Die Schwabenkinder
Bitterarm sind die Menschen im Bregenzerwald. Die unverschuldet in Not geratene Bauernfamilie Meser beschließt daher, ihren 9-jährigen Sohn Kaspanaze auf den Kindermarkt nach Ravensburg zu schicken, wo er von einem grausamen Bauern...
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Produktinformationen zu „Die Schwabenkinder “
Bitterarm sind die Menschen im Bregenzerwald. Die unverschuldet in Not geratene Bauernfamilie Meser beschließt daher, ihren 9-jährigen Sohn Kaspanaze auf den Kindermarkt nach Ravensburg zu schicken, wo er von einem grausamen Bauern ersteigert wird. Schon bald erträgt er dieses Leben nicht mehr und läuft davon. Eine abenteuerliche Flucht beginnt.
Der Roman wurde erfolgreich mit Tobias Moretti verfilmt!
Lese-Probe zu „Die Schwabenkinder “
Die Schwabenkinder von Elmar BereuterVorwort
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Das so genannte »Schwabengehen« der Kinder ist ein sehr dunkles Kapitel, das unsere Länder verbindet. Die Tatsache der Kinderarbeit stellte auch in unserer zivilisierten Welt bis ins 20. Jahrhundert bedauerlicherweise nichts Besonderes dar. Die frühzeitige, lange Trennung vom Elternhaus und die Form der Verdingung auf eigenen Kindergesindemärkten dokumentieren aber die besonderen Härten im Schicksal eines » Schwabenkindes«.
Diese »Wanderungen« über Jahrhunderte hinweg nach Oberschwaben und ins Allgäu sorgten für eine Entlastung der oftmals bitterarmen kinderreichen Familien in den Alpentälern: Ein halbes Jahr war man der Sorge um die Ernährung eines oder mehrerer Kinder enthoben. Dazu kamen ein paar Gulden und vielleicht Schuhe, Kleidung sowie Lebensmittel als Lohn für die sieben- bis fünfzehnjährigen bäuerlichen Dienstboten. Außerdem konnten sich gerade in der Fremde viele Kinder erstmals satt essen, eine Möglichkeit, die daheim nicht immer gegeben war.
Wer dieses gesellschaftliche und politische Phänomen aus unserer »modernen« Sichtweise betrachtet, macht es sich bestimmt zu einfach, da es einer Reihe von Faktoren bedurfte, die nur aus dem Einblick in die damaligen Lebensbedingungen verständlich werden. Industrialisierung, weitgehende Technisierung der Landwirtschaft, Tourismus und gesetzliche soziale Absicherungen haben einen hohen Lebensstandard geschaffen, der unserer Jugend ein unbeschwertes Heranwachsen ermöglicht und ihr viele Perspektiven eröffnet. Die letzten Zeugen, die als »Schwabenkinder« verdingt wurden, sind inzwischen hoch betagt, und wir können nicht mehr lange auf ihre persönlichen Erinnerungen zurückgreifen. Wir wünschen diesem Buch von Elmar Bereuter viel Erfolg und hoffen, dass es viele historisch interessierte Leser - über unsere Regionen hinaus - erreicht.
1. Kapitel
Kaspanaze schwitzte. So sehr er auch an den großen Hörnern zog und riss, die rechts und links von ihm aufragten - der verflixte Schlitten bewegte sich höchstens zentimeterweise von der Stelle. Jetzt hast du den Dreck, dachte er mit zunehmender Wut. Und dabei weißt du ganz genau, dass der Pappschnee sofort an den Kufen festklebt, wenn du stehen bleibst. Kaspanaze drehte sich um und versuchte den Schlitten zum Gleiten zu bringen, indem er die Absätze seiner Holzschuhe fest in den Schnee rammte und sich ruckartig mit seinem Körpergewicht nach hinten fallen ließ.
Der Schlitten machte einen kurzen Satz nach vorne, und Kaspanazes Morgen wäre wieder in Ordnung gewesen, wenn er nicht seinen linken Schuh verloren hätte, als er sich umdrehen und wieder die normale Zugposition einnehmen wollte. Da stand er nun wieder, der Schlitten, der gottverd... aber nein, so ein Wort darf man nicht einmal denken. Selbst das Denken ist schon eine Sünde, fuhr es ihm scharf durch den Kopf. Ihm war zum Heulen zumute. Er unterdrückte den Drang, schluckte ein paar Mal und fixierte mit verkniffenem Blick die an einem Holzgestell festgebundene Milchkanne auf dem Schlitten.
Ein grünlich schimmernder Rotzbollen hing aus seinem rechten Nasenloch, und so fest er auch schniefte und sich mühte, ihn wieder in die Nase zurückzuziehen - nach kürzester Zeit war er wieder außerhalb seines Geruchsorganes. Kaspanaze wollte ihn am Ärmel seiner Jacke abwischen, brachte aber nicht mehr als einen schmalen Streifen zuwege, der sich in der Dämmerung weiß vom Stoff abhob. Er beschloss, einen anderen Entsorgungsweg zu wählen, drückte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand gegen den linken Nasenflügel, holte tief Luft und jagte mit einem lauten Schnauben den Bollen in den Schnee, wo er ein kleines Loch hinterließ. Die Sonne schlief noch hinter den Bergen des Bregenzerwaldes, als Kaspanaze einen neuen Anlauf unternahm, den vermaledeiten Schlitten, dem es gleichgültig war, dass die Milch spätestens um sieben Uhr in der Sennerei sein musste, wieder in Bewegung zu bringen.
