklaren Nacht über den schmalen Feldweg, gefolgt von meinem Vater, meinem Onkel und von Ramzan Pachar, jenem Freund eines anderen Stammes, der bei den geheimen Verhandlungen der jirga als Vermittler aufgetreten ist.
Die drei Männer fürchten um meine Sicherheit, und selbst mein Onkel, den ich immer für seinen Mut bewundert habe, hat zunächst gezögert, ob er mich begleiten soll.
Trotzdem schreite ich diesen Weg mit geradezu kindlicher Unbekümmertheit entlang und achte beim Gehen darauf, dass der Saum meiner burka nicht zu sehr im Staub schleift.
Was soll mir schon passieren? Ich habe mir keinen persönlichen Fehler vorzuwerfen. Ich bin gläubig und lebe seit meiner Scheidung im Kreis meiner Familie, weit entfernt von den Männern, so wie es sich bei uns gebührt - in Ruhe und innerer Gelassenheit. Niemand hat je etwas Schlechtes über mich gesagt, was bei anderen Frauen durchaus vorkommt. Diese Salma zum Beispiel, deretwegen Shakkur nun im Gefängnis sitzt, ist bekannt für ihr aggressives und aufreizendes Verhalten. Sie spricht laut, ist ständig unterwegs und geht aus, wann und wohin es ihr passt.
Vielleicht wollen die Mastoi die Unschuld meines kleinen Bruders nutzen, um das Fehlverhalten der jungen Frau zu kaschieren, denke ich, während ich versuche, in der Dunkelheit nicht über die herumliegenden Steine zu stolpern. Ich halte mich dicht hinter meinem Vater und folge seinen Schritten.
Wie dem auch sei, es sind die Mastoi, die bestimmen, und die Gujjar, die zu gehorchen haben.
Es ist noch immer drückend heiß in dieser Juninacht, und der Weg zum Anwesen der Mastoi kommt mir ungewohnt lang vor. Die Vögel schlafen, die Ziegen auch. Nur ein Hund bellt irgendwo in der Stille, die meine Schritte begleitet - eine Stille, die sich nach und nach in ein Raunen verwandelt.
Während ich weitergehe, dringen zornige Männerstimmen an mein Ohr. Wenig später erreichen wir unser Ziel, und jetzt erkenne ich sie im Licht der einzigen Lampe, die den Eingang des Anwesens erhellt. Über hundert, vielleicht hundertfünfzig, Männer haben sich davor versammelt, die Mehrzahl von ihnen Mastoi. Die Angehörigen des hochstehenden Klans beherrschen die jirga und damit natürlich auch die Entscheidungen dieses Gremiums. Selbst der Mullah kann nichts gegen sie unternehmen, obwohl er ein Vorbild für alle Dorfbewohner ist.
Ich lasse meinen Blick auf der Suche nach ihm über die Menschenmenge gleiten, doch Abdul Razzak ist nicht da. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass gewisse Mitglieder der jirga, die nicht damit einverstanden waren, wie der Rat diese Angelegenheit handhabt, die Versammlung verlassen und den Ort somit den »Herren« überlassen haben.
Jetzt stehe ich vor Faiz Mohammed, dem Stammesoberhaupt der Mastoi, sowie seinen vier Stammesbrüdern Abdul Khaliq, Ghulam Fand, Allah Dita und Mohammed Fiaz. Sie alle tragen Gewehre und Pistolen und haben sich mit finsteren Mienen vor dem Eingang des Anwesens aufgebaut.
Sofort richten sie die Läufe der Waffen auf meine Begleiter, die Männer meines Klans. Sie fuchteln damit wild vor ihren Gesichtern herum, um ihnen Angst einzujagen und sie in die Flucht zu schlagen. Doch mein Vater und mein Onkel geben keinen Ton von sich und rühren sich nicht von der Stelle. Von Faiz in Schach gehalten, bleiben sie stumm hinter mir stehen.
Die Mastoi haben fast ihren gesamten Klan um sich versammelt. Eine undurchdringliche Mauer aus Männern, bedrohlich, erregt und fiebernd.
Nun breite ich den mitgebrachten Schal als Zeichen der Demut vor dem Stammesoberhaupt der Mastoi und seinen Brüdern aus. Auswendig trage ich einen Vers aus dem Koran vor und lege die Hand dabei auf das Heilige Buch. Was ich von den Schriften kenne, wurde mir zwar nur mündlich überliefert, doch es ist gut möglich, dass mir der Heilige Text vertrauter ist als einem Großteil dieser Bestien, die mich noch immer mit verächtlichen Blicken mustern.