So breitbeinig, wie es ihm seine achteinhalb Jahre erlaubten, stellte er sich erneut rücklings zwischen die Schlittenhörner, umfasste diese so weit unten wie möglich und versuchte, durch Hin- und Herrücken und gleichzeitiges Ziehen den Widerstand des pappigen Schnees zu überwinden. Nach dem fünften Ruck war der Schlitten frei. Kaspanaze drehte sich um, hielt den linken Hörnerschnabel im Ziehen fest, warf sich nach vorne und griff im Laufen mit der weit ausgestreckten Rechten nach dem rechten Schnabel. Jetzt nur nicht stehen bleiben, bis du auf der Straße bist ... lieber Schutzengel hilf mir, dass ich es bis zur Straße schaffe ...
Keuchend wühlte er sich durch den Schnee, der über die Ränder seiner Holzschuhe ins Innere eindrang und nach und nach seine Strümpfe durchnässte. Aber er spürte nichts davon.
»... gleich bin ich beim Holunderbusch, und dann sind es nur noch ein paar Meter bis zur Straße ...«
Die nicht ganz festgezurrte Milchkanne schabte am Gestell und gab dumpfe, polternde Geräusche von sich. Mit einem Holperer glitt der Schlitten auf den etwas tieferen und festeren Untergrund der Straße, die Schneiders Hermann mit dem Schneepflug und seinen beiden Pferden noch im Dunkeln gebahnt hatte. Unter Ausnutzung des restlichen Schwunges drehte Kaspanaze seinen Schlitten in eine schon von einem anderen Schlitten gezogene Spur und ließ sich auf die Ladefläche vor der Milchkanne fallen.
»Gott sei Dank, du hast es geschafft, aber du bist spät dran«, dachte er erleichtert. Nachdem sein Atem wieder etwas ruhiger ging, stand er auf, umfasste wieder die beiden Hörner und zog den Schlitten der Dorfmitte zu, wobei er darauf achtete, in einer bereits ausgefahrenen Spur zu bleiben. Vom Kirchturm hatte es schon sieben Uhr geschlagen, als Kaspanaze auf dem festgetrampelten Platz vor der Sennerei anlangte.
Kührs Kilian war um die fünfzig, hager und trug einen kleinen Schnauzbart, der an den Ecken schon grau war. Genau besehen war nur eine Seite ganz grau, denn auf der rechten Seite wiesen seine Barthaare im unteren Bereich eine dunkelbraune, schon fast schwarze Färbung auf und seine Zähne hatten eine ähnliche Tönung. Nicht dass seine Zähne schlecht oder gar faul gewesen wären. Bei einem Käsesenner wie dem Kilian waren gute Zähne zur Berufsausübung fast unerlässlich. Seine Zähne waren sozusagen seine dritte Hand, die er brauchte, um das große Käsetuch im Mund festzuklemmen, während er mit beiden Händen die geronnene und mit einer Art Harfe zerkleinerte Masse mit dem Tuch im Sennkessel zu einem großen Ballen zusammenfischte. Kilians Zahn- und Bartfärbung kam vom Tabakkauen. Tabakkauen war ein weit verbreitetes Männervergnügen und hatte den Vorteil, dass es billig war. Die etwa fingerdick gerollten Tabakblätter hatten Ähnlichkeit mit zu stark geräucherten Würstchen. Verkauft wurden sie aus Steinguttöpfen, in denen sie in Essenzen eingelegt waren. Von dieser Tabakwurst wurde ein mundgerechtes Stück abgebissen, mit den Zähnen
zerkleinert, mit dem Speichel vermischt und über längere Zeit durchgekaut.
In vielen Häusern stand eine Spucktruhe. Das war eine mit Sägemehl gefüllte hölzerne Kiste mit einem langen, senkrecht stehenden Griff. Kilian hatte sich angewöhnt, seinen überschüssigen Pfriem aus dem rechten Mundwinkel mit scharfem, gezieltem Strahl fast punktgenau darin zu platzieren. Durch diese über lange Jahre praktizierte Übung hatte Kilians rechte untere Bartseite ihren dunklen Farbton erhalten.
Kilian Kühr war ein seelenguter Mensch, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. Fuchtig konnte er nur werden, wenn jemand nicht zur festgelegten Zeit mit der Milch in der Sennerei war und so sein Tagesablauf durcheinander gebracht wurde. Dann zählte er schon im Geiste die Holzscheite, die unnötigerweise nachgelegt werden mussten, bis die gesamte angelieferte Milch im kupfernen Sennkessel auf Verarbeitungstemperatur gebracht war.
»Na, kommst du heute auch noch?«, grummelte er unter der Tür stehend und jagte seine bis zur Mittagszeit letzte Ladung Pfriem in einem dünnen Strahl auf den festgetretenen Schnee, während Kaspanaze die Milchkanne vom Gestell losband. Gemeinsam fassten sie die seitlichen Griffe und trugen die Kanne in den weiß gestrichenen Raum zur großen Balkenwaage, an der ein großer Kübel hing, in den sie die Milch zum Wiegen leerten.
Während Kilian an der Waage hantierte, fragte er beiläufig, ohne den Blick vom Gewicht zu nehmen:
»Wo ist denn die Mariann?«
»Die ist krank und hat Bauchweh. Seit gestern Abend kotzt sie schon.«
Dass es bei denen überhaupt noch etwas zum Kotzen gibt, dachte Kilian nicht ohne Mitgefühl. Zwei kleine Montafoner Kühe und eine Sau im Stall, aber drei kleine Kinder und das Vierte ist unterwegs. Mariann war Kaspanazes Schwester und anderthalb Jahre jünger. Normalerweise brachten sie am Morgen die Milch gemeinsam ins Sennhaus, da beide schon schulpflichtig waren und sowieso hätten ins Dorf müssen. Mariann war ein eher schüchternes Mädchen mit blauen Augen und langen schwarzen Zöpfen, an denen sie Kaspanaze zog, wenn sie wieder einmal nicht zur Kenntnis nehmen wollte, dass er der Ältere und Stärkere war.