Nun ist der Moment gekommen, meine Bitte um Vergebung vorzubringen. Ich bin hier, damit die Ehre der Mastoi wiederhergestellt wird.
Genehmigte Lizenzausgabe für
Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © by Oh! Éditions, Paris
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Droemer Verlag.
Übersetzung:»Eléonore Delair, Eliane Hagedorn und Bettina Runge«
»Warum ausgerechnet mich?«, frage ich und sehe die beiden aus großen Augen an. Im ersten Moment fährt mir der Schreck durch alle Glieder. Es gibt so viele Frauen in unserer Familie, schießt es mir durch den Kopf, und ausgerechnet mich müssen sie auswählen. Wieso sollte gerade ich es schaffen, die Mitglieder der jirga, des örtlichen Stammesgerichts, zu unseren Gunsten umzustimmen?
»Dein Mann hat dir die Scheidung gewährt, du hast keine Kinder, du bist die Einzige im richtigen Alter, du lehrst den Koran, und du genießt Ansehen«, zählen sie zögerlich all die Gründe auf, die mich in ihren Augen zur geeigneten Person machen.
Mir bleibt keine andere Wahl, ich werde mich ihrem Wunsch fügen.
Die Dunkelheit ist seit Langem hereingebrochen, und ich habe noch keine konkrete Vorstellung davon, worum es bei diesem schwerwiegenden Konflikt eigentlich geht und wieso genau ich vor diesem Rat um Verzeihung bitten muss. Das wissen allein die Männer, die seit zahllosen Stunden in der jirga oder dem panchayat, wie das Stammesgericht auch genannt wird, versammelt sind.
Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht, doch ich versuche die unangenehmen Gedanken beiseitezuschieben. Es gelingt mir allerdings nur kurz, und bald schon wandern sie zu meinem kleinen Bruder zurück.
Shakkur ist seit heute Mittag verschwunden. Keiner aus meiner Familie hat in Erfahrung bringen können, was an diesem verhängnisvollen Nachmittag tatsächlich geschehen ist.
Wir wissen nur, dass mein Bruder sich zum angeblichen Tatzeitpunkt auf dem Zuckerrohrfeld in der Nähe des Hauses der Mastoi befand. Jetzt ist er allerdings auf dem Polizeire vier, etwa fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt, sie haben ihn dort eingesperrt. Ich erfahre aus dem Mund meines Vaters, dass sie meinen jüngeren Bruder geschlagen haben.
»Wir haben Shakkur gesehen, als die Polizei ihn bei den Mastoi abgeholt hat. Der Ärmste war blutüberströmt, und seine Kleider waren völlig zerrissen. Sie haben ihn in Handschellen abgeführt, ohne dass ich auch nur ein Wort mit ihm sprechen konnte. Ich hatte ihn zuvor erfolglos überall gesucht. Ein Mann, der hoch oben in einer Palme saß, um Zweige zu schneiden, hat mir erklärt, er habe gesehen, wie die Mastoi ihn entführt hätten. Nach und nach habe ich von verschiedenen Leuten im Dorf erfahren, dass die Mastoi ihn zunächst des Diebstahls bezichtigt haben. Er soll sich in ihrem Zuckerrohrfeld bedient haben. Dann ist Salma ins Spiel gekommen.«
Die Mastoi ergreifen häufig derartige Repressalien. Sie sind ungemein gewalttätig, und ihr mächtiges Stammesoberhaupt hat viele Bekannte an den richtigen Stellen - alles einflussreiche Männer.
Niemand aus meiner Familie hat jemals gewagt, zu ihnen zu gehen. Diese Männer sind imstande, wie aus dem Nichts und ohne jeden Grund mit Gewehren bewaffnet in jedem beliebigen Haus aufzutauchen, hemmungslos zu plündern, zu zerstören oder zu vergewaltigen. Wir können dagegen nichts tun, denn wir gehören den Gujjar an, einem niedrigen Stamm, und müssen uns dem Willen der Mastoi beugen.
Abdul Razzak, der Mullah von Meerwala, der dank seiner religiösen Funktion als Einziger zu einem solchen Schritt befugt ist, hat versucht, die Freilassung meines Bruders zu erwirken. Leider erfolglos. Als meine Familie die Nachricht erhielt, war die Bestürzung groß und wir waren zunächst sehr
hilflos. Doch mein Vater hat sich nicht mit der Situation abfinden wollen und all seinen Mut zusammengenommen - wohl wissend, dass dies Ärger bedeuten könnte. Er ist also zur örtlichen Polizei gegangen und hat sich beklagt.
Empört, dass ein Gujjar-Bauer es gewagt hat, ihnen die Stirn zu bieten und ihnen die Polizei vorbeizuschicken, haben die hochmütigen Mastoi die Anklage daraufhin kurzerhand geändert. Sie haben nun einfach behauptet, mein kleiner Bruder Shakkur habe Salma vergewaltigt. Deshalb würden sie ihn nur gehen lassen, wenn er ins Gefängnis komme. Sie haben allen Ernstes verlangt, die Polizei müsse ihn wieder den Mastoi übergeben, falls er freigelassen würde.
Sie beschuldigen Shakkur also der ziná, in Pakistan gleichbedeutend mit der Sünde der Vergewaltigung, des Ehebruchs oder der außerehelichen sexuellen Beziehung. Nach dem Gesetz der Scharia droht meinem zwölfjährigen Bruder damit die Todesstrafe.
Die Polizei hat ihn daraufhin tatsächlich ins Gefängnis gesteckt - einerseits weil er beschuldigt wird, andererseits um ihn vor der Gewalttätigkeit der Mastoi zu schützen, die auf dem Recht bestehen, selbst zu richten.
Das ganze Dorf ist seit dem frühen Nachmittag über die Angelegenheit auf dem Laufenden, und aus Sicherheitsgründen hat mein Vater sämtliche Frauen meiner Familie zu einigen Nachbarn gebracht. Wir fürchten die Vergeltung der rachsüchtigen Mastoi, die in solchen Dingen generell nicht lange zögern. Wenn die einflussreichen Angehörigen dieses Stammes Rache üben, das ist bekannt, dann immer an einer Frau aus einem niedriger gestellten Klan als dem ihren.
Und nun soll eine Frau der Gujjar sich vor den Männern des Dorfes, die vor dem Anwesen der Mastoi zur jirga versammelt sind, erniedrigen und um Vergebung für ihre Familie bitten.
Diese Frau bin ich.
Ich kenne das besagte Anwesen aus der Ferne, es liegt etwa dreihundert Meter von unserem Hof entfernt - mächtige Mauern umschließen das Haus mit seiner Terrasse, von der aus die Mastoi die Umgebung überwachen, als wären sie die Herren über die Welt.
»Mach dich fertig, Mukhtaran, und folge uns«, fordert mich mein Vater mit fester Stimme auf.
Stumm nicke ich und erhebe mich.
Ich weiß in dieser Nacht nicht, dass der Weg, der von unserem kleinen Hof zu dem sehr viel prunkvolleren Anwesen der Mastoi führt, mein Leben auf den Kopf stellen wird. Je nachdem, was das Schicksal für mich bereithält, wird dieser Weg kurz oder lang sein. Kurz, wenn die Männer des Klans meine Bitte um Vergebung annehmen. Und lang, wenn ...
Tief in mir habe ich eine ungute Vorahnung, schließlich sind die Mastoi im ganzen Dorf gefürchtet, aber ich versuche zuversichtlich zu sein. Ich stehe auf, nehme den Koran und drücke ihn an mein Herz, bevor ich mich mit einem Schal im Gepäck aufmache, um meine Aufgabe zu erfüllen. Das Heilige Buch wird mich beschützen.
Ich könnte auch Angst haben. Aber was würde das ändern? Die Wahl meines Vaters war die einzig richtige, die einzig mögliche.
Mit meinen achtundzwanzig Jahren kann ich zwar weder lesen noch schreiben, weil es in unserem Dorf wie häufig in Pakistan auf dem Land keine Schulen für Mädchen gibt, doch ich habe den Koran auswendig gelernt. Seit meiner Scheidung erteile ich den Kindern in Meerwala ehrenamtlich Unterricht. Das verschafft mir Ansehen. Das gibt mir Kraft und Selbstvertrauen.
Dadurch gestärkt, laufe ich in dieser sternenklaren Nacht über den schmalen Feldweg, gefolgt von meinem Vater, meinem Onkel und von Ramzan Pachar, jenem Freund eines anderen Stammes, der bei den geheimen Verhandlungen der jirga als Vermittler aufgetreten ist.
Die drei Männer fürchten um meine Sicherheit, und selbst mein Onkel, den ich immer für seinen Mut bewundert habe, hat zunächst gezögert, ob er mich begleiten soll.