Zusammen mit Stenzels Peter, Larchenmüllers Buben und Meltzers Kindern lieferte er noch eine Schneeballschlacht, bis es sie alle an die Finger fror. Auch wurde es mit der Zeit langweilig, da sie das fast jeden Morgen zwischen der Milchablieferung und der Schülermesse machten. Kaspanaze schlupfte wieder in seine gestrickten Handschuhe, die über eine Schnur verbunden waren, die über den Nacken und durch die Jackenärmel verlief. Die Kirchenglocke bimmelte, und von allen Seiten kamen aus der morgendlichen Dämmerung die schulpflichtigen Kinder nach und nach zum Kirchenportal, was nicht ohne Geknuffe und Schubsereien abging. Dies dauerte immer so lange, bis der Lehrer auftauchte. »Der Lehrer kommt ...« Diese drei Worte genügten, dass die Kinder hastig in die Bänke rutschten.
Hinter ihnen nahm Georg Tortscher Platz, der ihnen seit eini-gen Jahren als Dorfschullehrer nicht nur das Einmaleins und etwas Lesen beibrachte, sondern auch während der Gottesdienste dafür sorgte, dass in der Kirche gebührliche Ruhe herrschte. Die Folgen für störendes Verhalten waren allen bekannt, hatten sie doch Larchenmüllers Franz erst letztes Jahr voll getroffen.
Neben der Bank, in der Franz während des Fronleichnam-Gottesdienstes saß, war eine Prozessionsfahne in die Halterung eingesteckt. Ob nun die Predigt für den Franz nicht sehr erbauend war oder ob er sie nicht verstand, wurde nie geklärt. Fest steht nur, dass dem Franz langweilig wurde. Sein Pech war, dass die Fahnenstange direkt neben ihm nach oben zur Kirchendecke ragte und dadurch sein Vorhaben erleichtert, wenn nicht sogar gefördert wurde.
So stand er mitten in der festlichen Predigt auf, stieg auf die Armlehne der Kirchenbank und begann an der Stange hinaufzuklettern. Das am oberen Ende befestigte Fahnentuch begann heftig zu schwenken und zog so zwangsläufig die Blicke aller Kirchenbesucher auf sich. Ein leises Raunen und Tuscheln ging durch das Kirchenschiff, der Pfarrer hielt einen Moment verdutzt in der Predigt inne, um dann mit deutlich lauterer und eindringlicherer Stimme fortzufahren.
Franz aber war so damit beschäftigt, an dem dünnen Schaft Halt zu finden und Höhe zu gewinnen, dass er von allem gar nichts wahrnahm. Sobald der in andächtiges Lauschen vertiefte Lehrer mitbekam, was sich da abspielte, schritt er, so schnell es die Würde des Ortes erlaubte, durch den Mittelgang, wobei alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Als er bei der Fahne angekommen war, an der Franz immer noch weltvergessen herumturnte, ließ er ein kurzes Räuspern vernehmen. Gleichzeitig versuchte er, ihn an einem Fuß zu erwischen und herabzuziehen. Franz sah von oben den hochroten Kopf des Lehrers und rutschte so schnell es ging herunter, wobei er mit dem rechten Knie schmerzhaft an der Kante der Armlehne aufschlug. Kaum dass er wieder auf dem Boden stand, erhielt er rechts und links je eine kräftige Ohrfeige, und als er in die Bank zurückwollte, zog ihn der Lehrer am linken Ohr wieder heraus auf den Gang und bedeutete ihm, hier stehen zu bleiben, damit alle auch sehen konnten, wer der Übeltäter war. Zornig flüsterte er ihm zu: »Du wirst schon noch sehen!«
Franzens Mutter schämte sich in Grund und Boden und wagte keinen Blick zur Seite, während sich der Vater mit verkniffenen Lippen vornahm, seinen Stammhalter daheim durchzuwalken. Auch Franz dämmerte, dass das alles noch ein Nachspiel haben würde. Nach der Prozession versuchte er Zeit zu gewinnen und den Zeitpunkt des elterlichen Strafgerichtes hinauszuschieben. Länger als sonst blieb er am sicheren Ort des Familiengrabes stehen, und daheim versuchte er, über den Stall und den Holzschopf unbemerkt in seine Kammer zu gelangen, um sein Sonntagsgewand zu wechseln. Da fiel ihm ein, dass die zu erwartenden Hiebe vielleicht weniger heftig ausfallen könnten, wenn er das bessere Gewand anließe, weil die Mutter immer großen Wert darauf legte, dass er darauf aufpasste, damit es auch noch sein jüngerer Bruder tragen könne. Im Holzschopf machte er wieder kehrt und bog gerade um das Stalleck, als er unvermittelt seiner Mutter in die Hände lief. Zum Davonrennen war es zu spät. Diesmal kam die Ohrfeigenfolge von rechts nach links.
»Eine Schande ist es mit dir ... im ganzen Ort redet man von uns ... dass du dich überhaupt nicht schämst ...«, und nochmals zischte es kräftig auf Franzens Backen.
»Schau, dass du hineinkommst und zieh dich um und dann holst du im Holzschopf ein Scheit, du weißt schon wofür. Und dann kommst du zu mir in die Küche.«
Franz war klar, dass alles nur noch ärger würde, wenn er sich jetzt bockig stellte. Mit brennenden Wangen holte er ein drei-eckig gespaltenes Holzscheit im Schopf und entgratete es vorsichtshalber noch ein wenig mit der Hacke. In der Küche nahm die Mutter das Scheit in die Hand, überprüfte es und befahl ihm, sich an der Wand auf das Scheit zu knien.
»Da bleibst du jetzt und rührst dich nicht, bis der Vater heimkommt!«
Der scharfe Grat des Holzscheites grub sich ihm in die Knie. Besonders das rechte schmerzte ungemein, weil er damit ja schon auf die Kirchenbank geprallt war. Durch ständiges Gewichtsverlagern versuchte er die Schmerzen in erträglichen Grenzen zu halten. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, fast schon inständig hoffte Franz, dass endlich der Vater heimkommen möge, um ihm endlich den Hintern zu versohlen.
Die Erlösung erschien mit einer Weidenrute in der Hand, die der Vater auf dem Heimweg abgeschnitten hatte und unter der Küchentüre ein paar Mal kurz aus dem Handgelenk durch die Luft pfeifen ließ.
»Von mir hat er schon Ohrfeigen bekommen«, sagte die Mutter besänftigend, da ihr Franz inzwischen schon ein wenig leid tat.
»Hosen runter«, befahl der Vater und legte den Buben übers Knie. Hinterher hatte Franz beim Sitzen nicht unerhebliche Schwierigkeiten, und auch das Mittagessen wollte ihm nicht so recht schmecken.
Leicht lädiert hinkte er zur nachmittäglichen Andacht, wo er mit zusammengebissenen Zähnen die harte Kirchenbank erdulden musste und betete, dass der Herrgott ein Einsehen haben und den Gottesdienst kurz machen möge.
Beim Verlassen der Kirche sagte der Lehrer kein Wort, als er sich vor der Kirchentür an ihm vorbeidrückte, aber sein Blick verhieß nichts Gutes. Am nächsten Morgen wollte der Lehrer Tortscher vor versammelter Klasse ein Exempel statuieren, wie es einem erging, der sich in der Kirche nicht benehmen konnte. Nach dem gemeinsamen Vaterunser griff er nach dem vierkantigen Zollstock, der wie immer auf der oberen Einfassung der Schultafel lag, und sagte in normalem Unterrichtston: »Franz, komm einmal nach vorne!«
Zögernd trat dieser zur Tafel.
»Du weißt schon, was dir jetzt blüht, und du weißt auch warum. Fünf Tatzen sind das Mindeste!«
Zur Klasse, die eigentlich aus vier Schulzügen bestand, fuhr er fort: »Nur damit ihr seht, dass man sich auch in der Kirche benehmen muss.«
Und zu Franz: »Du weißt, was passiert, wenn du die Hand zurückziehst. Für jedes Mal Zurückziehen gibt es einen Schlag mehr auf die Hand.«
Franz streckte die Hand mit der Innenseite nach oben aus, drehte sich leicht von der Klasse weg, damit man die Tränen nicht sehen konnte, die es ihm gleich aus den Augen drücken würde. Er schloss die Augen und wartete auf den ersten Schlag.
Der Schmerz des dritten Hiebes trieb ihm das Wasser durch die geschlossenen Lider. Aber eisern hielt er die Augen geschlossen.
Der Lehrer Tortscher war wegen seiner Tatzen gefürchtet, denn wenn er richtig in Rage war, drehte er den Vierkantstock so, dass eine Kante auf die Hand traf, was besonders schmerzhaft war. Franz glaubte, auf eine glühende Herdplatte gefasst zu haben, so sehr brannte die Handfläche.
Mit Grausen dachte er daran, dass heute auch noch Religionsunterricht war. Als nach der Pause der Pfarrer ins Klassenzimmer kam, klopfte sein Herz bis zum Hals.
Der hochwürdige Pfarrer Rauch konnte zwar sehr streng sein und auch ganz böse durch die Gläser seines Zwickers auf der Nase schauen. Aber das war mehr Selbstschutz, um sich die Tratschweiber und bigotten alten Schachteln vom Leib zu halten.
Nach dem Gebet trat er zu Franz an die Bank, zog ihn leicht am Haaransatz an den Schläfen nach oben und fragte, von wem er schon alles bestraft worden sei. Franz zählte die Stationen seines Leidensweges auf und konnte ein plötzliches Schluchzen nicht mehr unterdrücken, da er auch vom Pfarrer eine saftige Tracht Prügel erwartete.
Hochwürden Rauch legte die Hand um seine Schulter, zog ihn leicht an sich und sagte so leise, dass es nur Franz verstehen konnte: »Büble, so einen Blödsinn machst nimmer!«
Dann ging er vor zur Tafel und drehte sich zu den Schülern um:
»Wer nicht hören will, muss fühlen. Wer glaubt, dass er tun und lassen kann, was ihm gerade einfällt, dem wird das Leben das Gegenteil zeigen. Ein jeder muss sich irgendwo ein- oder unterordnen und auf andere Rücksicht nehmen. Heute lasse ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen! Ich hoffe, ihr habt das alle kapiert!«
Dabei funkelte er, so grimmig er nur konnte, durch seine Brillengläser in den mucksmäuschenstillen Schulraum.