Trotzdem schreite ich diesen Weg mit geradezu kindlicher Unbekümmertheit entlang und achte beim Gehen darauf, dass der Saum meiner burka nicht zu sehr im Staub schleift.
Was soll mir schon passieren? Ich habe mir keinen persönlichen Fehler vorzuwerfen. Ich bin gläubig und lebe seit meiner Scheidung im Kreis meiner Familie, weit entfernt von den Männern, so wie es sich bei uns gebührt - in Ruhe und innerer Gelassenheit. Niemand hat je etwas Schlechtes über mich gesagt, was bei anderen Frauen durchaus vorkommt. Diese Salma zum Beispiel, deretwegen Shakkur nun im Gefängnis sitzt, ist bekannt für ihr aggressives und aufreizendes Verhalten. Sie spricht laut, ist ständig unterwegs und geht aus, wann und wohin es ihr passt.
Vielleicht wollen die Mastoi die Unschuld meines kleinen Bruders nutzen, um das Fehlverhalten der jungen Frau zu kaschieren, denke ich, während ich versuche, in der Dunkelheit nicht über die herumliegenden Steine zu stolpern. Ich halte mich dicht hinter meinem Vater und folge seinen Schritten.
Wie dem auch sei, es sind die Mastoi, die bestimmen, und die Gujjar, die zu gehorchen haben.
Es ist noch immer drückend heiß in dieser Juninacht, und der Weg zum Anwesen der Mastoi kommt mir ungewohnt lang vor. Die Vögel schlafen, die Ziegen auch. Nur ein Hund bellt irgendwo in der Stille, die meine Schritte begleitet - eine Stille, die sich nach und nach in ein Raunen verwandelt.
Während ich weitergehe, dringen zornige Männerstimmen an mein Ohr. Wenig später erreichen wir unser Ziel, und jetzt erkenne ich sie im Licht der einzigen Lampe, die den Eingang des Anwesens erhellt. Über hundert, vielleicht hundertfünfzig, Männer haben sich davor versammelt, die Mehrzahl von ihnen Mastoi. Die Angehörigen des hochstehenden Klans beherrschen die jirga und damit natürlich auch die Entscheidungen dieses Gremiums. Selbst der Mullah kann nichts gegen sie unternehmen, obwohl er ein Vorbild für alle Dorfbewohner ist.
Ich lasse meinen Blick auf der Suche nach ihm über die Menschenmenge gleiten, doch Abdul Razzak ist nicht da. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass gewisse Mitglieder der jirga, die nicht damit einverstanden waren, wie der Rat diese Angelegenheit handhabt, die Versammlung verlassen und den Ort somit den »Herren« überlassen haben.
Jetzt stehe ich vor Faiz Mohammed, dem Stammesoberhaupt der Mastoi, sowie seinen vier Stammesbrüdern Abdul Khaliq, Ghulam Fand, Allah Dita und Mohammed Fiaz. Sie alle tragen Gewehre und Pistolen und haben sich mit finsteren Mienen vor dem Eingang des Anwesens aufgebaut.
Sofort richten sie die Läufe der Waffen auf meine Begleiter, die Männer meines Klans. Sie fuchteln damit wild vor ihren Gesichtern herum, um ihnen Angst einzujagen und sie in die Flucht zu schlagen. Doch mein Vater und mein Onkel geben keinen Ton von sich und rühren sich nicht von der Stelle. Von Faiz in Schach gehalten, bleiben sie stumm hinter mir stehen.
Die Mastoi haben fast ihren gesamten Klan um sich versammelt. Eine undurchdringliche Mauer aus Männern, bedrohlich, erregt und fiebernd.
Nun breite ich den mitgebrachten Schal als Zeichen der Demut vor dem Stammesoberhaupt der Mastoi und seinen Brüdern aus. Auswendig trage ich einen Vers aus dem Koran vor und lege die Hand dabei auf das Heilige Buch. Was ich von den Schriften kenne, wurde mir zwar nur mündlich überliefert, doch es ist gut möglich, dass mir der Heilige Text vertrauter ist als einem Großteil dieser Bestien, die mich noch immer mit verächtlichen Blicken mustern.
Nun ist der Moment gekommen, meine Bitte um Vergebung vorzubringen. Ich bin hier, damit die Ehre der Mastoi wiederhergestellt wird.
Genehmigte Lizenzausgabe für
Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright © by Oh! Éditions, Paris
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Droemer Verlag.
Übersetzung:»Eléonore Delair, Eliane Hagedorn und Bettina Runge«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Mukhtar Mai
- 2009, 1, 178 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003193
- ISBN-13: 9783868003192
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