Franz aber war, als sei Weihnachten und Ostern gleichzeitig. Die Hand, Wangen, Ohren, Knie und Hintern taten ihm plötzlich nicht mehr weh. Ausgerechnet der Pfarrer, von dem er die härteste Bestrafung erwartet hatte, zeigte Verständnis oder Mit-leid oder beides zusammen. Diese kleine tröstende Geste von Hochwürden Rauch würde Franz sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen, da war er sich ganz sicher. Tief verstand er mit einem Mal, dass Verzeihen ein größerer Wert sein kann als Strafe um der sogenannten Gerechtigkeit willen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Das so genannte »Schwabengehen« der Kinder ist ein sehr dunkles Kapitel, das unsere Länder verbindet. Die Tatsache der Kinderarbeit stellte auch in unserer zivilisierten Welt bis ins 20. Jahrhundert bedauerlicherweise nichts Besonderes dar. Die frühzeitige, lange Trennung vom Elternhaus und die Form der Verdingung auf eigenen Kindergesindemärkten dokumentieren aber die besonderen Härten im Schicksal eines » Schwabenkindes«.
Diese »Wanderungen« über Jahrhunderte hinweg nach Oberschwaben und ins Allgäu sorgten für eine Entlastung der oftmals bitterarmen kinderreichen Familien in den Alpentälern: Ein halbes Jahr war man der Sorge um die Ernährung eines oder mehrerer Kinder enthoben. Dazu kamen ein paar Gulden und vielleicht Schuhe, Kleidung sowie Lebensmittel als Lohn für die sieben- bis fünfzehnjährigen bäuerlichen Dienstboten. Außerdem konnten sich gerade in der Fremde viele Kinder erstmals satt essen, eine Möglichkeit, die daheim nicht immer gegeben war.
Wer dieses gesellschaftliche und politische Phänomen aus unserer »modernen« Sichtweise betrachtet, macht es sich bestimmt zu einfach, da es einer Reihe von Faktoren bedurfte, die nur aus dem Einblick in die damaligen Lebensbedingungen verständlich werden. Industrialisierung, weitgehende Technisierung der Landwirtschaft, Tourismus und gesetzliche soziale Absicherungen haben einen hohen Lebensstandard geschaffen, der unserer Jugend ein unbeschwertes Heranwachsen ermöglicht und ihr viele Perspektiven eröffnet. Die letzten Zeugen, die als »Schwabenkinder« verdingt wurden, sind inzwischen hoch betagt, und wir können nicht mehr lange auf ihre persönlichen Erinnerungen zurückgreifen. Wir wünschen diesem Buch von Elmar Bereuter viel Erfolg und hoffen, dass es viele historisch interessierte Leser - über unsere Regionen hinaus - erreicht.
1. Kapitel
Kaspanaze schwitzte. So sehr er auch an den großen Hörnern zog und riss, die rechts und links von ihm aufragten - der verflixte Schlitten bewegte sich höchstens zentimeterweise von der Stelle. Jetzt hast du den Dreck, dachte er mit zunehmender Wut. Und dabei weißt du ganz genau, dass der Pappschnee sofort an den Kufen festklebt, wenn du stehen bleibst. Kaspanaze drehte sich um und versuchte den Schlitten zum Gleiten zu bringen, indem er die Absätze seiner Holzschuhe fest in den Schnee rammte und sich ruckartig mit seinem Körpergewicht nach hinten fallen ließ.
Der Schlitten machte einen kurzen Satz nach vorne, und Kaspanazes Morgen wäre wieder in Ordnung gewesen, wenn er nicht seinen linken Schuh verloren hätte, als er sich umdrehen und wieder die normale Zugposition einnehmen wollte. Da stand er nun wieder, der Schlitten, der gottverd... aber nein, so ein Wort darf man nicht einmal denken. Selbst das Denken ist schon eine Sünde, fuhr es ihm scharf durch den Kopf. Ihm war zum Heulen zumute. Er unterdrückte den Drang, schluckte ein paar Mal und fixierte mit verkniffenem Blick die an einem Holzgestell festgebundene Milchkanne auf dem Schlitten.
Ein grünlich schimmernder Rotzbollen hing aus seinem rechten Nasenloch, und so fest er auch schniefte und sich mühte, ihn wieder in die Nase zurückzuziehen - nach kürzester Zeit war er wieder außerhalb seines Geruchsorganes. Kaspanaze wollte ihn am Ärmel seiner Jacke abwischen, brachte aber nicht mehr als einen schmalen Streifen zuwege, der sich in der Dämmerung weiß vom Stoff abhob. Er beschloss, einen anderen Entsorgungsweg zu wählen, drückte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand gegen den linken Nasenflügel, holte tief Luft und jagte mit einem lauten Schnauben den Bollen in den Schnee, wo er ein kleines Loch hinterließ. Die Sonne schlief noch hinter den Bergen des Bregenzerwaldes, als Kaspanaze einen neuen Anlauf unternahm, den vermaledeiten Schlitten, dem es gleichgültig war, dass die Milch spätestens um sieben Uhr in der Sennerei sein musste, wieder in Bewegung zu bringen.
So breitbeinig, wie es ihm seine achteinhalb Jahre erlaubten, stellte er sich erneut rücklings zwischen die Schlittenhörner, umfasste diese so weit unten wie möglich und versuchte, durch Hin- und Herrücken und gleichzeitiges Ziehen den Widerstand des pappigen Schnees zu überwinden. Nach dem fünften Ruck war der Schlitten frei. Kaspanaze drehte sich um, hielt den linken Hörnerschnabel im Ziehen fest, warf sich nach vorne und griff im Laufen mit der weit ausgestreckten Rechten nach dem rechten Schnabel. Jetzt nur nicht stehen bleiben, bis du auf der Straße bist ... lieber Schutzengel hilf mir, dass ich es bis zur Straße schaffe ...
Keuchend wühlte er sich durch den Schnee, der über die Ränder seiner Holzschuhe ins Innere eindrang und nach und nach seine Strümpfe durchnässte. Aber er spürte nichts davon.
»... gleich bin ich beim Holunderbusch, und dann sind es nur noch ein paar Meter bis zur Straße ...«
Die nicht ganz festgezurrte Milchkanne schabte am Gestell und gab dumpfe, polternde Geräusche von sich. Mit einem Holperer glitt der Schlitten auf den etwas tieferen und festeren Untergrund der Straße, die Schneiders Hermann mit dem Schneepflug und seinen beiden Pferden noch im Dunkeln gebahnt hatte. Unter Ausnutzung des restlichen Schwunges drehte Kaspanaze seinen Schlitten in eine schon von einem anderen Schlitten gezogene Spur und ließ sich auf die Ladefläche vor der Milchkanne fallen.
»Gott sei Dank, du hast es geschafft, aber du bist spät dran«, dachte er erleichtert. Nachdem sein Atem wieder etwas ruhiger ging, stand er auf, umfasste wieder die beiden Hörner und zog den Schlitten der Dorfmitte zu, wobei er darauf achtete, in einer bereits ausgefahrenen Spur zu bleiben. Vom Kirchturm hatte es schon sieben Uhr geschlagen, als Kaspanaze auf dem festgetrampelten Platz vor der Sennerei anlangte.
Kührs Kilian war um die fünfzig, hager und trug einen kleinen Schnauzbart, der an den Ecken schon grau war. Genau besehen war nur eine Seite ganz grau, denn auf der rechten Seite wiesen seine Barthaare im unteren Bereich eine dunkelbraune, schon fast schwarze Färbung auf und seine Zähne hatten eine ähnliche Tönung. Nicht dass seine Zähne schlecht oder gar faul gewesen wären. Bei einem Käsesenner wie dem Kilian waren gute Zähne zur Berufsausübung fast unerlässlich. Seine Zähne waren sozusagen seine dritte Hand, die er brauchte, um das große Käsetuch im Mund festzuklemmen, während er mit beiden Händen die geronnene und mit einer Art Harfe zerkleinerte Masse mit dem Tuch im Sennkessel zu einem großen Ballen zusammenfischte. Kilians Zahn- und Bartfärbung kam vom Tabakkauen. Tabakkauen war ein weit verbreitetes Männervergnügen und hatte den Vorteil, dass es billig war. Die etwa fingerdick gerollten Tabakblätter hatten Ähnlichkeit mit zu stark geräucherten Würstchen. Verkauft wurden sie aus Steinguttöpfen, in denen sie in Essenzen eingelegt waren. Von dieser Tabakwurst wurde ein mundgerechtes Stück abgebissen, mit den Zähnen
zerkleinert, mit dem Speichel vermischt und über längere Zeit durchgekaut.
In vielen Häusern stand eine Spucktruhe. Das war eine mit Sägemehl gefüllte hölzerne Kiste mit einem langen, senkrecht stehenden Griff. Kilian hatte sich angewöhnt, seinen überschüssigen Pfriem aus dem rechten Mundwinkel mit scharfem, gezieltem Strahl fast punktgenau darin zu platzieren. Durch diese über lange Jahre praktizierte Übung hatte Kilians rechte untere Bartseite ihren dunklen Farbton erhalten.
Kilian Kühr war ein seelenguter Mensch, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. Fuchtig konnte er nur werden, wenn jemand nicht zur festgelegten Zeit mit der Milch in der Sennerei war und so sein Tagesablauf durcheinander gebracht wurde. Dann zählte er schon im Geiste die Holzscheite, die unnötigerweise nachgelegt werden mussten, bis die gesamte angelieferte Milch im kupfernen Sennkessel auf Verarbeitungstemperatur gebracht war.
»Na, kommst du heute auch noch?«, grummelte er unter der Tür stehend und jagte seine bis zur Mittagszeit letzte Ladung Pfriem in einem dünnen Strahl auf den festgetretenen Schnee, während Kaspanaze die Milchkanne vom Gestell losband. Gemeinsam fassten sie die seitlichen Griffe und trugen die Kanne in den weiß gestrichenen Raum zur großen Balkenwaage, an der ein großer Kübel hing, in den sie die Milch zum Wiegen leerten.
Während Kilian an der Waage hantierte, fragte er beiläufig, ohne den Blick vom Gewicht zu nehmen:
»Wo ist denn die Mariann?«
»Die ist krank und hat Bauchweh. Seit gestern Abend kotzt sie schon.«
Dass es bei denen überhaupt noch etwas zum Kotzen gibt, dachte Kilian nicht ohne Mitgefühl. Zwei kleine Montafoner Kühe und eine Sau im Stall, aber drei kleine Kinder und das Vierte ist unterwegs. Mariann war Kaspanazes Schwester und anderthalb Jahre jünger. Normalerweise brachten sie am Morgen die Milch gemeinsam ins Sennhaus, da beide schon schulpflichtig waren und sowieso hätten ins Dorf müssen. Mariann war ein eher schüchternes Mädchen mit blauen Augen und langen schwarzen Zöpfen, an denen sie Kaspanaze zog, wenn sie wieder einmal nicht zur Kenntnis nehmen wollte, dass er der Ältere und Stärkere war.
Zusammen mit Stenzels Peter, Larchenmüllers Buben und Meltzers Kindern lieferte er noch eine Schneeballschlacht, bis es sie alle an die Finger fror. Auch wurde es mit der Zeit langweilig, da sie das fast jeden Morgen zwischen der Milchablieferung und der Schülermesse machten. Kaspanaze schlupfte wieder in seine gestrickten Handschuhe, die über eine Schnur verbunden waren, die über den Nacken und durch die Jackenärmel verlief. Die Kirchenglocke bimmelte, und von allen Seiten kamen aus der morgendlichen Dämmerung die schulpflichtigen Kinder nach und nach zum Kirchenportal, was nicht ohne Geknuffe und Schubsereien abging. Dies dauerte immer so lange, bis der Lehrer auftauchte. »Der Lehrer kommt ...« Diese drei Worte genügten, dass die Kinder hastig in die Bänke rutschten.
Hinter ihnen nahm Georg Tortscher Platz, der ihnen seit eini-gen Jahren als Dorfschullehrer nicht nur das Einmaleins und etwas Lesen beibrachte, sondern auch während der Gottesdienste dafür sorgte, dass in der Kirche gebührliche Ruhe herrschte. Die Folgen für störendes Verhalten waren allen bekannt, hatten sie doch Larchenmüllers Franz erst letztes Jahr voll getroffen.
Neben der Bank, in der Franz während des Fronleichnam-Gottesdienstes saß, war eine Prozessionsfahne in die Halterung eingesteckt. Ob nun die Predigt für den Franz nicht sehr erbauend war oder ob er sie nicht verstand, wurde nie geklärt. Fest steht nur, dass dem Franz langweilig wurde. Sein Pech war, dass die Fahnenstange direkt neben ihm nach oben zur Kirchendecke ragte und dadurch sein Vorhaben erleichtert, wenn nicht sogar gefördert wurde.
So stand er mitten in der festlichen Predigt auf, stieg auf die Armlehne der Kirchenbank und begann an der Stange hinaufzuklettern. Das am oberen Ende befestigte Fahnentuch begann heftig zu schwenken und zog so zwangsläufig die Blicke aller Kirchenbesucher auf sich. Ein leises Raunen und Tuscheln ging durch das Kirchenschiff, der Pfarrer hielt einen Moment verdutzt in der Predigt inne, um dann mit deutlich lauterer und eindringlicherer Stimme fortzufahren.
Franz aber war so damit beschäftigt, an dem dünnen Schaft Halt zu finden und Höhe zu gewinnen, dass er von allem gar nichts wahrnahm. Sobald der in andächtiges Lauschen vertiefte Lehrer mitbekam, was sich da abspielte, schritt er, so schnell es die Würde des Ortes erlaubte, durch den Mittelgang, wobei alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Als er bei der Fahne angekommen war, an der Franz immer noch weltvergessen herumturnte, ließ er ein kurzes Räuspern vernehmen. Gleichzeitig versuchte er, ihn an einem Fuß zu erwischen und herabzuziehen. Franz sah von oben den hochroten Kopf des Lehrers und rutschte so schnell es ging herunter, wobei er mit dem rechten Knie schmerzhaft an der Kante der Armlehne aufschlug. Kaum dass er wieder auf dem Boden stand, erhielt er rechts und links je eine kräftige Ohrfeige, und als er in die Bank zurückwollte, zog ihn der Lehrer am linken Ohr wieder heraus auf den Gang und bedeutete ihm, hier stehen zu bleiben, damit alle auch sehen konnten, wer der Übeltäter war. Zornig flüsterte er ihm zu: »Du wirst schon noch sehen!«
Franzens Mutter schämte sich in Grund und Boden und wagte keinen Blick zur Seite, während sich der Vater mit verkniffenen Lippen vornahm, seinen Stammhalter daheim durchzuwalken. Auch Franz dämmerte, dass das alles noch ein Nachspiel haben würde. Nach der Prozession versuchte er Zeit zu gewinnen und den Zeitpunkt des elterlichen Strafgerichtes hinauszuschieben. Länger als sonst blieb er am sicheren Ort des Familiengrabes stehen, und daheim versuchte er, über den Stall und den Holzschopf unbemerkt in seine Kammer zu gelangen, um sein Sonntagsgewand zu wechseln. Da fiel ihm ein, dass die zu erwartenden Hiebe vielleicht weniger heftig ausfallen könnten, wenn er das bessere Gewand anließe, weil die Mutter immer großen Wert darauf legte, dass er darauf aufpasste, damit es auch noch sein jüngerer Bruder tragen könne. Im Holzschopf machte er wieder kehrt und bog gerade um das Stalleck, als er unvermittelt seiner Mutter in die Hände lief. Zum Davonrennen war es zu spät. Diesmal kam die Ohrfeigenfolge von rechts nach links.
»Eine Schande ist es mit dir ... im ganzen Ort redet man von uns ... dass du dich überhaupt nicht schämst ...«, und nochmals zischte es kräftig auf Franzens Backen.
»Schau, dass du hineinkommst und zieh dich um und dann holst du im Holzschopf ein Scheit, du weißt schon wofür. Und dann kommst du zu mir in die Küche.«
Franz war klar, dass alles nur noch ärger würde, wenn er sich jetzt bockig stellte. Mit brennenden Wangen holte er ein drei-eckig gespaltenes Holzscheit im Schopf und entgratete es vorsichtshalber noch ein wenig mit der Hacke. In der Küche nahm die Mutter das Scheit in die Hand, überprüfte es und befahl ihm, sich an der Wand auf das Scheit zu knien.
»Da bleibst du jetzt und rührst dich nicht, bis der Vater heimkommt!«
Der scharfe Grat des Holzscheites grub sich ihm in die Knie. Besonders das rechte schmerzte ungemein, weil er damit ja schon auf die Kirchenbank geprallt war. Durch ständiges Gewichtsverlagern versuchte er die Schmerzen in erträglichen Grenzen zu halten. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, fast schon inständig hoffte Franz, dass endlich der Vater heimkommen möge, um ihm endlich den Hintern zu versohlen.
Die Erlösung erschien mit einer Weidenrute in der Hand, die der Vater auf dem Heimweg abgeschnitten hatte und unter der Küchentüre ein paar Mal kurz aus dem Handgelenk durch die Luft pfeifen ließ.
»Von mir hat er schon Ohrfeigen bekommen«, sagte die Mutter besänftigend, da ihr Franz inzwischen schon ein wenig leid tat.
»Hosen runter«, befahl der Vater und legte den Buben übers Knie. Hinterher hatte Franz beim Sitzen nicht unerhebliche Schwierigkeiten, und auch das Mittagessen wollte ihm nicht so recht schmecken.
Leicht lädiert hinkte er zur nachmittäglichen Andacht, wo er mit zusammengebissenen Zähnen die harte Kirchenbank erdulden musste und betete, dass der Herrgott ein Einsehen haben und den Gottesdienst kurz machen möge.
Beim Verlassen der Kirche sagte der Lehrer kein Wort, als er sich vor der Kirchentür an ihm vorbeidrückte, aber sein Blick verhieß nichts Gutes. Am nächsten Morgen wollte der Lehrer Tortscher vor versammelter Klasse ein Exempel statuieren, wie es einem erging, der sich in der Kirche nicht benehmen konnte. Nach dem gemeinsamen Vaterunser griff er nach dem vierkantigen Zollstock, der wie immer auf der oberen Einfassung der Schultafel lag, und sagte in normalem Unterrichtston: »Franz, komm einmal nach vorne!«
Zögernd trat dieser zur Tafel.
»Du weißt schon, was dir jetzt blüht, und du weißt auch warum. Fünf Tatzen sind das Mindeste!«
Zur Klasse, die eigentlich aus vier Schulzügen bestand, fuhr er fort: »Nur damit ihr seht, dass man sich auch in der Kirche benehmen muss.«
Und zu Franz: »Du weißt, was passiert, wenn du die Hand zurückziehst. Für jedes Mal Zurückziehen gibt es einen Schlag mehr auf die Hand.«
Franz streckte die Hand mit der Innenseite nach oben aus, drehte sich leicht von der Klasse weg, damit man die Tränen nicht sehen konnte, die es ihm gleich aus den Augen drücken würde. Er schloss die Augen und wartete auf den ersten Schlag.
Der Schmerz des dritten Hiebes trieb ihm das Wasser durch die geschlossenen Lider. Aber eisern hielt er die Augen geschlossen.
Der Lehrer Tortscher war wegen seiner Tatzen gefürchtet, denn wenn er richtig in Rage war, drehte er den Vierkantstock so, dass eine Kante auf die Hand traf, was besonders schmerzhaft war. Franz glaubte, auf eine glühende Herdplatte gefasst zu haben, so sehr brannte die Handfläche.
Mit Grausen dachte er daran, dass heute auch noch Religionsunterricht war. Als nach der Pause der Pfarrer ins Klassenzimmer kam, klopfte sein Herz bis zum Hals.
Der hochwürdige Pfarrer Rauch konnte zwar sehr streng sein und auch ganz böse durch die Gläser seines Zwickers auf der Nase schauen. Aber das war mehr Selbstschutz, um sich die Tratschweiber und bigotten alten Schachteln vom Leib zu halten.
Nach dem Gebet trat er zu Franz an die Bank, zog ihn leicht am Haaransatz an den Schläfen nach oben und fragte, von wem er schon alles bestraft worden sei. Franz zählte die Stationen seines Leidensweges auf und konnte ein plötzliches Schluchzen nicht mehr unterdrücken, da er auch vom Pfarrer eine saftige Tracht Prügel erwartete.
Hochwürden Rauch legte die Hand um seine Schulter, zog ihn leicht an sich und sagte so leise, dass es nur Franz verstehen konnte: »Büble, so einen Blödsinn machst nimmer!«
Dann ging er vor zur Tafel und drehte sich zu den Schülern um:
»Wer nicht hören will, muss fühlen. Wer glaubt, dass er tun und lassen kann, was ihm gerade einfällt, dem wird das Leben das Gegenteil zeigen. Ein jeder muss sich irgendwo ein- oder unterordnen und auf andere Rücksicht nehmen. Heute lasse ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen! Ich hoffe, ihr habt das alle kapiert!«
Dabei funkelte er, so grimmig er nur konnte, durch seine Brillengläser in den mucksmäuschenstillen Schulraum.
Franz aber war, als sei Weihnachten und Ostern gleichzeitig. Die Hand, Wangen, Ohren, Knie und Hintern taten ihm plötzlich nicht mehr weh. Ausgerechnet der Pfarrer, von dem er die härteste Bestrafung erwartet hatte, zeigte Verständnis oder Mit-leid oder beides zusammen. Diese kleine tröstende Geste von Hochwürden Rauch würde Franz sein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen, da war er sich ganz sicher. Tief verstand er mit einem Mal, dass Verzeihen ein größerer Wert sein kann als Strafe um der sogenannten Gerechtigkeit willen.
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Autoren-Porträt von Elmar Bereuter
Elmar Bereuter, geboren 1948 in Lingenau als ältestes von vier Kindern einer Bauernfamilie im Bregenzerwald, verbrachte seine Kindheit zwischen Dorfleben, Alpwirtschaft und Internat. Nach einer Karriere als PR-Manager führt er seit 1991 eine Werbeagentur und lebt mit seiner Familie in der Nähe des Bodensees. Seinem Bestseller »Die Schwabenkinder«, der von Jo Baier verfilmt wurde, folgten die Romane »Hexenhammer«, »Die Lichtfänger« und »Felders Traum«. Weiteres zum Autor und seinen Büchern unter: www.der-hexenhammer.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Elmar Bereuter
- 480 Seiten, Maße: 13,2 x 19,1 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650948
- ISBN-13: 9783863650940
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